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Gesundheitsökonomie
Nicht-Adhärenz von Patienten und Adhärenz-Programme
Umfangreiche empirische Studien der letzten Jahre zeigen, dass viele Patienten bei der vom Arzt verordneten Arzneimitteltherapie nicht mitwirken [1 – 6]. Diese Non-Compliance oder Nicht-Adhärenz (Non-Adherence, NA) wird teilweise selbst als "weitverbreitete Krankheit" bezeichnet [7]. In internationalen Studien erreicht die NA von chronischen Patienten mit Dauermedikation Quoten von 30 bis 50%; demnach befolgt ein Drittel bis die Hälfte der Patienten die Therapieempfehlungen der Ärzte nicht oder nicht hinreichend [3 – 6, 8 – 9]. Die NA verschlechtert oder verhindert nicht nur den Therapieerfolg, was tödlich enden kann [10]. Sie verursacht auch hohe Kosten [11 – 13], die für Deutschland auf mindestens 10 Mrd. Euro [12] und für die USA auf bis zu 177 Mrd. Dollar [14] jährlich geschätzt werden. Ein Cochrane-Review im Jahr 2008 kam zu der Schlussfolgerung, dass effektive Adhärenz-Programme den Gesundheitszustand der Bevölkerung stärker verbessern könnten als jede Optimierung einer spezifischen Medikationstherapie [10].
Mit Adhärenz-Programmen Kosten sparen
Die Arzneimittelversorgung hat sich in den vergangenen Jahren – primär aufgrund verschiedener Versuche der Kostendämpfung – auch mit Blick auf die Adhärenz verändert:
Nahezu sämtliche sogenannte Disease-Management-Programme deutscher Krankenkassen beabsichtigten auch, das Patientenverhalten und somit auch die Adhärenz der Patienten positiv zu verändern. Allerdings ist bislang nicht klar, ob dies auch gelang.
Rabattverträge prägen den Medikationsalltag der GKV-versicherten Patienten, der Ärzte und Apotheker sowie der pharmazeutischen Unternehmen. Ihre Wirkung auf die Adhärenz ist bislang kaum untersucht [15].
Pharmazeutische Hersteller "entdecken" zunehmend das Thema der Adhärenz. Spezielle Vertragskonstruktionen ("Risk Sharing") steigern ihr Interesse an der Wirkung der eigenen Arzneimittel in der Praxis (und nicht nur in klinischen Studien). Insbesondere bei hochpreisigen Therapien sind erste Adhärenz-Programme etabliert worden, die primär von pharmazeutischen Herstellern finanziert werden.
Umfrage bei Hausärzten und Apothekern
Weitgehend unbekannt ist, wie Hausärzte und Apotheker, die chronisch kranke Patienten mit Dauermedikationsbedarf betreuen, die NA von Patienten und deren Vermeidung bewerten. Um diese Lücke zu schließen, hat das Institut für Pharmakoökonomie und Arzneimittellogistik (IPAM) an der Hochschule Wismar im Frühjahr 2010 eine Befragung bei Ärzten und Apothekern durchgeführt; die Studie war von der Hochschule finanziert, es gab keinen Sponsor. Die Fragen lauteten:
Wie wird das Ausmaß an NA von Patienten in der täglichen Versorgungspraxis allgemein und indikationsbezogen (wichtige chronische Indikationen) bewertet?
Welche Gründe erklären nach Meinung der Befragten die NA der Patienten?
Haben sich Veränderungen bzw. Trends in der Patientenadherence in den vergangenen 2 Jahren gezeigt? Haben Rabattverträge hierbei eine Rolle gespielt?
Welche Maßnahmen können die Adherence der Patienten erhöhen? Wann und unter welchen Bedingungen wären Apotheken/Hausarztpraxen bereit, an derartigen Maßnahmen bzw. entwickelten Programmen mitzuwirken?
