Feuilleton

Das Geheimnis des "Odol-Königs"

"Er sucht Erleuchtung in der Einsamkeit, zermartert sein Gehirn, getrieben von der großen weltumfassenden Liebe zu den Menschen und von dem Wunsche, ihnen zu helfen. Nach Jahren mühevollen Experimentierens erfand er dann Odol." So wurde der legendäre "Odol-König" Karl August Lingner noch 16 Jahre nach seinem Tode – und ganz nach seinem Geschmack – verherrlicht. Lingner war ein Werbegenie mit frisierter Lebensgeschichte. Über seine frühen Lebensjahre ist aber nur wenig bekannt.
Karl August Lingner (1861 – 1916).

In Paris fast verhungert

Erhalten blieb freilich ein Geburts- und Taufschein für Karl August Ferdinand Lingner, ausgefertigt von dem Magdeburger Pfarramt zu St. Jacobi. Er vermerkte als Tag der Geburt den 21. Dezember 1861, benannt werden als Vater der Kaufmann August Lingner (1828 – 1878) und als Mutter dessen Ehefrau (Caro-) Lina (1828 – 1910) geborene Herzog. Überliefert blieb auch der Inhalt eines Klassenbuches aus dem Jahre 1876. Damals besuchte Lingner die Städtische Höhere Gewerbeschule in Magdeburg, war in der Klassenrangliste von 24 Schülern der 22. Als solcher hat er "9 Stunden versäumt, sich 1 mal verspätet; er ist 0 mal gelobt, 3 mal getadelt, mit einer Stunde Arrest wegen Nachlässigkeit bestraft worden. Von seinen schriftlichen Arbeiten gehören 0 zu den besten, 1 zu den schlechtesten."

Bis zu seinem Abgang im Folgejahr dürfte er kaum besonders zugelegt haben, denn das entsprechende Zeugnis vermerkte für zwölf Fächer die Wertung "genügend". Trotzdem soll Lingner, wie angeblich von den Eltern gewünscht und vielleicht vermittelt, eine Kaufmannslehre in der altmärkischen Kleinstadt Gardelegen absolviert haben, um dann dort als "Handlungs gehilfe" tätig zu werden.

Irgendwann, vermutlich 1883, gelangte Lingner nach Paris. Der Legende nach studierte er dort Musik, was aber nicht belegt ist. Unklar bleibt zudem, wie und wo er in der französi schen Metropole seinen Lebensunterhalt bestritt. Zwei Jahre spä ter fanden ihn deutsche Freunde, "als er schon Tage mutterseelenallein in seiner armseligen Mansardenstube daniederlag, so krank, dass die Ärzte an seinem Aufkommen zweifelten." (J. F. Wolff in "Lingner und sein Vermächtnis", 1930). Aber Lingner kam wieder auf die Beine und zog nach Dresden. Dort arbeitete der inzwischen 23-Jährige bei der namhaften Firma Seidel & Naumann, die hauptsächlich Nähmaschinen und Fahrräder produzierte, welche sie auch nach Frankreich exportierte. Die dafür notwendigen Muster für Korresponden zen und Betriebsanleitungen erstellte Lingner. Später erarbeitete er dann auch die entsprechenden Werbematerialien, wobei er neue Wege eingeschlagen haben soll.

Erfinder ohne Patent

Ganz auf Reklame setzte dann eine von Lingner 1888 mit Georg Wilhelm Kraft (1855 – 1929) gegründete Firma. Beheimatet in einem Gartenhaus ließ sie allerlei obskure Produkte fertigen, um diese danach gewinnbringend zu vertreiben. Darunter befanden sich ein "Rückenkratzer" und ein Stiefelzieher namens "Famos". "Unentbehrlich für Jedermann" sollte ein vorgeblicher "Patent-Wasch- und Frottierapparat" sein. Da für dieses Gerät von "Lingner & Kraft" keiner der beiden Geschäftspartner jemals ein Schutzmuster beantragt hatte, wurden sie wegen Vortäuschung eines Patentbesitzes zu einer Geldstrafe verurteilt. 1892 trennten sich die beiden Unternehmer; die Firma, nun allein im Besitz von Lingner, blieb formal bestehen, um später als Reklamebüro und Annoncenexpedition wieder aufzuerstehen.

