Feuilleton

Kartoffelgeschichte(n)

Über die Botanik und Kulturgeschichte der Kartoffel sowie ihre weltweite Bedeutung als gesundes Grundnahrungsmittel informiert eine Wanderausstellung, die die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit in Kooperation mit dem Internationalen Kartoffelforschungszentrum in Peru zum Internationalen Jahr der Kartoffel 2008 konzipiert hatte. Bis zum 28. August ist sie im Naturkundemuseum Leipzig zu sehen.
Fotos: Kartoffelmuseum, München
Der alte Fritz – König Friedrich II. von Preußen – inspiziert die Kartoffelernte. Gemälde von Robert Müller gen. Warthmüller, 1886.

Der Fall "Linda"

Vor sieben Jahren mussten sich Gerichte und Behörden mit einem erbitterten Streit um den Fortbestand von "Linda", einer beliebten Kartoffelsorte, auseinandersetzen. Sie war 1974 durch das deutsche Bundessortenamt unter Sortenschutz gestellt worden und hatte schnell die Küchen der Republik erobert. Nach 30 Jahren wollte der Züchter kein Pflanzgut mehr produzieren mit der Begründung, dass "Linda" sehr anfällig für Pilze, Viren und tierische Schädlinge sei und problemlos durch resistentere Neuzüchtungen ersetzt werden könne.

Er hatte seine Rechnung allerdings ohne die Verbraucher gemacht. Da der Sortenschutz mittlerweile außer Kraft war, vermehrten drei Landwirte die "Königin der Kartoffeln". Die Ernte ließ indessen der Züchter beschlagnahmen, womit er einen langen Rechtsstreit vom Zaun brach. Die Landwirte gründeten einen Freundeskreis, der – mangels Erfolgsaussicht in der Heimat – auf EU-Ebene vehement um die Neuzulassung der begehrten Knolle kämpfte. Nach einem langwierigen Verfahren ließ das britische Sortenschutzamt 2009 die Produktion von Saatgut und den Anbau in der gesamten EU zu.

Es muss Spekulation bleiben, ob die populäre Kartoffelsorte unter den Beamten des Vereinigten Königreichs mehr Sympathisanten hatte als in Deutschland, das längst nicht mehr zu den führenden Kartoffelnationen gehört. Mit einem jährlichen Pro-Kopf-Verzehr von 70 kg liegt die Bundesrepublik mittlerweile sogar knapp unter dem europäischen Durchschnitt. Letten und Polen essen fast doppelt so viele, die Briten anderthalbmal so viele "Erdäpfel" wie die Deutschen.


October Potato Gathering Zinkografie, 1889.

An vierter Stelle

Auf der weltweiten Liste der Grundnahrungsmittel stehen Kartoffeln nach Reis, Weizen und Mais an vierter Stelle. In vielen Entwicklungsländern spielen sie eine zunehmend wichtige Rolle. Dort hat sich der Verbrauch von den 60er Jahren bis heute mehr als verdoppelt, und die Tendenz ist weiterhin steigend. Indessen kommen die Knollen in wirtschaftlich gut situierten Ländern – insbesondere in Westeuropa – häufig nur noch als Salat- oder Gemüsebeilage statt als sättigendes Grundnahrungsmittel auf den Tisch.

Die weit verbreitete Annahme, Kartoffeln seien "Dickmacher", gehört in das Reich der Fabel – für die Kalorienzahl ist entscheidend, wie die Kartoffeln zubereitet worden sind (insbesondere mit wie viel Fett). Die Knollen bestehen zu 80% aus Wasser und zu 15% aus Stärke. Die restlichen Bestandteile sind Eiweiß, Ballaststoffe, Zucker, Fett, Vitamine und Minerale, die teilweise ernährungsphysiologisch wertvoll sind. So decken 200 g Pellkartoffeln fast die Hälfte des täglichen Vitamin-C-Bedarfs eines Erwachsenen.

Über die Kanaren und Antwerpen nach Frankfurt

Heimisch ist die Kartoffel (Solanum tuberosum) in Südamerika. Schon vor 8000 Jahren (oder früher) wurde sie im Andenhochland von Peru auf 3000 m Höhe angebaut. Von "Linda" und anderen modernen Speisekartoffeln – heute gibt es weltweit rund 5000 Sorten mit klangvollen Namen von "Acapella" bis "Zorba" – war die "Urkartoffel" indessen weit entfernt. Aufgrund ihres Gehalts an Glykosidalkaloiden (Solanin u. a.), der sie in kalten Nächten vor dem Erfrieren schützt, war sie giftig und bitter.