Mehr als 500 Arztpraxen und Apotheken wurden schriftlich eingeladen, an der Umfrage teilzunehmen. 19 Apotheker und 40 Hausärzte haben den Fragebogen ausgefüllt und zurückgesendet. Alle stimmen darin überein, dass die NA von Patienten eine aktuelle Versorgungsherausforderung darstellt. Aber Apotheken und Ärzte waren unterschiedlicher Ansicht über die Definition einer NA. Gefragt war, an wie viel Prozent der Einnahmetage die Patienten keine Medikamente einnehmen müssen, damit sie als NA-Patienten bezeichnet werden können. Die Apotheken meinten im Durchschnitt: an mindestens 28% der Tage; die Ärzte: an mindestens 49% der Tage.
Folglich unterscheiden sich auch die Meinungen über die Verbreitung der NA: Den Apothekern zufolge sind 37,2% der Patienten betroffen, den Ärzten zufolge nur 28,5%; dabei liegt die erste Prozentzahl näher an den in internationalen Studien abgeleiteten NA-Quoten [1, 2].
Bei unterschiedlichen Erkrankungen unterscheiden sich auch die NA-Quoten; Apotheker und Hausärzte stimmen hier mit ihren Einschätzungen weitgehend überein (Abb. 1). Als besonders NA-kritisch bewerten sie Patienten mit Diabetes (hier insbesondere die Ratschläge zur Bewegung und Ernährung), mit psychischen Erkrankungen und mit Hypertonie.
Die befragten Ärzte und Apotheker sehen die sogenannte "unbewusste NA", die nicht auf bewussten Entscheidungen, sondern auf Vergesslichkeit und Sorglosigkeit der Patienten beruht, als die bei Weitem häufigste NA-Kategorie an. Damit unterschätzen sie deutlich die sogenannte "bewusste NA", die besagt, dass die Patienten die verordnete oder empfohlene Therapie (einschließlich der Medikation) bewusst nicht befolgen. Die "bewusste NA" ist der internationalen Literatur zufolge die häufigere NA-Form [2].
Nur geringfügig weichen die Apotheker und Hausärzte bei der Erstellung einer Rangliste von insgesamt 19 Faktoren, die eine NA erklären können, voneinander ab (Abb. 2). Die Befragten bestätigen großenteils die Ergebnisse internationaler Adhärenz-Studien [2, 14, 16, 19]; sie überschätzen aber das (hohe) Alter und die (mangelhafte) Bildung der Patienten und unterschätzen einige wichtige "bewusste NA-Ursachen" wie das Wissen um die Erkrankung und den Gemütszustand der Patienten.
Sehr kritisch bewerten nahezu sämtliche Befragten die Rabattverträge der GKV (Abb. 3). Ein Großteil der Befragten sieht einen stark oder sehr stark negativen Einfluss dieser Rabattverträge auf das Arzt- oder Apotheken-Patienten-Verhältnis sowie auf das Therapievertrauen und die Adhärenz der Patienten. Das deckt sich mit der allgemeinen Einschätzung der Adhärenz-Entwicklung in den beiden vorherigen Jahren: 45% der befragten Hausärzte sehen eine Verschlechterung der durchschnittlichen Adhärenz der Patienten; 53% der Apotheken beurteilen dies auch so. Lediglich 8% bzw. 16% der Befragten sehen eine Verbesserung der Adhärenz in den beiden vorherigen Jahren.
Hoffnungen, dass der zunehmende Umgang der Patienten mit interaktiven Medien außer zu einem besseren Wissensstand auch zu einer höheren Adhärenz führt, haben sich also nach Meinung der Befragten nicht erfüllt.
Maßnahmen zur Förderung der Adhärenz
Bei der Beurteilung möglicher Maßnahmen zur Adhärenz-Förderung zeigen sich ebenfalls ähnliche Einschätzungen von Apotheken und Hausärzten. Den größten Erfolg erwarten sie von ausführlichen Patientengesprächen oder anderen Maßnahmen zur Information und Aufklärung der Patienten; wenig Potenzial messen die Befragten der Verstärkung von Kontrollen und Wertmessungen sowie der Selbstkontrolle von Gesundheitsparametern durch den Patienten zu.
Als zentralen Akteur zur Adhärenz-Förderung sehen die Apotheker sich selbst (84% der Befragten), während nur 48% der befragten Hausärzte sich selbst in dieser Rolle sehen. Überraschend fielen die Antworten in Bezug auf weitere wichtige Akteure in diesem Versorgungsfeld aus: Die Apotheker nannten zu 42% Ärzte und zu 5% die Krankenkassen; dagegen nannten die Ärzte nach den Krankenkassen (29%) und den Arzthelferinnen (29%) die Apotheken lediglich an dritter Stelle (19%).
