Feuilleton

Amylum Solani oder das Schicksal der Kartoffelstärke

Frau Prof. Dr. Karen Nieber mit besten Wünschen zum 60. Geburtstag gewidmet.

Die Geschichte beginnt mit Friedrich dem Großen. Er ordnete 1756 in Preußen den Anbau der Kartoffel an, nachdem er die ernährungsphysiologische Bedeutung der Knolle erkannt hatte. Beinahe wäre diese weitsichtige Tat in die Hose gegangen, denn die Bauern aßen in Unkenntnis der Sachlage die giftigen grünen Früchte und nicht die Knollen, was schlimme gesundheitliche Folgen hatte. Sie weigerten sich, weiterhin Kartoffeln anzubauen, und beschimpften ihren König und sagten, dass die Kartoffel giftig sei, was dieser wiederum nicht verstehen konnte. Aber seine Stärke war eine List, mit der er seine Bauern doch noch zum Anbau der stärkehaltigen Knolle bewegen konnte. Er ließ ein großes Feld Kartoffeln anpflanzen und es tagsüber strengstens bewachen. Gleichzeitig aß er öffentlich immer wieder Kartoffelgerichte, ohne dabei Schaden zu nehmen. Was machten die bauernschlauen Leute? Sie klauten nachts die Kartoffeln und bauten sie selbst an. Was dem König gut bekam, sollte ihnen auch nicht schaden, zumal diese Exoten auch noch gut schmecken täten. Der Durchbruch war geschafft, und Preußens Soldaten und Bürger mussten kaum noch Hunger leiden.

Freilich wusste man damals noch nichts über die in den Kartoffeln enthaltene und den Nährwert bedingende Stärke.

Stärkemonographien der Arzneibücher

1872, also über 100 Jahre später, erschien das erste Deutsche Arzneibuch, die Pharmacopoea Germanica, aus dem Lateinischen übersetzt von Dr. phil. Hermann Hager (der mit dem Handbuch der Pharmazeutischen Praxis). Es enthielt als Monographien Amylum Marantae , Marantastärke, Arrow-root (Maranta arundinacea Linn.) und Amylum Tritici , Weizenstärke (Triticum vulgare Villars).

Zur Qualitätssicherung der Marantastärke war zu beachten: "Man sehe sich vor, dass sie nicht mit Kartoffelstärkemehl verfälscht sei". Welch eine Verunglimpfung der mittlerweile schon alten guten deutschen Kartoffelstärke! Hätte man nicht besser sie als Monographie in die Germanica aufnehmen und vor der Marantastärke als potenzieller Verunreinigung warnen sollen?! Zum Trost war davon auszugehen, dass weitere Arzneibücher folgen würden, in welchen überholte Monographien gestrichen und aktuelle neu aufgenommen werden.

Im Deutschen Arzneibuch 6. Ausgabe (DAB 6), das 1926 erschienen ist und mit dem wir nach Ende des Zweiten Weltkrieges noch einige Zeit arbeiten mussten, waren aber nur zwei Stärke-Monographien enthalten, Amylum Oryzae , Reisstärke (Oryza sativa Linné) und Amylum Tritici , Weizenstärke (Triticum sativum Lamarck). Amylum Solani war immer noch nicht salonfähig – bei den Pharmazeuten heißt das "offizinell" – geworden. Das Ergänzungsbuch zum DAB 6 kannte dann endlich die Kartoffelstärke, und erst im DAB 7 erhielt sie neben der Maisstärke, der Reisstärke und der Weizenstärke die Weihe der "Arzneibuchreife".

Das heute für uns zuständige Europäische Arzneibuch, 5. Ausgabe, beinhaltet drei Stärke-Monographien: Kartoffelstärke , Solani amylum (Solanum tuberosum L.), Maisstärke , Maydis amylum (Zea mays L.) und Weizenstärke , Tritici amylum (Triticum aestivum L.).

Verwendung

Doch was geschah früher und was tut sich heute mit der Stärke verschiedener Provenienzen? In der GAZ (= guten alten Zeit) wurde sie benötigt als Grundlage von medizinischen und kosmetischen Pudern, als Füll-, Binde- und Sprengmittel bei der Tablettenherstellung, zur Bereitung von Hydrogelen und für die Herstellung von Stärkekapseln sowie als Ingredienz für Pasten. Von Bedeutung ist dabei die mittlere Teilchengröße der Stärkekörner. Sie beträgt bei Kartoffelstärke 35 μm, bei Weizenstärke 25 μm, bei Maisstärke 15 μm und bei Reisstärke 5 μm.

In der Lebensmittelindustrie braucht man die Stärke für die Herstellung von Backwaren, Teigwaren, Süßwaren, Pudding, Saucen, Cremes, Fertiggerichten.

