Aus Kammern und Verbänden

Arzneipflanzenforschung in der Schweiz

Namhafte Wissenschaftler berichteten auf einer Tagung der Schweizerischen Medizinischen Gesellschaft für Phytotherapie (SMGP), die am 30. und 31. Januar 2008 an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Wädenswil stattfand, über aktuelle Aspekte der phytopharmazeutischen Forschung. In einer Art Leistungsschau boten die Partner des Netzwerkes Phytopharmazie/Phytotherapie Schweiz den rund 150 Teilnehmern einen Einblick in ihre Tätigkeitsfelder. In der abschließenden Podiumsdiskussion mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Industrie wurde der Fortbestand traditioneller pflanzlicher Arzneimittel gefordert.

Prof. Dr. Michael Wink, Universität Heidelberg, referierte über "Pflanzliche Vielstoffgemische als evolutionärer Vorteil im Vergleich zu Monosubstanzen". Pflanzen haben im Laufe der Evolution auf die Produktion pharmakologisch wirksamer Sekundärstoffe gesetzt, um Pflanzenfresser oder Mikroorganismen abzuwehren. Angriffspunkte dieser Stoffe sind Proteine (z. B. Rezeptoren, Enzyme), Biomembranen, Hormone und DNA oder RNA. Vielstoffgemische sind offensichtlich besonders leistungsfähig in der gleichzeitigen Abwehr von Pflanzenfressern und Mikroorganismen, denn sie können zahlreiche makromolekulare Targets oder mehrere Stellen eines einzelnen Targets angreifen. Zudem können Organismen gegen Multitarget-Wirkstoffe schwerer Resistenzen entwickeln als gegen Monotarget-Wirkstoffe.

Viele Gesundheitsstörungen und Krankheiten sind komplexer Natur und betreffen eine Vielzahl von Proteinen, die man zum Teil noch nicht einmal kennt. Es ist anzunehmen, dass Multitarget-Wirkstoffe auch an solchen noch nicht bekannten Proteinen angreifen und so einen Teil ihrer Wirkung entfalten.

Multivalentes Wirkungsspektrum

Auch Prof. Dr. med. Reinhard Saller, Universitätsspital Zürich, betonte, dass Arzneipflanzenextrakte (Vielstoffgemische) ein multivalentes, breites Wirkungsspektrum besitzen und besser als Reinsubstanzen in der Lage sind, ein komplexes pathophysiologisches Geschehen therapeutisch zu beeinflussen. Die vielfältigen pharmakologischen Aktivitäten einzelner Inhaltsstoffe tragen zwar zur Wirksamkeit des Gesamtextraktes bei, doch ist letztlich der Gesamtextrakt in seiner ganzen Komplexität das Wirkprinzip (sog. emergentes Wirkprinzip).

Extrakt versus Reinsubstanzen

Prof. Dr. Ulrich Honegger, Bern, berichtete, dass der Hypericum-Extrakt Ze 117 in Tierversuchen vergleichbare biochemisch-pharmakologische Effekte wie synthetische Antidepressiva zeigte. Diese Effekte konnten aber weder für Hypericin noch für Hyperforin als Einzelsubstanzen beobachtet werden, sodass diese beiden Substanzen nicht als wirksamkeitsbestimmende Stoffe bezeichnet werden können. So gilt auch für Johanniskraut, dass der Extrakt als Vielstoffgemisch das wirksame Agens ist.

Der Extrakt ist der Wirkstoff

Auch in weiteren Referaten kam immer wieder klar zum Ausdruck, dass der Extrakt fast immer wirksamer ist als die einzelnen darin enthaltenen Stoffe. Dem steht die von Pharmakologen und Medizinern vertretene, von der pharmazeutischen Industrie und staatlichen Institutionen unterstützte Forderung gegenüber, mit Reinsubstanzen zu therapieren. So berichtete Prof. Dr. Rudolf Brenneisen, Universität Bern, dass seine Arbeitsgruppe Forschungsgelder für die Untersuchung eines Inhaltsstoffes der Zwiebel erhalten hat, der eine den Knochenabbau hemmende Wirkung zeigt. Jedem Phytopharmazeuten ist aber klar, dass viele andere Inhaltsstoffe der Zwiebel ebenfalls für diese Wirkung verantwortlich sein dürften.

