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Gefühlte Inflation und reales Wohlstandsgefälle

Mit seinen Untersuchungen hat der Mathematiker Hans Wolfgang Brachinger die Wirtschaftswelt aufgerüttelt. Er zeigte, dass die reale Inflation ärmere Haushalte unproportional härter trifft als Besserverdiener. Außerdem hat Brachinger ein Rechenmodell für die "gefühlte Inflation" aufgestellt.

Arm trotz Arbeit: Immer mehr Arbeitnehmer können von dem Gehalt, das ihre Tätigkeit in Vollzeit einbringt, nicht mehr leben. Einer der Gründe ist die hohe Inflationsrate, die besonders Produkte des täglichen Gebrauchs stark verteuert. Luxusartikel hingegen sind deutlich preisgünstiger geworden.

Das Wohlstandsgefälle wächst

Regelmäßig veröffentlicht das Statistische Bundesamt Zahlen zur Inflation in Deutschland. Ein standardisierter Warenkorb dient den Wissenschaftlern dabei als Hilfsmittel, um die Preisentwicklung der ganzen Produktpalette in Zahlen zu fassen. Das einzige Manko: Bei diesem Verfahren wird nicht nach der Art des Haushalts unterschieden. Singlehaushalt oder fünfköpfige Familie, Spitzeneinkommen oder Hartz IV – alles wird über einen Kamm geschoren. "Für eine Familie mit drei Kindern und einem verfügbaren Nettoeinkommen von 2600 bis 3600 Euro liegt die Inflationslast bei 4,8 Prozent", betont der Mathematiker Professor Hans Wolfgang Brachinger von der Universität Fribourg in der Schweiz. Zeitweilig sei der Wert in den vergangenen zwölf Monaten sogar bis zur Marke von 6,0 Prozent angestiegen. Zum Vergleich: In den besagten Zeiträumen lag die offizielle Zahl bei zwei bis drei Prozent.

Inflationslastindex

Für Geringverdiener mit einem Einkommen unter 1700 Euro beträgt die Inflationslast aktuell 5,4 Prozent, im vergangenen Spätherbst sogar über 7 Prozent.

Ausgehend von dieser Überlegung, wurde der Inflationslastindex (ILI) entwickelt. Er stellt die unterschiedliche Belastung reicher und armer Haushalte durch die Teuerung dar: In ärmeren Haushalten wird ein hoher Prozentsatz des Einkommens für Lebensmittel, Heizkosten und Benzin ausgegeben. Gerade diese Artikel sind vergleichsweise stark im Preis gestiegen. Wer aber zu wenig verdient, muss das Ersparte antasten, soweit vorhanden, oder sich bei den Produkten des täglichen Gebrauchs einschränken. Topverdiener hingegen werden den Unterschied nur daran bemerken, dass sie etwas weniger Kapital anlegen können als in den Monaten zuvor. Je geringer das Gehalt, desto größer ist der Anteil der Ausgaben für Lebensmittel, Benzin, Heizung und Strom. "Für Geringverdiener ist das bisherige Lebenshaltungsniveau nicht mehr zu halten", so Brachingers Schlussfolgerung.

Gefühlte Teuerung – mathematisch kalkuliert

"Die Wochenendeinkäufe sind schon wieder teurer geworden", beschweren sich viele Kunden. Auch die Benzinpreise steigen ins Unermessliche, von der Stromrechnung ganz zu schweigen. Dieses Empfinden der Konsumenten hat Hans Wolfgang Brachinger auf eine wissenschaftliche Basis gestellt. Der Mathematiker, Spezialgebiet Statistik, führte den Index der wahrgenommenen Inflation (IWI) ein, also die gefühlte Teuerung, nicht die reale. "Bei dieser Größe wird berücksichtigt, dass Produkte unterschiedlich oft erworben werden. Brot, Gemüse, Fleisch oder Benzin bzw. Diesel zum Beispiel stehen regelmäßig auf der Einkaufsliste – Produkte, die sich stark verteuert haben", erklärt Brachinger. Preisänderungen werden aber umso deutlicher wahrgenommen, je häufiger ein Artikel auf dem Einkaufszettel steht. Luxusartikel hingegen, etwa den neuen Computer oder das neue Fernsehgerät, kauft man sehr selten – und deren Preise sind gesunken.

Der Wissenschaftler hat für den IWI-Index die gleichen Artikel wie das Statistische Bundesamt ausgewählt, aber dann deren Kaufhäufigkeit berücksichtigt, und nicht deren Anteil an den Gesamtausgaben des Haushalts. Das Ergebnis überrascht nicht wirklich: Mit 11,6 Prozent (April 2008) entspricht der IWI unserem Empfinden, während die reale Inflationsrate mit 3,3 Prozent angegeben wird. Die Konsequenzen: Da die "gefühlte Inflation" – und nichts anderes ist der IWI – so hoch liegt, spart man bei größeren Anschaffungen und legt eher Geld auf die hohe Kante, ein Verhalten, das man von den Eltern und Großeltern aus Notzeiten kennt. Der Effekt schlägt sich auf die ganze Wirtschaft nieder.

Michael van den Heuvel

 

 

KOMMENTAR

Das betrifft auch das Apothekenpersonal!

Geringverdiener leiden unter einer überproportional höheren Inflationslast. Das ist also nicht nur gefühlt so, sondern lässt sich auch mathematisch berechnen. Zu die­ser Gruppe mit einem Nettoeinkom­men unter 1700 Eu­ro zählen auch viele PTA und PKA. Sie mussten in den ver­gangenen Monaten mit Teuerungsraten von teilweise über 7 Prozent leben. In diesem Lichte ist es ein Skandal, dass die Arbeitgeber die Tarif­verhandlungen so lange verzö­gern. Wen wundert es da, wenn qualifiziertes Personal abwan­dert, sei es in andere Branchen oder in das benachbarte Ausland wie die Niederlande, Österreich oder die Schweiz! Will man von der Politik eine Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen der inhabergeführ­ten Apotheken erreichen, um deren Zukunft zu sichern, dann täte man gut daran, die Mitarbei­ter und deren Vertretung mit ins Boot zu holen. Mit dem derzeitigen Konfrontationskurs können die Ar­beitgeber dieses Ziel vergessen.

Tanja Kratt 
ADEXA-Gesamtvorstand, Bereich Tarife

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