Was die Vergütung für die Teilnahme an Adhärenz-Programmen betrifft, ergab die Umfrage: Im Durchschnitt halten die Apotheker 100 Euro (Median) bzw. 310 Euro (arithmetischer Mittelwert) pro Patient und Jahr für angemessen (min. 40 Euro, max. 1800 Euro). Bei den Hausärzten sind dies 100 Euro (Median) bzw. 1323 Euro (arithmetischer Mittelwert; min. 40 Euro, max. 12.000 Euro); hier gehen also die Vorstellungen erheblich auseinander.
Das Problem der NA ist erkannt
Die Ergebnisse dieser – allerdings nicht repräsentativen – Befragung zeigen, dass sowohl Ärzte als auch Apotheker ein hohes Problembewusstsein hinsichtlich des Ausmaßes und der Ursachen von Nicht-Adhärenz zeigen. Auch ihre Einschätzungen hinsichtlich Ausmaß und Ursachen von NA, die letztlich die täglich erlebte Versorgungspraxis wiederspiegeln, decken sich großenteils mit den Ergebnissen der internationalen NA-Forschung.
Ebenso gleicht sich das kritische Urteil hinsichtlich der von den gesetzlichen Krankenkassen, zunehmend aber auch von privaten Krankenversicherungen ausgehandelten Rabattverträge. Selbst wenn der höhere Arbeitsaufwand von Apothekern und Ärzten einen Teil der Kritik erklärt, sollte sie als Mahnung an alle Verantwortlichen verstanden werden, bei vertraglichen Vereinbarungen zur Versorgungsgestaltung neben direkten Einsparungen auch indirekte Kosten und vor allem indirekte Effekte auf das Patientenvertrauen und die Adhärenz zu berücksichtigen.
Allerdings besteht hier noch Forschungsbedarf; denn die auf kurzfristigen Zeiträumen basierenden Verschreibungsdatenanalysen zeigen nicht konsistent eine Verschlechterung der Adhärenz von Patienten seit der Einführung der Rabattverträge auf [15].
Herausforderungen für die Apotheken
Vor Ort tätige Offizinapotheken werden zukünftig in einer Versorgungswelt, die zunehmend von Versandapotheken geprägt wird, einen aktiven Beitrag zum Nachweis der eigenen Wertschöpfung erbringen müssen. Die ordnungsgemäße Abgabe von Arzneimitteln wird hier nicht genügen. Der regelmäßige persönliche Patientenkontakt ermöglicht ausschließlich den Offizinapotheken, weitere Wertschöpfungselemente in ihr Angebot aufzunehmen, die auf diesem persönlichen Kontakt aufbauen. So wären Apotheken – nahezu besser als jeder andere Akteur im Gesundheitswesen – in der Lage, Adhärenz-Programme effektiv umzusetzen. Die Befragung zeigt allerdings, dass hierfür noch einige Hemmnisse bestehen:
Selbst wenn nahezu sämtliche Apotheken sich selbst als wichtigen Akteur bei der Umsetzung von Adhärenz-Programmen sehen, glauben nur ca. 19% der Hausärzte an eine derartige Rolle. Diese Sichtweise bedarf der Korrektur; die Apotheker müssen sich gegenüber Ärzten besser positionieren.
Wichtig für die Umsetzung von "großen" Adhärenz-Programmen sind eine gute Marktabdeckung, die Einhaltung einer einheitlichen Programmmethodik und die Sicherstellung einer definierten Umsetzungsqualität. Insbesondere im deutschen Markt haben es Apothekenkooperationen bislang nicht erreicht, sich in diesem Geschäftsfeld als interessanter und kompetenter Partner zu positionieren. Konzepte wie "medication reviews" in Großbritannien zeigen, dass hier im Ausland bereits einiges erreicht wurde [1, 18].