High-Tech-Analyse von Vielstoffgemischen

Sowohl Dr. Andrew Marston, Universität Genf, als auch Prof. Dr. Matthias Hamburger, Universität Basel, gaben Beispiele, wie moderne analytische Kopplungsmethoden zur raschen Identifizierung und strukturellen Charakterisierung von Pflanzeninhaltsstoffen dienen können. Biologische Tests erlauben es, die pharmakologische Aktivität vom Rohextrakt über fraktionierte Extrakte bis zu einzelnen Inhaltsstoffen zu verfolgen, wobei es durchaus vorkommen kann, dass sich die Aktivität bei jedem weiteren Reinigungsschritt verringert. Hamburger stellte das HPLC-basierte Aktivitätsprofiling am Beispiel der Traubensilberkerze Cimicifuga racemosa vor. Weder der Extrakt noch die in ihm enthaltenen Cycloartenolaglyka zeigten bezüglich der Genexpression von MCF-7-Zellen östrogenartige Wirkungen.

Züchtung und Anbau

Die Kenntnisse der chemischen Zusammensetzung und der pharmakologischen Wirkmechanismen von Extrakten und ihren Wirkstoffen sind gemäß Hamburger notwendig, um rationale Züchtungsprogramme aufzustellen und den Anbau einer Arzneipflanze sowie die Verarbeitung ihrer Droge zu einem qualitativ hochwertigen Arzneimittel zu optimieren. Ein Beispiel für die Optimierung des Wirkstoffgehalts durch Selektion und Kultivierungstechniken gab Dr. Xavier Simonnet, Médiplant Conthey, mit Artemisinin in Artemisia annua.

Wirksamkeitsnachweis im Labor

Dr. Jürg Gertsch, ETH Zürich, befasste sich mit der Problematik, dass nicht alle Substanzen, die in vitro einen messbaren Effekt zeigen, auch physiologisch verfügbar sind, da sie beispielsweise abgebaut werden, bevor sie den Wirkort erreichen. Die Wirkstoffkonzentrationen in biologischen Testsystemen sind oft um den Faktor 1000 höher als die im Plasma gemessenen Konzentrationen. Am Beispiel der Immunstimulierung zeigte Gertsch, dass sich mit effizienten Testsystemen die relevanten molekularen Wirkmechanismen finden lassen.


Tagungsband

Der Tagungsband "Arzneipflanzenforschung in der Schweiz" kostet 50,- sfr plus Versandkosten und kann bei www.smgp.ch, "Herausforderung Arzneipflanze – Herausforderung Vielstoffgemisch" bestellt werden.

Klinische Studien – wozu?

Prof. Dr. Axel Brattström, Zeller AG Romanshorn, berichtete, welcher Aufwand erforderlich ist, um der europäischen Arzneimittelbehörde die Wirksamkeit eines Phytopharmakons zu beweisen. Unverhältnismäßig groß sei der Aufwand bei Extrakten, deren Indikationsgebiete sich aus der traditionellen Anwendung ableiten. Hier sieht Brattström auch das Dilemma der Phytotherapie: Einerseits werden aus regulatorischen Gründen klinische Studien durchgeführt, die keinen medizinischen Erkenntnisgewinn erbringen, andererseits werden Projekte mit neuen Extrakten oder neuen Arzneipflanzen erst gar nicht begonnen, da die Investitionen zu hoch sind.

Arzneibuch und TCM

Die Ansprüche an die pharmazeutische Qualität pflanzlicher Arzneimittel sind heute höher denn je. Dieses Arbeitsgebiet wird von der Fachgruppe Phytopharmazie an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wädenswil betreut. Tagungsleiter Prof. Dr. Beat Meier zeigte auf, wie die Extraktmonographien des Europäischen Arzneibuchs anhand von Extraktionsprofilen (Extraktzusammensetzung in Abhängigkeit von der Art des Extraktionsmittels) erarbeitet werden. Meier untersuchte auch Dekokte von Drogen der Traditionellen Chinesischen Medizin und fand, dass durch diese Zubereitungsart risikobehaftete Substanzen wie beta-Asaron in Acorus calamus und die Aglyka in Rhabarberwurzeln reduziert werden.

