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DAZ aktuell
Der Versand und die Folgen
Rainer Töbing, Präsident der Apothekerkammer Hamburg, verwies auf Warnungen der Apotheker, die schon 2003 auf die Folgen des damals diskutierten Versandhandels hingewiesen hätten. Nun sei überdeutlich, dass sich die Befürchtungen bewahrheitet hätten. Aufgrund des dm-Urteils seien jetzt auch die übrigen Strukturen des Arzneimittelhandels bedroht. Viele hätten den Versand gewollt, aber jetzt sei nach einem angemessenen Verhältnis zwischen dem vermeintlichen Zugewinn an Freiheit und den Problemen für den Verbraucher- und Gesundheitsschutz zu fragen.
Illegale Anbieter im Internet
Dr. Mona Tawab, Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker (ZL), berichtete über bereits früher präsentierte Ergebnisse von Testkäufen des ZL bei internationalen Anbietern im Internet, die verschreibungspflichtige Lifestyle-Arzneimittel ohne Rezept angeboten hatten. Übereinstimmend mit Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation erwiesen sich etwa die Hälfte dieser Produkte als gefälscht. Sie enthielten keinen Wirkstoff oder nur einen Mindergehalt. Viele Packungen wiesen unvollständige Beipackzettel auf, hatten keine Chargennummern oder waren beschädigt. Beim Kauf in legalen Apotheken würden solche Packungen von den Patienten sicherlich beanstandet. Der Kaufpreis sei teilweise mehrfach belastet worden. Tawab folgerte, dass der Kauf bei solchen Anbietern im Internet unter Umgehung der Verschreibungspflicht alle patientenrelevanten Sicherheitsvorkehrungen außer Kraft setzt.
Prof. Dr. Harald G. Schweim, Leiter des Bereichs Drug Regulatory Affairs der Universität Bonn, sieht das Hauptproblem in den Schwierigkeiten für die Strafverfolgung. Durch die Zulassung eines legalen Versandhandels sei für die Behörden nur sehr schwer zu ermitteln, welche Arzneimittellieferungen nach Deutschland illegal sind. Würde hingegen in Deutschland eine Strafverfolgung ausgelöst, sei eine gute Kooperation mit den chinesischen Behörden zu erwarten. Da in China regelmäßig Fälscher sogar hingerichtet würden, sei die abschreckende Wirkung enorm. Bei einer Versendung nach Deutschland müssten die Fälscher aber nur mit Strafverfolgung rechnen, wenn die deutschen Behörden illegale Lieferungen klar erkennen könnten.
Fälschungen aller Art
Die Motivation für Arzneimittelfälschungen sieht Schweim in den ungeheuren Gewinnmöglichkeiten, da die Marge etwa zehn Mal so groß wie beim Heroinhandel sei. Die Zahl der Fälschungen steige exponentiell, das Problem sei inzwischen weder auf Entwicklungsländer noch auf Lifestyle-Arzneimittel begrenzt. In Großbritannien seien 2006 bei einem Rückruf des Lipidsenkers Lipitor sogar die von den legalen Apotheken zurückgesandten Packungen zu mehr als der Hälfte Fälschungen gewesen, die in die legale Lieferkette eingeschleust worden waren. Aussagekräftige Zahlen über Schädigungen von Patienten durch Fälschungen gibt es naturgemäß nicht, zumal sogar bei unerwünschten Wirkungen legaler Arzneimittel die Kausalität nur sehr selten nachgewiesen werden kann. Schäden durch Fälschungen seien meist bei spektakulären Fällen in Entwicklungsländern mit Tausenden Toten offensichtlich geworden.
Mögliche Gegenmaßnahmen
Inzwischen werde auch in Ländern mit liberaler Arzneimittelgesetzgebung über strengere Regeln nachgedacht. Apotheker in Deutschland sollten das Thema insbesondere gegenüber Ärzten ansprechen, um das Bewusstsein für das Problem zu stärken. Dagegen berichtete Schweim über ernüchternde Erfahrungen hinsichtlich der Reaktionen deutscher Behörden. Anhand von Beispielen zeigte er auf, dass Hinweise auf illegalen Versand nicht konsequent bearbeitet oder immer wieder an andere Stellen verwiesen würden.
Schweim stellte eine von ihm gefälschte Internetapotheke vor, die bereits ausführlich in der DAZ präsentiert wurde. Diese Fälschung sei sogar von Pharmaziestudenten als glaubwürdig eingestuft worden, sodass typische Verbraucher offenbar nicht zwischen legalen und illegalen Angeboten unterscheiden könnten. So sei die Zulassung des Internethandels ein politischer Kardinalfehler gewesen, weil die Verbraucher illegale Angebote nicht mehr erkennen könnten. Daher sollte zumindest der Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln im Interesse der Arzneimittelsicherheit wieder verboten werden, meinte Schweim.
Gesamtes Apothekenwesen bedroht
Dies forderte auch Lutz Tisch, Geschäftsführer Arzneimittel-, Apotheken- und Berufsrecht der ABDA. Der Gesetzgeber habe mit dem Versand eine zweite Säule der Arzneimittelversorgung geschaffen, die zwangsläufig zum juristischen Vergleichsmaßstab für Anforderungen an Apotheken werde. Dies habe sich bereits bei der Entscheidung über Drive-in-Schalter und beim dm-Urteil ausgewirkt. Die daraus resultierende Beliebigkeit der Abgabestellen mache auch die Apothekenpflicht für die Patienten nicht mehr erlebbar. Mittelfristig stünden damit die Normen der Apothekenbetriebsordnung zur Disposition, weil viele dort formulierte Anforderungen auf den Versandvorgang naturgemäß nicht anwendbar sind. Wenn die derzeitige Regelung des Versandes bestehen bleibe und der Europäische Gerichtshof den Apothekenfremdbesitz zulasse, seien Apotheken in der heutigen Form – auch in verminderter Zahl – nicht mehr vorstellbar. Denn dann könnten große Kapitalgesellschaften die Arzneimittelversorgung in beliebigen Abgabestellen organisieren. Die dabei erzielten Margen würden die Politik zur Freigabe der Preise bewegen, wobei die herkömmlichen Apotheken nicht bestehen könnten. Würde aber der Versandhandel verboten, könnten auch keine beliebigen Abgabestellen zugelassen werden, sodass auch Kettenbetreiber nur Apotheken im Sinne der Apothekenbetriebsordnung aufbauen könnten, neben denen unabhängige Apotheken weiter bestehen könnten.
Allerdings betrachtet Tisch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für den Fremdbesitz als unwahrscheinlich, zumal diese Regel in vielen EU-Ländern und für die weitaus meisten Apotheken in der EU gilt. Zudem sei die Komplexität des Apothekenrechts in allen Ländern zu beachten. In Ländern mit Apothekenketten gebe es andere Beschränkungen, insbesondere für die Niederlassung. Als weitere Variante könne der Europäische Gerichtshof irgendeine Entscheidung zwischen den üblicherweise diskutierten Extrempositionen treffen.
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