Jeder tüchtigen Hausfrau bekannt und zum Stärken der Vatermörder und anderer Hemdenkragen gebraucht war Hoffmann‘s Stärke. Leider enthielt dieser 1876 in Umlauf gebrachte deutsche Markenartikel mit dem einprägsamen Signet einer pfotenleckenden Katze als Symbol für Sauberkeit keine Kartoffel-, sondern Reisstärke.

Die pharmazeutisch-technologische Verwendung besteht zwar immer noch, spielt aber mengenmäßig nicht mehr die erste Geige. Der Bedarf der Lebensmittelindustrie ist unverändert hoch. Doch etwa die Hälfte der rund acht Millionen Tonnen Stärke, die jährlich in Europa verbraucht werden, wandert in die Papier-, Pappe- und Wellpappe-Industrie, daneben in die Herstellung von Klebstoffen und Hilfsmittel für die Bauindustrie sowie die Textilveredlung.

Der industrielle Appetit auf Stärke ist noch lange nicht gestoppt. Also muss mehr Stärke her! Und wer liefert sie preiswert und in großen Mengen für Europa? Die Kartoffel. Da können Weizen, Reis, Gerste, Roggen, Hafer, Hirse, Erbsen, Bohnen, Linsen und der Buchweizen nicht mithalten, am ehesten noch der subventionierte Mais. Die Wurzelknollen des Maniokstrauches (Manihot esculenta , Tapioka), die in Afrika und Asien als Brot des armen Mannes gelten und auch in Lateinamerika geerntet werden, gelangen nur mit festgeschriebenen Einfuhrquoten in die EG und werden hier vor allem als Futtermittel verwendet. Die Batate, die Sagopalme oder die Curcuma -Arten können wir als Stärkelieferanten vernachlässigen.

Der lauteste Schrei nach technisch verwendbarer Stärke kommt heute von der Papierindustrie. Wenn wir unser Zeitalter nach einer Materie benennen sollten, so müsste es das Papierzeitalter heißen. Der Bedarf an diesem Material zum Bedrucken und zum Verpacken ist in ständigem Steigen begriffen, trotz Computer und Medientechnik, die ja den Platzbedarf für das gedruckte Wort wesentlich einschränken sollten.

Was liegt also näher, als die Kartoffelstärkeproduktion anzukurbeln?

Bevor wir diese Frage bejahend beantworten, sollten wir uns aber etwas näher mit der Struktur der Stärke befassen.

Strukturelles

Stärke ist als "reines" Polysaccharid nur aus Glucose-Modulen (Traubenzucker) aufgebaut. Man nennt das ein Homoglycan. Sie besteht also aus einer Vielzahl von Glucose-Molekülen, die sich in ständig wiederholender Verknüpfung zu einem Riesenmolekül zusammengebunden haben. So einfach ist die Sache. Wenn man aber bedenkt, dass die Glucose in einer α- und einer β-Form vorliegen kann und die Verknüpfung in den Positionen 1, 2, 3, 4 oder 6 erfolgen kann, dann wird die Sache doch etwas komplizierter. Diese Positionen tragen OH-Gruppen und die Verknüpfung erfolgt jeweils durch Kondensation, d. h. aus zwei OH-Gruppen benachbarter Glucose-Moleküle wird ein HOH eliminiert, wobei eine etherartige Bindung zwischen den beiden Molekülen zustande kommt.


Strukturen und Teilstrukturen von Glucose, Maltose, Amylose und Amylopektin

Nun könnte eine launische Natur alle Verknüpfungsarten durchspielen. Wir hätten dann die 15 Modelle, die in der Tabelle 1 durch Zahlen dargestellt sind. Sie müssten um fünf reduziert werden, denn die rot markierten Anfangsglieder sind Disaccharide, die sich nicht auf gleiche Weise zu Polysacchariden augmentieren lassen. Es blieben immerhin zehn Möglichkeiten.

Tab. 1: Theoretisch mögliche Verknüpfungen von Glucose-Molekülen. Die rot markierten Verknüpfungen treten nur bei Disacchariden auf. Bei Polysacchariden kommen (in der Reihenfolge der Häufigkeit) die grün, gelb und grau markierten Verknüpfungen vor.
1 - 1
2 - 2
3 - 3
4 - 4
6 - 6
1 - 2
2 - 3
3 - 4
4 - 6
1 - 3
2 - 4
3 - 6
1 - 4
2 - 6
1 - 6

Wären in nativen Polysacchariden verschiedene Verknüpfungsarten in beliebiger Reihenfolge zugelassen, dann würde die Zahl der dabei entstehenden Makromoleküle ins Unermessliche steigen. Doch die Natur ist sparsam und arbeitet ökonomisch. Am Aufbau aller nativen Polysaccharide ist immer die Verknüpfung über die Position 1 beteiligt, sodass wir uns nur noch fragend mit den vier verbleibenden Möglichkeiten der ersten Spalte in der Tabelle befassen müssen. Tatsächlich sind die α-Glucose-Module in der Stärke vorwiegend 1-4-, daneben auch 1-6- und gelegentlich 1-3-verknüpft (Tab. 1: grün, gelb und grau markierte Felder).