Die Andenbewohner lernten indessen, durch Gefriertrocknen ein wertvolles und lange haltbares Lebensmittel, den sogenannten Chuño, herzustellen. Hundert Gramm dieser "Kartoffelchips" enthalten doppelt so viel Eiweiß und viermal so viel Stärke wie die vergleichbare Menge Frischkartoffeln. Soldaten und Boten hatten stets Chuño als Proviant im Gepäck. Heute noch stellen Andenbewohner "Chuño" her, der auch bei Touristen als "Snack" begehrt ist.

Dampfende Kartoffel Fotografie, 1988.

Nachdem Francisco Pizarro 1532 das Inka-Reich erobert hatte, gelangte die Kartoffel auf die Kanarischen Inseln, wo damals viele neuweltliche Pflanzen "akklimatisiert" wurden. Eine Frachtliste belegt, dass bereits 1567 von dort Knollen nach Antwerpen verschifft worden sind. Einem anderen zeitgenössischen Dokument zufolge lichtete im April 1574 vor Teneriffa ein Schiff den Anker, das unter anderem zwei Fässer mit Kartoffeln für einen Empfänger in Rouen an Bord hatte. In Sevilla blühte zu dieser Zeit bereits der Handel mit den nahrhaften Knollen, weil spanische Soldaten nach dem Vorbild der Inka mit Chuño verpflegt wurden.

Die erste Abhandlung über das exotische Nachtschattengewächs publizierte der Franzose Olivier de Serres (1539 – 1619) 1600 in seinem "Théâtre d‘Agriculture". Ein Jahr darauf erschien die "Rariorum plantarum historia" des Belgiers Charles de l‘Écluse (lat. Clusius, 1526 – 1609) mit einer Beschreibung der "papas peruanorum". Für Landsleute, die des Lateinischen nicht mächtig waren, hatte Clusius bereits 1589 die italienische Bezeichnung "taratuffuli" ("kleine Trüffeln", "Erdmorcheln") als "taratouphli" ins Französische übertragen. Clusius hatte von 1588 bis 1593, bevor die Universität Leiden ihn zum Professor für Botanik berief, in Frankfurt am Main gelebt und dort vermutlich die ersten Kartoffeln in Deutschland gepflanzt. Aus seinem Besitz stammt die älteste erhaltene Abbildung der Kartoffelpflanze, ein Aquarell von Philippe de Sivry (1588), das heute im Museum Plantin-Moretus in Antwerpen zu bewundern ist.

Die Kartoffel als Maß


Im Reich der Inka maß man sogar Flächen und Zeiten nach der Kartoffel: Das Areal, auf dem eine Familie eine für ihre Ernährung ausreichende Menge Kartoffeln anbauen konnte, nannte man "papacancha" oder "topo". Die Flächengröße hing von der Fruchtbarkeit des Bodens ab, war also variabel. – Die für einen Topf Kartoffeln benötigte Garzeit war ein Zeitmaß; hier bestimmte die Höhe über dem Meeresspiegel, mit der sich der Siedepunkt des Wassers verändert, die Variabilität.

Wichtiger Schiffsproviant

1621 veröffentlichte Caspar Plautz, Abt des Benediktinerklosters Seitenstetten in Niederösterreich, ein Kochbuch mit Kartoffelrezepten. Ein Jahr zuvor nannte der Basler Medizinprofessor Caspar Bauhin (1560 – 1624), der mit seinem Werk "Pinax theatri botanici" (1623) das wichtigste Pflanzenverzeichnis vor Carl von Linné (1707 – 1778) schuf, die Kartoffelpflanze "Solanum tuberosum esculentum", das heißt "essbarer knolliger Nachtschatten". Als Linné diesen Namen – allerdings unter Verzicht auf das Adjektiv "esculentum" – übernahm, hatte die Kartoffel bereits von Europa aus begonnen, den Rest der Welt zu erobern.