Im Oktober 1892 etablierte sich das "Dresdner Chemische Laboratorium Lingner" (ab 1909 Lingnerwerke AG). In diesem produzierten zunächst zwanzig Arbeiter ein Erzeugnis, für das Lingner selbst den Namen "Odol" (odon = Zahn, oleum = Öl) ausgedacht haben soll. Abgefüllt wurde diese "Zahn & Mundwasser-Essenz", so der Text auf den ersten blauen Aufklebern, "Mit neuem Antisepticum (Herstellungsverfahren patentiert)" in einer unverwechselbaren weißen Milchglasflasche mit einem gebogenen Seitenhals. Wer diese Flasche entworfen hatte, die von der Glashütte Michael Trassl im Fichtelgebirge gefertigt wurde, bleibt wohl für immer rätselhaft. Dagegen ist der Erfinder des in die Flaschen gefüllten Mundwassers bekannt: Es war der Chemiker Richard Seifert (1861 – 1919).


Richard Seifert (1861 – 1919).

Richard Seifert, der eigentliche Vater des Odols

Aus bescheidenen Verhältnissen stammend, hatte der am 19. Oktober 1861 im oberlausitzischen Schmorkau geborene Richard Seifert dank eines Förderstipendiums das Dresdner Polytechnikum absolvieren können, wo er ab 1880 wissenschaftlicher Assistent von Rudolf Schmitt (1830 – 1898) war. Dessen Lehrer, der Marburger (ab 1865 Leipziger) Chemieprofessor Hermann Kolbe (1818 – 1884) hatte diesen Naturstoff bereits 1859 künstlich hergestellt, aber Schmitt und Seifert verbesserten die Synthese erheblich. Anschließend ging Seifert zu Friedrich von Heyden (1838 – 1926), der bereits seit 1874 in Radebeul eine Salicylsäurefabrik betrieb. Seifert hatte in seiner Dissertation ein Derivat der Salicylsäure beschrieben, das stärker keimtötend wirken sollte als die Ausgangssubstanz und zugleich weniger unerwünschte Nebenwirkungen aufweisen sollte. Von Heyden ließ sie 1886 als "Salol" patentieren, und auf der Suche nach möglichen Anwendungen entwickelte Seifert die Rezeptur für ein Mundwasser.

Der mit Seifert befreundete Lingner erkannte das kommerzielle Potenzial der Rezeptur, da es den bereits vielfach auf dem Markt befindlichen Mundwässern überlegen schien. Es wirkte antiseptisch, reagierte aber neutral und sollte deshalb für "Mund und Zähne absolut unschädlich" sein. Diese Lesart übernahm sogar Meyers Konversations-Lexikon, welches 1897 seine Leser wissen ließ: "Mundwässer, Flüssigkeiten zum Spülen des Mundes behufs der Beseitigung von Speiseresten und zur Bekämpfung der im Munde reichlich vorhandenen Bakterien, durch deren Wucherung in kranken Zähnen sehr häufig auch der Atem übelriechend wird. ... Vorzuziehen sind aber mit Rücksicht auf die Zähne säurefreie Mundwässer, wie das Odol, welches eine nicht näher bekannte antiseptische Substanz und Pfefferminzöl enthält und mit Wasser eine milchige Flüssigkeit gibt, in der das Antiseptikum in feinsten Tröpfchen verteilt ist, die beim Spülen des Mundes vielfach zwischen den Zähnen, am Zahnfleisch, in hohlen Zähnen zurückbleiben und nachhaltig wirken."

