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DIMDI-Workshop
Genomik und HTA – Zwischen Wissenschaft und Mythos
KÖLN (cs). Wie wirken sich die zunehmenden Möglichkeiten, mittels Genomtests Krankheitswahrscheinlichkeiten oder die Wirksamkeit von Arzneimitteln abschätzen zu können, auf das Individuum und die Gesellschaft aus? Diese Frage war Thema eines Workshops am 4. September in Köln, den das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Public Health Genomic (DZPHG), dem Public Health Genomics European Network (PHGEN), der Deutschen Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) und dem Landesinstitut für öffentlichen Gesundheitsdienst (LÖGD) durchgeführt hat.
Um die Folgen einer Innovation oder neuen Technologie auf die Gesundheit der Bevölkerung und das Gesundheitswesen abschätzen zu können, bedienen Wissenschaftler sich des so genannten Health Technology Assessments (HTA). Hierbei handelt es sich um ein wissenschaftlich standardisiertes Verfahren, das interdisziplinär unter Berücksichtigung ethischer und rechtlicher Aspekte aufgrund des vorhandenen Wissens Nutzen, Risiken, Auswirkungen und Kosten systematisch beurteilt und der Öffentlichkeit zugänglich macht.
Der interdisziplinäre Ansatz des HTA zum Thema Genomik spiegelte sich in der Breite der Referenten wider. Zu Beginn beleuchtete der Sozialethiker Prof. Dr. Peter Dabrock aus Marburg die ethischen Aspekte der Pharmakogenomik. Im Falle dieser neuen Technologie ist es nun erstmals möglich, bereits vor der breiten Etablierung die Basis für eine gesellschaftliche Akzeptanz im Umgang mit Daten aus Genuntersuchungen zu schaffen. Berücksichtigt werden dabei insbesondere die Zeit-, Sach- und Sozialdimensionen, also wann und in welcher Form Risiken zum Tragen kommen, und wie die sich daraus ableitenden Folgen innerhalb der Gesellschaft aufgenommen werden. Viele Befürchtungen zielen dabei auf eine mögliche Stigmatisierung von Menschen mit bestimmten genetisch detektierten Erkrankungen ab. Deshalb, so Dabrock, müssen die Menschen für die Teilnahme zur sozialen Kommunikation befähigt werden und ein neues Bild ihrer eigenen Lebensidentität entwickeln, da sie sich vielfach in einem Zustand derzeitiger Gesundheit und möglicher ferner Krankheit befinden. Dennoch handelt es sich nach der Einschätzung Dabrocks bei genetischem Wissen nicht um ein besonderes Wissen, da viele Eigenschaften der Ergebnisse denen anderer Biomarker entsprechen. Bei Tests mit einer sehr starken prädiktiven Aussagekraft, wie zum Beispiel Chorea Huntington, hat der Einzelne ein Recht auf intensive Beratung und Information im Vorfeld. Dabrock hält genetische Tests für eine sozialethische Verpflichtung des Individuums gegenüber der Gesellschaft, wenn einerseits dadurch hohe Kosten zukünftig vermieden werden können und andererseits eine Stigmatisierung nicht zu erwarten ist.
Psychopharmakogenetik: Gentests
Den Einfluss der Genomforschung auf die Behandlung psychischer Erkrankungen erläuterte Prof. Dr. Jürgen Fritze aus Köln. In vielen Fällen sind bei psychischen Erkrankungen Erblichkeiten zu beobachten. Dennoch gibt es bislang wenige fundierte und allgemein anerkannte Studien zur Behandlung bestimmter Störungen unter Berücksichtigung der genetischen Daten der Patienten. Zur Prädiktion möglicher Spätdyskinesen unter Antipsychotika könnte ein genetischer Test des Dopamin-D3 -Rezeptors dienen. Hier gibt es drei Varianten, den Ser-Ser-, den Ser-Gly und den Gly-Gly-Typ. Bei Patienten mit der Aminosäurekombination Gly-Gly werden bevorzugt spätdyskinetische Störungen beobachtet. Diesen könnte man durch die Auswahl eines Arzneimittels mit geringem Dykineserisiko entgegen wirken. Insgesamt hält Fritze den Einsatz von Gentests jedoch nur für vertretbar, wenn randomisierte Studien einen relevanten klinischen Nutzen nachweisen.