Die befragten Apotheker fordern durchschnittlich (arithmetisches Mittel) 310 Euro pro Patientenjahr für die eigene Tätigkeit in einem Adhärenz-Programm. Dies ist lediglich ein Viertel des von Hausärzten verlangten Betrages, weil einige wenige Ärzte eine sehr hohe Honorierung forderten – der Median war in beiden Berufsgruppen gleich. 310 Euro pro Patient sind ein Betrag, der bei gängigen generischen Medikationen die Jahrestherapiekosten erreicht und die derzeitige Rezeptvergütung für die Apotheke bei Weitem übersteigt. Wenn derartige Vergütungen gezahlt werden sollen, müssen die Apotheker in der Lage sein, einen entsprechenden Mehrwert – auch in Konkurrenz zu Call-Center-basierten Adhärenz-Programmen – zu generieren.
Apotheken sollten sich im eigenen Interesse als Akteure im Adhärenz-Markt unverzichtbar machen.
Literatur
[1] World Health Organization. Adherence to long-term therapies. WHO Library Cataloguing-in-Publication Data. 2003.
[2] Horne R, et al. Concordance, adherence and compliance in medicine taking. Report for the National Co-ordinating Centre for NHS Service Delivery and Organisation R & D. 2005.
[3] Cramer JA, et al. Medication compliance and persistence: terminology and definitions. Value Health 2008;11(1): 44 – 47.
[4] Osterberg L, Blaschke T. Adherence to medication. N Engl J Med 2005;353:487 – 497.
[5] National Council on Patient Information and Education. Enhancing Prescription Medicine Adherence: A National Action Plan. The NCPIE Coalition. 2007.
[6] Krueger KP, et al. Medication adherence and persistence: a comprehensive review. Adv Ther 2005;22(4):313 – 356.
[7] Wilke T, et al. Nonadherence in outpatient thrombosis prophylaxis with low molecular weight heparins after major orthopedic surgery. Clinical Orthopedics and Related Research. 2010;468(9):2437 – 2453.
[8] Haynes RB, et al. Interventions for enhancing medication adherence. The Cochrane Database of Systematic Reviews. 2008.
[9] Cleemput I, et al. A review of the literature on the economics of noncompliance. Health Policy 2001;59(1):65 – 94.
[10] Salas M, et al. Cost of Medication Nonadherence in Patients with Diabetes Mellitus. Value Health 2009;12(6): 915 – 922.
[11] White TJ, et al. The cost of nonadherence to oral antihyperglycemic medication in individuals with diabetes mellitus and concomitant diabetes mellitus and cardiovascular disease in a managed care environment. Dis Manage Health Outcomes 2004;12(3):181 – 188.
[12] Gorenoi V, et al. HTA-Bericht: Maßnahmen zur Verbesserung der Adherence in der Arzneimitteltherapie. Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2007.
[13] Berg JS, et al. Medication compliance: a healthcare problem. Ann Pharmacother 1993;27(9 Suppl):1 – 24.
[14] Mitchell AJ, Selmes T. Why don’t patients take their medicine? Reasons and solutions in psychiatry. Advances in Psychiatric Treatment 2007;13:336 – 346.
[15] Groth A, Müller S, Wilke T. The impact of medication switches induced by medication discount contracts on chronic patients’ adherence. Value Health 2010;13(7):A360.
[16] Claxton AJ, et al. A systematic review of the associations between dose regimens and medication compliance. Clin Ther 2001;23(8):1296 – 1310.
[17] Laaksonen R, et al. Performance of community pharmacists in providing clinical medication reviews. Ann Pharmacother 2010;44(7-8):1181 – 1190.
[18] Ulfvarson J, et al. Medication reviews with computerised expert support: evaluation of a method to improve the quality of drug utilisation in the elderly. Int J Health Care Qual Assur 2010;23(6):571 – 582.
[19] Wilke T, Müller S, Morisky DE. Towards identifying the causes and combinations of causes increasing the risks of non-adherence to medical regimens; the combined results of two German self-report surveys. Value Health 2011;14 (im Druck).
Korrespondenzautor
Prof. Dr. Thomas Wilke
Institut für Pharmakoökonomie und Arzneimittellogistik (IPAM), Hochschule Wismar
Postfach 12 10, 23952 Wismar
E-Mail:
thomas.wilke@hs-wismar.de
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