Arzneipflanzen haben Potenzial

Optimistisch klangen die Worte von Dr. Andrew Marston: Die Mehrheit der Weltbevölkerung vertraue auf pflanzliche Arzneimittel, und auch in Europa sei die Nachfrage steigend. Marston stellte noch wenig erforschte Arzneipflanzen vor, die aufgrund ihrer Wirksamkeit das Potenzial haben, in den nächsten Jahren auf den Markt zu kommen. So sind beispielsweise in Gentianella campestris (Feld-Enzian) und in Peucedanum ostruthium (Meisterwurz) Substanzen gefunden worden, die die Acetylcholinesterase hemmen und daher das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit bremsen könnten. Extrakte der Modepflanze Rhodiola rosea (Rosenwurz), die als Nahrungsergänzungsmittel im Handel sind, könnten als Mittel gegen Stress und Müdigkeit eine größere Bedeutung erlangen.

Podiumsdiskussion: Phytopharmaka vor dem Aus?

Die Tagung endete mit einer Podiumsdiskussion, bei der Fachleute des Gesundheitswesens über die sogenannte erleichterte Zulassung von pflanzlichen Arzneimitteln gemäß neuem Heilmittelgesetz diskutierten. Dabei legte Dr. Renato Kaiser dar, dass beispielsweise Kümmelölzäpfchen nur unter enormen Kosten als Arzneimittel zugelassen werden könnten, obwohl es sich bei Kümmelöl um ein traditionelles und gut erprobtes Arzneimittel handelt. Der zu erwartende Ertrag bei der Vermarktung dieses Präparates läge deutlich unter den Kosten für die Zulassung, sodass keine Firma diese Investition tätigen würde. Kaiser befürchtet, dass die derzeitige Auslegung des Begriffs "erleichterte Zulassung" entgegen den ursprünglichen Hoffnungen, die mit dem neuen Heilmittelgesetz verbunden waren, viele traditionell verwendete und wirksame Arzneimittel zum Verschwinden bringen. Um das Abdriften von Präparaten in den Graumarktbereich zu verhindern, forderte Saller eine realitätsbezogene Anpassung der Zulassungsanforderungen für pflanzliche Arzneimittel und für Präparate anderer komplementärmedizinischer Methoden.

Pflanzliche und andere komplementärmedizinische Arzneimittel stellen für Nationalrätin Marianne Kleiner (FDP, Appenzell-Außerrhoden) ein wichtiges Kulturgut dar. Auch Nationalrat Daniel Vischer (Grüne, Zürich) betonte, dass die Vielfalt an Heilmethoden gewahrt bleiben müsse. Er gab zu bedenken, dass es deutlich mehr unzufriedene schulmedizinisch als komplementärmedizinisch behandelte Patienten gibt. Er stellte die Frage, ob es richtig sei, dass der Staat die Verantwortung für die Produkte weitgehend übernimmt, und forderte eine Umkehr der Beweislast.

Privatdozent Dr. Marcel Mesnil, Generalsekretär des Schweizerischen Apothekerverbands pharmaSuisse, und Saller beklagten, dass den Medizinalberufen die Fach- und Entscheidungskompetenz im Bereich Medikamente immer mehr entzogen werde. Allgemein wurde für die komplementärmedizinischen Arzneimittel eine Verlagerung in die eigene Verantwortung gefordert.

Herbert Schwabl bestätigte als Vertreter der Hersteller, dass diese eine Zulassung ihrer Präparate als Arzneimittel wünschen. Dass die betreffende Behörde Swissmedic dieser Podiumsdiskussion fernblieb, war sehr bedauerlich.

Abschließend gab der Präsident der SMGP, Dr. med. Roger Eltbogen, klar zum Ausdruck, dass diese Tagung nicht eine einmalige Veranstaltung bleiben solle, sondern dass er sich in Zukunft regelmäßig Forschungstagungen auf diesem Niveau wünscht.


Dr. sc. nat. Beatrix Falch

0 Kommentare

Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.