Aufgrund der Beobachtung, dass der Verzehr von Kartoffeln das Risiko für Skorbut mindern kann (Vitamin-C-Gehalt), waren diese ein wichtiger Bestandteil der Bordverpflegung. Aber erst mit der Entdeckung der Vitamine Anfang des 20. Jahrhunderts wurde wissenschaftlich bewiesen, dass Vitaminmangel bestimmte Krankheiten verursachen kann.

Fast überall, wo Europäer in Übersee an Land gingen, pflanzten sie Kartoffeln. Bereits 1603 gediehen sie auf den Penghu-Inseln in der Straße von Taiwan, ab 1650 dann auch auf Taiwan selbst. Nach China, wo sie fast ebenso lange kultiviert werden, gelangten die Knollen auf dem Landweg über Sibirien. Um 1700 begannen buddhistische Mönche in Nepal und Bhutan, Kartoffeln anzubauen, und auch in Indien stehen sie seit dem frühen 18. Jahrhundert auf dem Speisezettel.

Symbolische Übergabe der Kartoffel Ölgemälde von Wilhelm Guntermann, um 1950.

Anbau erst steuerfrei …

Die Wiege des deutschen Kartoffelanbaus steht im oberfränkischen Pilgramsreuth (heute Ortsteil von Rehau). Dort pflanzte kurz vor Ende des Dreißigjährigen Kriegs (1618 – 1648) der Bauer Hans Rogler erstmals aus Böhmen eingeführte Knollen an, ohne dafür den Zehnten zahlen zu müssen. Mit der ihm eigenen Bauernschläue hatte er entdeckt, dass die Kartoffel nicht in dem für die Versteuerung der Agrarprodukte maßgeblichen Zehntregister stand, weil dieses noch aus dem Mittelalter stammte. Die Pilgramsreuther Chronik berichtet, dass um 1700 auf 700 Beeten und in 20 Bauerngärten am Fiskus vorbei Kartoffelpflanzen gediehen. Ein halbes Jahrhundert später führte Markgraf Friedrich zu Bayreuth auch für den Kartoffelanbau die Steuerpflicht ein.

Vielerorts in Europa kultivierte man Solanum tuberosum aber nur wegen seiner schönen Blüten. Blühende Kartoffelpflanzen wurden zuweilen zu exotischen Brautsträußen gebunden, und sogar die französische Königin Marie Antoinette (1755 – 1793) trug Kartoffelblüten im Haar.

… dann auf Befehl

1744 hatte König Friedrich II. (1712 – 1786) in ganz Preußen Pflanzkartoffeln verteilen lassen. Doch wie der Volksmund weiß, isst der Bauer nicht, was er nicht kennt. Gemäß einer anderen Volksweisheit, dass Kostenloses nichts wert ist, besann Friedrich sich auf eine List: Er ließ um Berlin Kartoffeläcker anlegen und zum Schein bewachen. Seine Hoffnung, dass nun Scharen von Bauern nachts Knollen für den Anbau auf der eigenen Scholle stehlen würden, erfüllte sich aber nicht. Erst mit dem "Kartoffelbefehl" von 1756 setzte Friedrich durch, dass in seinem Königreich flächendeckend Knollen angebaut wurden. Gerade noch rechtzeitig, denn wenige Monate später begann der Siebenjährige Krieg, in dem die Kartoffeln die Bevölkerung vor einer Hungersnot bewahrt haben.

Die Ausstellung zeigt auch eine Auswahl von Kartoffelsorten und Produkten, die aus Kartoffeln hergestellt werden. Dazu zählen auch ein Frischpflanzenpresssaft und eine Handcreme mit Kartoffelextrakt zur "Intensivpflege für strapazierte Hände".


Reinhard Wylegalla

Ausstellung


"Kartoffelwelt – Karriere einer Knolle", bis zum 28. August im Naturkundemuseum Leipzig, Lortzingstraße 3, 04105 Leipzig Tel. (03 41) 98 22 10 www.leipzig.de/naturkundemuseum

Geöffnet: Dienstag bis Donnerstag 9 bis 18 Uhr, Freitag 9 bis 13 Uhr, Samstag und Sonntag 10 bis 16.30 Uhr

Das Kartoffelmuseum Grafinger Str. 2, 81671 München

Geöffnet: Freitag 9 bis 18 Uhr, Samstag 11 bis 17 Uhr

Tel. (0 89) 40 40 50

www.kartoffelmuseum.de



DAZ 2011, Nr. 32, S. 63

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