Gesundheitsbezogene Bevölkerungsdaten
Prof. Dr. Heike Bickeböller, Universität Göttingen, machte in ihrem Vortrag zu epidemiologischen Aspekten der Pharmakogenetik deutlich, dass Arzneimittelstudien, die innerhalb einer bestimmten Populationen – zum Beispiel in Asien – durchgeführt werden, nicht einfach auf andere Populationen – zum Beispiel in Europa – übertragen werden können. Die genetische Ausstattung weicht zum Teil deutlich voneinander ab. Aufgrund der genetischen Ergebnisse können innerhalb einer Studie in Europa unter Berücksichtigung der Erbinformationen der Probanden eindeutig Nichteuropäer erkannt und dies zur Beurteilung der Ergebnisse hinzugezogen werden. Diagnostische Tests können aus mehreren Gründen durchgeführt werden, dazu zählen Bestätigung einer Erkrankung, prädiktive Tests, Tests zur Reproduktionsberatung (z. B. ob eine bestimmte Erbanlage übertragen werden kann), Pränataltests oder Populationsscreenings. Wichtig sei, so Bickeböller, klar zu umreißen, welches Extra, welchen Vorteil bringt der Gentest gegenüber einem bereits etablierten Enzymtest.
Umweltinteraktionen mit dem Genom
Welche Rolle die Ergebnisse der Genomforschung auf die Gesamtbevölkerung und den Bedarf von Minoritäten haben wird, stellte Prof. Dr. Angela Brand aus Bielefeld dar. In der Vergangenheit bearbeitete der Fachbereich Gesundheitswissenschaften/Public Health vorwiegend die Vererbung monogenetischer Erkrankungen. Derzeit versucht man die neuen Erkenntnisse mit den bereits bekannten Biomarkern zu verknüpfen. In der Zukunft wird sich Public Health mit dem Zusammenhang genetischer und sozialer Faktoren für die Entstehung von Krankheiten beschäftigen. Die Grundlagen für diese Arbeit werden Datenbanken und die Populationswissenschaften sein. Eines der Hauptanliegen der Gesundheitswissenschaften wird die Integration des vorhandenen Wissens in verschiedene Bereiche unter dem Blickwinkel der Umweltinteraktionen mit dem Genom sein. Um beurteilen zu können, mit welchen Tests die dafür notwendigen Daten gewonnen und in welcher Form in Datenbanken zugänglich gemacht werden sollten, ist HTA ein unerlässliches Instrument. Ein sinnvoller Ansatz könnte nach Meinung Brands das Profiling alter Menschen sein, da sich hier neben der medizinischen auch eine die Umwelt und das soziale Umfeld sowie die Lebensgewohnheiten abbildende Anamnese erarbeiten ließe, die mit den genetischen Daten verknüpft als Abgleich für nachfolgende Generationen genutzt werden könnte.
Arzneimittelsicherheit – der Beitrag der Apotheker
Aus dem Blickwinkel der Arzneimittelversorgung beurteilte Constanze Schäfer von der Apothekerkammer Nordrhein den Einsatz von Gentests. Dabei differenzierte sie zwischen Tests, die zur Feststellung der Cytochrom-P-450-Ausstattung dienen und damit eine individualisierte Dosisfindung ermöglichen, und Tests, die zur Vermeidung massiver Nebenwirkungen bei gleichzeitiger beschränkter Wirksamkeit auf bestimmte Genträger zum Einsatz kommen. Für diese Anwendungsbereiche sieht Schäfer einen gewissen Bedarf sowie auch das Interesse, Gentests als Dienstleistung zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit zukünftig anbieten zu können, wobei kostengünstigeren, bereits etablierten Verfahren, die zu gleichen Ergebnissen führen, durchaus der Vorzug zu geben ist. Auch für sozialpharmazeutische Fragestellungen wie Pharmakologie, Pharmakoepidemiologie und Arzneimittelverbrauchsanalysen können genetische Daten die Public-Health-Bestrebungen ergänzend unterstützen.
Genomorientierte Diäten?
Das bislang noch relativ wenig berücksichtigte Gebiet Nutriogenomik stellte Dr. Bernhard Bührlen vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung vor. Die Nutriogenomik beschäftigt sich mit dem Einfluss der Gene auf den Metabolismus von Nahrungsmitteln, den Grundlagen einer gesunden Ernährung unter Beachtung der Wechselwirkungen zwischen Nahrung und Genom, und der Vorhersage von Wirksamkeiten bestimmter Zusätze in Bezug auf die Vermeidung ernährungsbedingter Erkrankungen. Zahlreiche der bioaktiven Wirkstoffe in Functional Food verfügen, ähnlich wie Arzneimittel, über ein Wirkungsspektrum. Die Ziele sind Wellness und primäre Prävention. Die Wirkstoffe reichen von sekundären Pflanzenstoffen über Lipide, Omega-3-Fettsäuren, Proteine und Bakterien bis hin zu Oligosacchariden. Im Gegensatz zu Arzneimitteln fallen Nahrungsmittel bislang nicht unter die Kostenerstattung der Krankenkassen, weshalb es derzeit keine Berücksichtigung von Nutriogenomik in einem HTA gibt.