Experten zweifeln an der Wirkung …

Mit einer vorher nicht gekannten, umfassenden Werbestrategie für "Odol" hatte Lingner in kürzester Zeit alle Konkurrenten ins Abseits gedrängt. Diese blieben freilich nicht untätig. Im Verein mit kritischen Wissenschaftlern polemisierten sie gegen Lingner und sein in der Eigenwerbung angeblich "absolut bestes Mundwasser der Welt". Bereits 1893 bestritten Schill und Schneider in einem Beitrag in der "Pharmaceutischen Centralhalle" die Desinfektionswirkung von Odol, das sie als eine Lösung von Salol und Saccharin in Weingeist mit einem Zusatz von Pfefferminz- und Kümmelöl analysiert hatten. Zu dem fast gleichen Ergebnis gelang ten später auch Gutachter des sächsischen Landesmedizinalkollegiums im Auftrag der "Centralstelle für öffentliche Gesundheitspflege", die darauf im "Korrespondenzblatt der ärztlichen Kreis- und Bezirksvereine" (1896) konstatierte: "Das Odol besitzt daher die ihm in den Anpreisungen zugeschriebene desinfizierende Eigenschaft nicht; wenn auch dem Salol und der Salizylsäure eine solche zukommt, so ist doch die Verdünnung, die der an sich geringe Gehalt des Odols an diesem Desinfektionsmittel beim Gebrauche erfährt, eine so hochgradige, dass von einer Abtötung der Bakterien nicht die Rede sein kann. Als ein Mittel, das zur Verhütung einer Krankheit (Zahnkaries) empfohlen wird und dessen Zusammensetzung und Zubereitung in keiner Weise bekannt gegeben [ist], gehört Odol unter die Geheimmittel." Darauf ließ Lingner eine vermutlich von Seifert ausgearbeitete "Widerlegung" drucken, in der es hieß: "Das Odol-Antisepticum ist weder Salol, noch salicylsaurer Mentholäther, noch ein Gemenge beider Stoffe, sondern besteht aus einem neuen chemischen Körper, welcher unter Aufsicht akademisch gebildeter Chemiker hergestellt wird. […] Es besitzt also die ihm in den Anpreisungen zugeschriebene antiseptische Eigenschaft." Lingner erreichte aufgrund seiner Beziehungen, dass das Innenministerium verfügte, die "Centralstelle" habe nur eine "vorläufige Mitteilung" herausgegeben und bei der Analyse sei versehentlich das Wort "anscheinend" weggefallen.

… und beschäftigen die Gerichte

Odol beschäftigte bis 1911 mehrmals die Justiz. Am spektakulärsten war das Verfahren von Lingner gegen Reinhold Gerling (1863 – 1930), der mit einem Beitrag über den "Odolzauber" bewirkt haben soll, dass der Umsatz und Gebrauch dieses Mundwasser rasant zurückgingen. Lingner reagierte mit dem Zirkularbrief 119 vom 24. Oktober 1906 an seine Handelsvertreter, in dem es hieß: "In den letzten Tagen ist an die Dentisten und Zahnärzte ein Separatabdruck eines Artikels aus einem Winkelblättchen ‚Neue Heilkunst‘ betitelt ‚Odolzauber‘ gelangt. Wir […] bitten Sie, Ihre Erwiderung von nachstehenden Gesichtspunkten ausgehen zu lassen: 1. Die ‚Neue Heilkunst‘, resp. deren Herausgeber, ein Reinhold Gerling, hat in dem Zeitungswesen absolut keine Bedeutung. Gerling ist als ein Fanatiker weiten Kreisen bekannt. […] 6. Das Gutachten der Königlichen Centralstelle für Gesundheitspflege, auf das sich der Aufsatz bezieht, ist längst als irrig widerrufen worden." Nach einem unglaublichen Intrigenspiel endete die Auseinander setzung mit einem bis heute geheimen Vergleichsvertrag. Danach widerrief Gerling in der Monatsschrift "Blätter für Volks aufklärung", in denen die "Neue Heilkunst" aufgegangen war, seine Behauptungen vom "Odolzauber". Auch andere gerichtliche Auseinandersetzungen um Odol endeten stets mit Vergleichen.

