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Steinkohlenteer – ein Rohstoff für viele alltägliche Produkte

Steinkohlenteer ist seit über 150 Jahren einer der wichtigsten chemischen Rohstoffe. Zuerst wurde Carbolöl zur Imprägnierung von Holzschwellen eingesetzt. Mit der Synthese von Teerfarbstoffen erlebte die Chemieindustrie einen rasanten Aufschwung. Auch viele Arzneistoffe wurden aus Teerprodukten synthetisiert; so wurde Deutschland zur "Apotheke der Welt".
Abb. 3: Graphit-Anoden im Betrieb. Der in ­ihnen enthaltene Elektrodenbinder verbrennt beim Produktionsprozess.

Heute ist Steinkohlenteer immer noch von enormer Bedeutung.

Er fällt bei der Gewinnung von Koks (aus engl. cokes, früher auch coaks) als Nebenprodukt

 

an. Bei der Verkokung (Erhitzung von Kohle unter Sauerstoffabschluss, Pyrolyse) entstehen (in Massenanteilen) 79% Koks, 13% Kokereigas, 2% Wasser, je 1% Benzol und Ammonsulfat – und 4% Teer.

Die Kokereien werden üblicherweise von Eisenhütten und Stahlwerken oder in deren Nähe betrieben, da der Koks für sie ein unverzichtbarer Rohstoff ist. Während das Kokereigas (Stadtgas) seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre als Brennstoff für die Gaslampen in den Städten sowie zum Heizen und Kochen in den Haushalten verwendet wurde, wird es heute in erster Linie in den Kokereien selbst oder in anderen Betrieben zur Energieerzeugung verwertet.

Das Benzol und der Teer werden in den Kokereien aufbereitet und am Markt verkauft. Es gibt Betriebe, die sich auf die Verwertung des Teers spezialisiert haben.

Zusammensetzung

Beim Steinkohlenteer handelt es sich um ein sehr komplexes Gemisch: Es wird geschätzt, dass die dunkelbraune, stark riechende und zähe Substanz bis zu 10.000 verschiedene chemische Verbindungen enthält. Bisher wurden ca. 500 eindeutig identifiziert, und maximal 250 werden gezielt isoliert. Es handelt es sich vor allem um (teils stickstoffhaltige) aromatische Kohlenwasserstoffe, insbesondere

  • monozyklische: Phenol, Kresol und Xylenol ("Teersäuren"), Pyridin,
  • bizyklische: Naphthalin, Alkylnaphthaline, Inden,
  • trizyklische: Anthracen, Phenanthren, Fluoren, Carbazol,
  • tetrazyklische: Pyren u. a.

Die Verwertungsgesellschaften trennen den Steinkohlenteer beim ersten Destillationsschritt (Primärdestillation, Abb. 1) in seine einzelnen Fraktionen auf (Tab. 1). Alle Fraktionen werden verwertet und begegnen uns in den verschiedensten Bereichen der Technik und des täglichen Lebens wieder.

Hauptprodukt Pech

Das Hauptprodukt der Steinkohlenteerdestillation ist das Pech, ein heterogenes Gemisch aus schwerflüchtigen, in erster Linie aromatischen Verbindungen. In der Primärdestillation fällt Weichpech an, das einen relativ hohen Anteil von ca. 5% Pyrenöl enthält. Es kann von den meisten metallverarbeitenden Betrieben direkt verwertet werden. Aus technischen Gründen benötigen einige wenige Betriebe das Festpech, welches in einem zweiten Destillationsschritt (Sekundärdestillation) gewonnen wird, indem das Pyrenöl nahezu vollständig abgetrennt wird. Anschließend wird das Festpech mittels Extrusion zu Pastillen ("Pastilliertes Pech" über Kühlbänder) oder Strängen ("Strangpech") verarbeitet. Ein kritischer Aspekt sind die hierbei teilweise anfallenden kanzerogenen Stäube, die aufwendig gebunden werden müssen.

Elektrodenbinder und Feuerfestkleber

Sowohl Weich- als auch Festpech dienen als Binder in Kohlenstoff- oder Graphit-Anoden. Diese erzeugen einen Lichtbogen und schmelzen damit Aluminium und Stahl (Elektrolyse), wobei sie allmählich verbrennen. Für die Gewinnung einer Tonne Aluminium werden 90 bis 100 kg Pech benötigt.

Auch Feuerfestkleber werden aus Pech gewonnen. Ihr Erweichungspunkt liegt bei 180 bis 220 °C, sie können aber durch den Zusatz von Teerölen verflüssigt werden. Die Feuerfestindustrie verwendet sie zur Herstellung feuerfester Graphittiegel.

Teeröle

Die Teeröle wurden ursprünglich unter den Bezeichnungen Carbolineum und Kreosot zum Imprägnieren von Holzschwellen im Schienenbau eingesetzt, was auch heute noch eine wichtige technische Anwendung ist. Sie schützen die Holzschwellen vor einer zu schnellen Verrottung.

Eine weitere Anwendung, mit der wir täglich zu tun haben, ist die Verrußung. Dabei wird Teeröl in großtechnischen Anlagen zu Ruß verarbeitet, welcher hauptsächlich als Schwarzpigment in der Reifenindustrie eingesetzt wird ("carbon black oil"). Außerdem kann Teeröl (wie Heizöl) zur Energieerzeugung verbrannt werden.

