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Kernkraftwerke und Krebs – auf der Suche nach Täter und Tatwaffe

Eine im Auftrag des Bundesamts für Strahlenschutz durchgeführte Studie aus Mainz hat gezeigt, was auch frühere Untersuchungen schon gezeigt haben: In unmittelbarer Nähe zu Atomkraftwerken (AKW) scheint das Risiko für Kleinkinder, an Leukämie zu erkranken, anzusteigen. Je näher die Wohnung am Reaktor, umso deutlicher der Effekt. Erklären aber, warum dies so ist, können es die Forscher auch diesmal nicht. Und nach heutigem Kenntnisstand ist es auch gar nicht möglich, dass eine Strahlendosis, die in der Nähe nuklearer Kraftwerke weit unter dem liegt, was Flugreisen, Röntgenuntersuchungen und natürliche Erdstrahlung an Belastung mit sich bringen, zu Krebs führen soll.

Schon früher hatten Studien aus Großbritannien und den USA ebenfalls Hinweise auf den Zusammenhang zwischen nuklearen Anlagen und dem Krebsrisiko der Anwohner geliefert, aber auch diese Studien waren nicht in der Lage, die beobachtete Risikoerhöhung zu erklären. Trotzdem glauben jetzt viele in Medien und Politik, dass der Täter nun erkannt ist, dass lediglich die Tatwaffe noch fehlt. Und man meint, dass man nun nicht länger zu suchen bräuchte, vielmehr schnellstens handeln sollte.

Worin besteht für die Forscher nun eigentlich die Schwierigkeit, eindeutigere Ergebnisse zu liefern? Als Grundlage für die Risikoabschätzung potenziell gesundheitsgefährdender Stoffe dienen meist die Ergebnisse epidemiologischer Studien. Bei diesen werden jeweils zwei Personengruppen miteinander verglichen, die entweder Umgang mit einem bestimmten Stoff oder keinen mit ihm hatten. Obwohl epidemiologische Ergebnisse streng genommen nichts über die Kausalität, sondern nur etwas über die Unterschiede von zwei Personengruppen aussagen, sind sie in Bezug auf die Untersuchungen von Gefahrenquellen für gesetzgeberische Auflagen eine unverzichtbare Ausgangsbasis. Dass ihre Ergebnisse nicht immer problemlos zu interpretieren sind, hängt damit zusammen, dass häufig nicht genau bekannt ist, wie stark und lange die Personengruppe der gesundheitsgefährdenden Einwirkung ausgesetzt war, und ob die nicht exponierte Kontrollgruppe auch wirklich in allen übrigen Eigenschaften gleich ist.

Bei der vorliegenden Studie wurden Leukämiefälle aus dem Deutschen Kinderkrebsregister in Mainz genommen und mit einer zufällig ausgewählten Stichprobe gesunder Kinder verglichen. Man hat also (metergenau) untersucht, ob die kranken Kinder näher an den Kernkraftwerken gewohnt haben als die gesunden Kinder der Kontrollgruppe. Dabei mussten die Mainzer Forscher für eine präzise Antwort sehr genau analysieren, inwieweit das Leben der erkrankten Kinder und ihrer Familien von dem der nicht erkrankten Kinder und ihrer Familien abweicht. Also, ob sich Kinder und Eltern beider Gruppen beispielsweise in der Familienanamnese, der Zahl durchgeführter Röntgenuntersuchungen oder unternommener Flugreisen, Impfungen und Infektionen im Babyalter, dem Rauch- und Essverhalten und womöglich in hunderten anderen Kategorien voneinander unterscheiden. Je weniger homogen die Gruppen sind, umso weniger genau sind die Ergebnisse. Oder auch: Je weniger auskunftswillig die zufällig ausgewählten Personen der Kontrollgruppe sind, umso wertloser sind die Antworten der Auskunftswilligen. Auch kann man nie ausschließen, dass es Gründe sowohl für die Auskunftsbereitschaft wie auch die Auskunftsverweigerung gibt, die das Ergebnis beeinflusst haben können. Eine solche Studie ist somit ein beinahe aussichtsloses Unterfangen.

In der Epidemiologie ist es wie in der Analytik: Die Entdeckung eines Häufigkeitsunterschieds beziehungsweise das Messen einer gefährlichen Substanz ist eine Sache, die Bewertung des Gefundenen aber eine ganz andere.

Sollen nun – wie in den Medien und von Teilen der Politik gefordert – Kernreaktoren vorsichtshalber abgeschaltet werden, weil man schon die Möglichkeit eines Zusammenhangs ernst nimmt, und nicht erst seine Wahrscheinlichkeit abwarten möchte?

Aus der Risikoforschung wissen wir, dass Risiken in der Bevölkerung sehr subjektiv betrachtet werden. Dass sie entweder unter- oder überschätzt, selten richtig und nie einheitlich beurteilt werden. Wenn wir aber unsere Entscheidungen für die Annahme oder Ablehnung eines Risikos ständig nur auf Möglichkeiten aufbauen und nicht auf Wahrscheinlichkeiten, dann werden wir unser ganzes Leben damit verbringen, uns mit viel Geld gegen mögliche Risiken zu schützen, und werden mittellos und unvorbereitet sein, wenn die wahrscheinlichen eintreten.


Klaus Heilmann


Prof. Dr. med. Klaus Heilmann beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Risikoforschung, Krisenmanagement und Technikkommunikation. In der DAZ-Rubrik "Außenansicht" greift Heilmann Themen aus Pharmazie, Medizin und Gesellschaft aus Sicht eines Nicht-Pharmazeuten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen auf.

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