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Geschichte
Die Rats-Apotheke in Tallinn (Reval)
Die Rats-Apotheke (estnisch: Raeapteek) ist die älteste Einrichtung des Gesundheitswesens in Tallinn und zugleich eine der ältesten Apotheken in ganz Europa, die seit ihrer Gründung ununterbrochen am selben Standort betrieben wird. "Im Jahr des Herrn XIIIIC und XXII Jahr, am Montag vor Palmsonntag" – mit diesen (im Original niederdeutschen) Wörtern beginnt der Eintrag in einem alten Ratsbuch Revals, der die Rats-Apotheke zum ersten Mal erwähnt. Demnach gilt der 8. April 1422 als Gründungstag der Apotheke, doch existierte sie schon einige Jahre früher. Vermutlich gründete d Tartu er Revaler Stadtmedikus Johann Molner die Apotheke bereits um 1415. Er zog bald ins rund 190 km entfernte Tartu (Dorpat) und verkaufte die Apotheke an den Apotheker Hermann, der 1422 starb. Da Hermann bei seinem Tode so wenig hinterließ, dass es nicht einmal die Kosten des Begräbnisses deckte, haben einige Ratsmitglieder die Apotheke übernommen und an einen Apotheker Claus verpachtet. Dabei nahmen sie ihm den Eid ab, dass er der Stadt treu bleiben und seine Obliegenheiten rechtschaffen erledigen werde; im Gegenzug sollte der Apotheker als einziger das Recht haben, Spezereien zu verkaufen, um damit sein Auskommen zu sichern.
Mehr als Arzneimittel
Im Jahr 1550 wurde der aus Halle (Saale) stammende Wolf Holtzwirth (1522 – 1580), der 1546 eine Wallfahrt nach Jerusalem unternommen hatte, zum Provisor bestellt. Er verpflichtete sich, "der Apotheke dermaßen vorzustehen, dass der Rat daran kein Missgefallen tragen soll", und erhielt neben freier Kost und Logis 80 Taler jährlich sowie die Erlaubnis, auch Papier, Tinte, Suppositorien und andere "dergleichen Artikel" zu verkaufen.
Da Holtzwirth die Apotheke nicht als Eigentum erwerben konnte, kehrte er 1553 nach Halle zurück, wo er die Apotheke zum König Salomo (später: Löwen-Apotheke) gründete.
1560 bat der Apotheker Dyck den Rat der Stadt, ihm die Anstellung eines zweiten Jungen zu erlauben, da die Gäste der Apotheke, die hier täglich den Klarett (Claret, süßer Gewürzwein) trinken, "auch alle einen Anbissen haben wollen", sodass eine eigene Bedienung für diese Gäste nötig sei. Auch wenn hier der Eindruck eines gastronomischen Betriebes entsteht, dürfte – laut dem strengen Wortlaut des Apothekereids – die Arzneimittelversorgung doch im Vordergrund der Apotheke gestanden haben.
Wein und Morsellen als Pachtzins
1580 übernahm der Ungar János Bot de Bélaváry de Sycava (1546 – 1616), der sich Johannes Burchart nannte, die Verwaltung der Rats-Apotheke. Im Anstellungsvertrag sagte er zu, dass er den Ratsverwandten "gebührliche Ehre und billigen Gehorsam leiste, und was man von da wird anbefehlen, unverzüglich erfülle; bei allem getreulich und aufrichtig handele, fleißig und unverdrossen sei, jedermann, sei es am Tage oder in der Nacht, wenn es die Not erfordert, helfe und die verordneten Medikamente fleißig und rechtschaffen mache und zurichte". 1583 schloss der Rat mit Burchart einen Pachtvertrag; neben 100 Talern Pachtzins jährlich musste der Apotheker auch Naturalabgaben in Form von Klarett und Morsellen leisten.