Phenole und Inden für Kunststoffe und -harze

Aus dem Carbolöl (Carbol = Phenol) werden das Phenol und die Alkylphenole (Kresole und Xylenole) durch alkalische Extraktion, Destillation und Kristallisation isoliert; sie dienen der Chemie als wichtige Ausgangssubstanzen für verschiedenste Synthesen und als Bausteine für Polymere, beispielsweise die Phenolplaste oder Bakelite, die der belgische Chemiker Leo Hendrik Baekeland 1907 erfunden hat; sie waren nach dem Celluloid die ersten industriell produzierten Kunststoffe (Abb. 4).

Baekeland hatte damals mit Phenol und Formaldehyd experimentiert und entdeckt, dass beide Stoffe in einer exothermen Reaktion zu einem Kunstharz polymerisieren. Nach Entfernen des entstehenden Wassers lässt sich die noch weiche warme Pressmasse beliebig formen. Nach Abkühlung und Aushärtung ist der Kunststoff widerstandsfähig gegen mechanische Einwirkungen, Hitze und Säuren. Bakelite sind Duroplaste und lassen sich – im Gegensatz zu Thermoplasten – durch Erwärmen nicht wieder verformen. Sie haben eine dunkle, braune bis schwarze Färbung und dunkeln unter Lichteinfluss nach. Zur Aufhellung werden den Pressmassen meist Zuschlagstoffe wie Holzmehl, Gesteinsmehl oder Textilfasern zugesetzt. Bakelit wurde und wird teilweise heute noch zur Herstellung von Haushalts- und Küchengegenständen (z. B. Griffe für Pfannen und Kochtöpfe), Telefongehäusen, Ziergegenständen, Modeschmuck, Büroartikeln, Lichtschaltern, Steckdosen usw. eingesetzt. Bakelite® und Bakelit® sind eingetragene Marken der Fa. Hexion Specialty Chemicals in Deutschland.

Das im Carbolöl enthaltene Inden wird durch Umsetzung mit Cumaron zu Spezialharzen weiterverarbeitet, welche als Schmelz- ("hot melt"), Lösungs- oder Dispersionskleber eingesetzt werden, z. B. als Holzschmelzkleber bei der Möbelherstellung, als Lösungsmittelklebstoffe bei der Verlegung von Parkett oder zur Herstellung von Schuhen sowie als Fugendicht- und Schalldämpfungsstoffe. Der Gummiindustrie dienen die Inden-Cumaron-Harze z. B. als Dispergier- oder Homogenisiermittel, während die Coatingindustrie sie z. B. zur Erhöhung der Filmfestigkeit und Feuchtigkeitsbeständigkeit von Farben und Lacken einsetzt.

Verwertung von Naphthalin

Aus dem Anthracenöl sowie dem Naphthalin- und Methylnaphthalinöl können Anthracen und Carbazol bzw. Naphthalin durch Kristallisation und Reinigung isoliert werden; sie sind wichtige Grundstoffe für die Synthese komplexerer aromatischer Moleküle, die in erster Linie in der Farben- und Pharmaindustrie benötigt werden.

Insbesondere das Naphthalin kann auch zu anderen technisch sehr wichtigen Produkten unseres Alltags verarbeitet werden. In speziellen Anlagen wird es zu Phthalsäureanhydrid oxidiert, welches einen wichtigen PVC-Weichmacher für die Kunststoffindustrie darstellt. Dieser Prozess hat enorme Vorteile für die Energieeffizienz der Teerdestillationsbetriebe, da die Oxidation stark exotherm verläuft und so einen erheblichen Wärmeanteil für die Destillation liefern kann.

Ferner wird Naphthalin zu Naphthalinsulfonatformaldehyd-Kondensaten (NSF) verarbeitet, die als Superplasticizer dem Beton eine gute Fließfähigkeit verleihen und bei der Herstellung größerer Bauten mittlerweile unverzichtbar sind.

Ein weiteres wichtiges Naphthalin-Derivat ist das Diisopropylnaphthalin (DIPN), das durch die Umsetzung mit Propen gewonnen wird. DIPN wird u. a. zur Herstellung von Mikrokapseln für Selbstdurchschreibpapiere eingesetzt. Aufgrund seines ausgesprochen hydrophoben Charakters wird es auch zur Herstellung industrieller Fußböden, zum Korrosionsschutz oder zur Herstellung von Klebstoffen und Gießharzen verwendet.

 

Literatur

Franck H-G, Collin G. Steinkohlenteer – Chemie, Technologie und Verwendung. Springer-Verlag, Berlin etc 1968.

Collin G. Vom Erfahrungswissen zur Applikation von wissenschaftlicher Erkenntnis – Die Wandlung der Technik am Beispiel der Steinkohlenteer- und Teerfarben-Chemie. Erdöl Erdgas Kohle 2001;117:240 – 246.

Collin G. Zur Geschichte des Rußes. Erdöl Erdgas Kohle 2003;119:95 – 97.

 

 

Autor

Dr. Uwe Weidenauer

Fachapotheker für Pharmazeutische Technologie

Beethovenstraße 5, 69469 Weinheim

uwe.weidenauer@gmx.de


 

Internet

Firma Rütgers

www.ruetgers-group.com

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