Modellrechnungen
Neben den bereits eingangs erwähnten Aspekten eines HTA findet zusätzlich eine Entscheidungsanalyse statt. Dabei handelt es sich um ein mathematisches Verfahren. Welche systematischen Verzerrungen bei einer solchen Entscheidungsanalyse durch die genetische Heterogenität der Probanden oder Patienten zu erwarten sind, erklärte Prof. Dr. Uwe Siebert, Private Universität für Gesundheitswissenschaften, medizinische Information und Technik, Hall in Tirol. Anhand des so genannten Markov-Modells werden dabei die Wahrscheinlichkeiten für drei Zustände – gesund, krank, tot – und die jeweiligen Übergänge – von gesund nach krank, von gesund nach tot und von krank nach tot – durch Auswertungen von Bevölkerungsstatistiken und Studien bestimmt. Dann wird in Abhängigkeit eines Parameters – z. B. Alter oder genetische Ausstattung – verfolgt, wie sich die Wahrscheinlichkeiten auf die Zahl der Betroffenen auswirkt. Mit diesem Modell lässt sich zum Beispiel die Wirksamkeit von Arzneimitteln ermitteln. Wenn ein Arzneimittel nur bei Patienten mit einer bestimmten genetischen Ausstattung wirkt, so werden zunächst die Patienten, die nicht über diese Ausstattung verfügen, versterben. Der Rest jedoch wird lange Zeit von diesem Arzneimittel profitieren und die Sterberate wird absinken. In der Gruppe der Überlebenden reichern sich diejenigen an, die über die notwendige Genausstattung verfügen. Wird bei einer Studie lediglich die Genausstattung berücksichtigt, kann es zu einer Unterschätzung der Wirksamkeit kommen, wird dieser Faktor jedoch vernachlässigt, kommt es im Regelfall zu einer Überschätzung.
Pleiotropie und HTA
Dr. Hans-Peter Dauben, DIMDI, machte in seinem Vortrag zu Krankheitsentitäten und Verfahren deutlich, dass HTA unter anderem auch dazu dient, Politikern oder anderen Nichtmedizinern die Chancen und Grenzen von Medizin nahe zu bringen. Krankheit kann sowohl empirisch-phänomenal, also als Erkennen aufgrund ärztlicher Erfahrung, als auch ätiopathogenetisch als Kausalkette oder auch nosologisch mithilfe eines taxonomischen Ordnungssystems definiert werden. Durch die Erkenntnisse aus der Genomforschung zeigt sich, dass ein Gen für verschiedene Phänotypen und damit unterschiedliche Krankheiten verantwortlich sein kann. Hier spricht man von der Pleiotropie. Diese Pleiotropie ist weder empirisch-phänomenal noch ätiopathogenetisch zu erkennen. Lässt sich solch eine Pleiotropie jedoch identifizieren, kann es sein, dass ein Teil der Betroffenen durch die empirisch-phänomenal oder auch ätiopathogenetisch begründete Therapie geschädigt werden. Für diese Patientengruppe wird die Evidenz damit außer Kraft gesetzt. Diese pleiotropischen Phänomene können, da nie nur 100 Prozent Responder im Rahmen einer Studie ermittelt werden, fast immer die Frage nach neuen, anderen Therapieansätzen notwendig machen. Durch die Genomforschung werden diese zukünftig besser erkannt werden können. Für Dauben stellt sich deshalb die Frage, wie man in Zukunft den Non-Respondern in Studien als vermutliche Subgruppen besser gerecht werden kann.
Warum tun sich Gesundheitspolitiker so schwer?
Die Frage, warum sich Gesundheitspolitiker und andere Entscheidungsträger im Gesundheitswesen mit den Fragen der Pharmakogenomik so schwer tun, erläuterte Dr. Helmut Brand vom Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst (LÖGD) unter Einbeziehung der einzelnen Beiträge der Referenten in dieser Veranstaltung. Das Thema ist mehr als verwirrend und kaum ein Politiker oder Entscheidungsträger ist davon persönlich betroffen. Neben den ethischen Bedenken spielen häufig parteipolitisch-ideologische Komponenten oder auch die Frage nach der Wiederwahl eine gewisse Rolle. Zudem hat es in Deutschland eine große Tradition, Risiken besonders herauszuheben und dabei die möglichen Chancen aus dem Auge zu verlieren. Von HTA erwarten sich Politiker einer persönlichen Entscheidung enthoben zu werden. Gesellschaftlich wäre hingegen, so Brand, eine klare Risikokommunikation und Darstellung der Nutzen für die öffentliche Gesundheit, eine mutige und ehrliche Argumentation unter Berücksichtigung ethischer Fragestellungen zur Genomik wünschenswert.
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