Die β-Glucose hat in der Stärke nichts zu suchen. Mit ihr hat der liebe Gott die Cellulose aufgebaut. Wenn in der Stärke drei verschiedene Verknüpfungsmodi vorkommen, so muss sie doch ein ziemliches Polymerengemisch darstellen! Das ist nicht der Fall. Stärke ist lediglich aus zwei Fraktionen zusammengesetzt, die sich strukturell unterscheiden: Amylose (15 bis 30%) und Amylopektin (70 bis 85%).

Amylose besteht aus unverzweigten α-1,4-verknüpften Glucoseketten, die im wasserfreien Zustand geknäuelt vorliegen und im hydratisierten Status helixartig angeordnet sind, mit sechs Glucose-Einheiten pro Windung. Die Ketten enthalten 300 bis 1000 Glucose-Moleküle, die relative Molmasse liegt zwischen 50.000 und 200.000. Die Amylose befindet sich vorwiegend im Innern der Stärkekörner.

Amylopektin besteht aus verzweigten Molekülen, die sich aus Einzelgliedern von 20 bis 30 α-1,4-verknüpften linearen Glucoseketten zusammensetzen. Diese sind über α-1,6-Verzweigungen und selten auch über α‑1,3-Verzweigungen miteinander verknüpft. Die relative Molmasse liegt zwischen 100.000 und 1.000.000. Amylopektin bildet die äußeren Schichten der Stärkekörner.

Aktuelles

Es hat sich gezeigt, dass die Amylose weniger geeignet ist für die wichtigsten industriellen Einsatzmöglichkeiten im "Nicht-Ernährungsbereich". Gefragt ist heute das Amylopektin. Die Trennung der beiden Stärkefraktionen ist schwierig und sehr aufwändig. Im sog. Amylomais kann der Amyloseanteil der Stärke bis zu 95% betragen. Stärken, die 95% und mehr Amylopektin enthalten, bezeichnet man als Wachsvarietäten. Sie werden von bestimmten Maissorten und von der Hirse produziert. Was liegt also näher, als eine Kartoffel zu züchten, deren Stärke möglichst reich an Amylopektin und möglichst arm an Amylose ist. Eine Stärkekörnerschälmaschine, die im Nanobereich arbeitet und die Außenschichten der Kartoffelstärke als Amylopektin-Fraktion abkratzt, muss noch erfunden werden.

Die Kartoffelzüchtung wird durch den tetraploiden Charakter der Kulturpflanze sehr erschwert. Bis heute ist es auf konventionellem Wege nicht gelungen, eine Kartoffel zu züchten, die reine oder wenigstens vorwiegend Amylopektin-Stärke enthält.

Was macht man in einer solchen Situation? Die Gentechnik muss Abhilfe schaffen.

In der Tat ist es der BASF Plant Science gelungen, eine auf den schönen Namen "Amflora" getaufte Kartoffel gentechnisch so zu verändern, dass sie vorwiegend die technofunktionelle Amylopektin-Stärke produziert. Dazu musste ein Enzym ausgeschaltet werden, das für die Amylosebildung verantwortlich zeichnet. Die Zulassung für den Anbau, der schon für 2007 geplant war, ruht derzeit bei der zuständigen EU-Kommission in Brüssel. Ein Verzögerungsgrund ist das in der Amflora-Kartoffel enthaltene antibiotikaresistente Marker-Gen, das Kartoffel-verzehrende Lebewesen gegen Aminoglykosid-Antibiotika wie Kanamycin und Neomycin resistent machen könnte.

Bleibt zu hoffen, dass dieses Gen eliminiert werden und die Kartoffel als nachwachsender Rohstoff weiter optimiert werden kann.

In Zukunft wird man nicht nur – wie bisher – zwischen rund 100 verschiedenen Kartoffelsorten wählen können, sondern auch zwischen verschiedenen Kartoffelstärken unterscheiden müssen.

Hier ein Vorschlag für offizinelle Bezeichnungen:

Solani amylum, Kartoffelstärke

Solani amylum ad usum technologicum, Kartoffelstärke zur technischen Verwendung

Solani amylum artificiale, Synthetische Kartoffelstärke

Solani amylum manipulatum, Stärke aus gentechnisch veränderten Kartoffeln

Solani amylum modificatum, Modifizierte Kartoffelstärke

Solani amylum solubile, Lösliche Kartoffelstärke

Amylosum 99%, Amylose 99%

Amylopectinum 99%, Amylopektin 99%.

Jetzt wird uns auch klar, warum in den Stärke-Monographien unter "Eigenschaften" stets zu lesen ist: Sehr feines weißes Pulver, das beim Reiben zwischen den Fingern knirscht.


Verfasser
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Hermann J. Roth
Friedrich-Naumann-Str. 33 76187 Karlsruhe

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