Lingner verwendete die Marke "Odol" für eine Palette von Körperpflegeprodukten wie Zahnpulver, Schnupfenwatte, Seifen und Haarwaschmittel, die er nicht nur in Dresden, sondern auch im europäischen Ausland produzierte. Mit seinen Geschäften stilisierte er sich zugleich als "Volkswohltäter". Ein Beispiel für die Mischung von Kommerz und sozialer Fürsorge war die von ihm vorbereitete und 1911 eröffnete "Internationale Hygiene-Ausstellung" in Dresden. Im selben Jahr wurden auf seine Veranlassung das "Sächsische Serumwerk" und das "Institut für Bakteriotherapie" gegründet. 1912 folgte die "Volksbildungsstätte für Gesundheitspflege" in Dresden, die sich zum heutigen Deutschen Hygiene-Museum entwickelte.

Tragisches Ende

Vergeblich strebte Lingner danach, geadelt zu werden; immerhin besaß er Liegenschaften, die selbst manchen Aristokraten neidisch werden ließen, so die Villa Stockhausen, das mittlere der drei Elbschlösser in Dresden (heute: Lingner-Schloss). Ein Zeitgenosse berichtete: "Im Laufe der Jahre tut Lingner alles, um bei Hofe aufzufallen. Der Jacht- und Regattafimmel, die Teilnahme an der Kieler Woche als Jahrmarkt der Eitelkeiten der Kaiserlichen High Society, der Einsatz für den Deutschen Segelschiffverein und das Ehren komitee des Deutschen Luftflottenvereins, die Einladung des kaiserlichen Prinzen ins Elbschloss, die häufige Anwesenheit und das Scharwenzeln in der Reichshauptstadt – es muss ihn Unsummen gekostet haben." Das alles hatte 1914 nach Ausbruch des 1. Weltkrieges ein Ende, stattdessen hatte Lingner nun ein neues Interessengebiet: die Wiederherstellung des Friedens. Im Oktober 1915 finanzierte er die Gründung eines "Politisch-wissenschaftlichen Archivs" in Berlin, das Friedensverhandlungen vorbereiten sollte.

Bevor dieses Institut seine eigentliche Arbeit aufnehmen konnte, starb Lingner am 5. Juni 1916 im Alter von 54 Jahren, angeblich an "Herztod". Vorausgegangen war die chirurgische Entfernung der Zunge und der Speicheldrüsen, denn Lingner, der gern Zigarren rauchte, litt schon länger an einer Leukoplakie, die zum Mundhöhlenkarzinom entartet war.

In seinem Testament bestimmte der unverheiratet gebliebene "Odol-König", dass der größte Teil seines Millionenvermögens an eine nach ihm benannte Stiftung ging, die hauptsächlich "die allgemeine Volksbelehrung auf dem Gebiet der Gesundheitspflege" fördern sollte. Nebenbei sorgte diese Stiftung bis zu ihrer Auflösung 1941 auch dafür, dass sich der Ruhm Lingners als eines "großen Philanthropen und Sozialethikers, […] Mäzens und Volkshygienikers" bis in unsere Tage erhalten hat.


Literatur

Obst, Helmut: Karl August Lingner, ein Volkswohltäter? Kulturhistorische Studie anhand der Lingner-Bombastus-Prozesse 1906 – 1911. Göttingen 2005.

Büchi, Walther A.: Karl August Lingner – das große Leben des Odolkönigs (1861 – 1916). Dresden 2006.

Caesar, Wolfgang: Karl Lingner – Hygiene als Geschäft und Weltanschauung. Dtsch Apoth Ztg 2006;146:3080 – 3082.


Andreas Hentschel M. A.



DAZ 2011, Nr. 51-52, S. 41

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