Burchart setzte seine Fähigkeiten zum Besten seiner Mitbürger ein, gerade in den Jahren 1580, 1591 und 1603, als die Pest und andere Epidemien die Stadt heimsuchten, aber kein akademischer Arzt vorhanden war. Doch da der Rat die Privilegien des Apothekers hinsichtlich des Gewürz- und Konfekthandels nicht schützte, verlängerte Burchart den Pachtvertrag in den Jahren 1588 und 1604 nur widerwillig. Schließlich hielt er sich für einen ruinierten Mann. 1609 musste er Haus und Garten, mit Ausnahme des Kräutergartens, dem Ratsherrn Thomas Beeck überlassen, da er seine Schulden bei diesem nicht mehr bezahlen konnte. Auch die Apotheke war in einem schlechten Zustand, wie der in Reval praktizierende Arzt Caspar Walter beklagte, sodass der Rat die Apotheke Ende Mai 1610 schließen und inspizieren ließ. Das Ergebnis fiel zwar besser aus als erwartet, Burchart kam jedoch wegen seines schuldig gebliebenen Pachtzinses in Haft und wurde erst nach Zahlung einer Kaution entlassen.
Burcharts Nachfolger wechselten schnell, bis sich der Rat entschloss, dessen Sohn, Johann II. (1585 – 1636), zum Verwalter der Apotheke zu ernennen. Eine glückliche Wahl, wie sich herausstellte. Die Apotheke blieb weitere acht Generationen im Besitz der Familie Burchart, wobei es zur Tradition gehörte, dass der jeweilige Rats-Apotheker den Vornamen Johann trug.
Glanzzeit einer Apothekerdynastie
Johann IV. (1651 – 1691) kaufte 1689 die Apotheke als Eigentum. Eine Ratskommission hatte nämlich den "hochgefährlichen und baufälligen" Zustand des Apothekerhauses festgestellt, worauf der Rat beschloss, "den ganzen Plunder von Gebäuden" für 600 Reichstaler abzutreten. Zudem sagte Burchart für sich und seine Erben zu, dem Rat alljährlich eine Gebühr von 30 Reichstalern zu zahlen und ihm "Tinte, Wachs und Siegellack, so viel als davon nötig, ohne Entgelt" zu liefern. Diese Abgaben leisteten die Burcharts bis zum Jahr 1865, als die "Apotheken-Recognition" zum letzten Mal im Ausgabenbuch der Apotheke stand – die 30 Reichstaler entsprachen damals "8 Rubel und 86 Kopeken". Im Gegenzug schickte der Rat den Burcharts stets am Montag nach dem 2. Advent einen großen gelben Kringel (ein süßes mit Safran gewürztes Brot) und eine große Flasche Sherry.
Auf Bitten Johanns IV. privilegierte der schwedische König Karl XI. 1689 die Apotheke und verpflichtete den Inhaber zugleich, für die Garnison im Schloss eine weitere Offizin "aufzurichten und zu unterhalten". Dies war eine sichere Einnahmequelle, die den Wohlstand der Familie mehrte.
Johann V. (1683 – 1738) studierte Medizin und übernahm die Apotheke im Schicksalsjahr 1710, als die Pest wütete und Zar Peter die baltischen Provinzen eroberte. Statt der schwedischen Garnison versorgte die Apotheke nun die russische Armee mit Arzneimitteln – und verdiente sehr gut daran. 1716 wurde Johann V. Stadtarzt und zugleich Garnisonsarzt im Marinehospital. Er genoss große Wertschätzung, auch bei Zar Peter persönlich. Der Legende nach ließ dieser ihn 1725 an sein Krankenbett nach St. Petersburg rufen – doch zu spät, denn er starb, bevor Johann V. dort eintraf.
Apotheker als Museumsgründer
1741 errichtete Maria, die Witwe Johanns V., ein Fideikommiss. Demnach sollten alle damaligen Besitzungen der Familie einschließlich der Apotheke "zu ewigen Zeiten bei dem Burchart‘schen Stamm männlichen Geschlechts in absteigender Linie" verbleiben. Johann VI., VII. und VIII. waren ebenfalls Ärzte. Sie vergrößerten den Familienbesitz, traten aber fachlich nicht hervor. Johann VIII. (1776 – 1838) spielte hingegen eine wichtige Rolle im kulturellen Leben der Stadt. 1802 richtete er ein privates Museum ein, das er "Mon Faible" nannte. Es bildete den Grundstock des heutigen Estnischen Historischen Museums.
Die beiden letzten Burcharts waren gesundheitlich recht labil. Johann IX. verpachtete die Apotheke 1853 an Piers Rudolph Lehbert und siedelte mit seiner Familie 1857 nach München über. Mit Johann X. starb 1891 der letzte männliche Träger des Namens Burchart von Bélaváry de Sycava. Das Fideikommiss hatte somit seinen Sinn verloren und wurde 1903 nach über 150-jährigem Bestehen vom Revaler Bezirksgericht aufgehoben.
Der Pächter Carl Rudolph Lehbert (1858 – 1928) brachte die Apotheke wieder in Schwung und begann 1908, das Eisenpräparat "Ferratol" herzustellen. 1911 kaufte er den letzten Burcharts, den Schwestern Johanns X., die Apotheke ab.
Verstaatlichung und Reprivatisierung
Nachdem Estland 1920 selbstständig geworden war, machten neue, moderner eingerichtete Apotheken der Rats-Apotheke viel Konkurrenz. Unter der sowjetischen Herrschaft ab 1940 – unterbrochen durch die deutsche Besetzung 1941 – 44 – war die Apotheke ein Staatsbetrieb. Luftangriffe während des Krieges zerstörten das Gebäude teilweise, doch wurde es bereits kurz nach Kriegsende restauriert. Nach der wiederhergestellten Unabhängigkeit Estlands (1991) wurde die Apotheke privatisiert und behutsam modernisiert.
Ausstellung zur 600-jährigen Geschichte
Im Laufe der Zeit wurde die Rats-Apotheke mehrmals umgebaut. Die Fassade, wie sie sich heute präsentiert, stammt aus dem späten 17. Jahrhundert, als Johann IV. das verfallene Gebäude instand gesetzt hatte. Der bescheiden wirkende Haupteingang mit der zweiflügeligen, geschnitzten Holztür datiert vom Jahr 1902. Die Offizin besitzt einen fast musealen Charakter, auch wegen zahlreicher pharmaziehistorischer Exponate in den Vitrinen. In einem Hinterzimmer befindet sich ein kleines Museum zur fast 600-jährigen Geschichte der Apotheke. Dort schmückt ein steinernes Familienwappen der Burcharts aus dem Jahr 1635 die Wand, und es werden Arzneigläser, Mörser, Waagen und viele andere interessante Apothekenutensilien ausgestellt. So auch zwei mit dem Revaler Stadtwappen verzierte Steinformen, die zu Weihnachten 1600 für die Marzipanherstellung der Apotheke angefertigt wurden. Auch kuriose Arzneidrogen von früher sind zu sehen: Hechtaugen, Mumienteile, pulverisiertes Einhorn, getrocknete Froschschenkel oder Fledermauspulver.
Außer Arzneien verkauften die Rats-Apotheker noch weitere damals apothekenübliche Waren: Papier, Tinte, Siegellack, Farben, Pfeifen, Spielkarten, Fackeln, Kerzen, Stoffe, Schießpulver und Schrotkugeln. Aus diesem traditionellen Nebensortiment sind heute nur noch der Gewürzwein Klarett und das Marzipan übrig geblieben.
Quelle
Autor
Dr. Andreas Ziegler, Flurstr. 2, 90613 Großhabersdorf
andreas.ziegler@zience.de
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