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Nahe dem fünfzigsten Jahrestag der Contergan-Einführung wird darüber gestritten, ob es sich bei dem vom WDR produzierten Zweiteiler "Eine einzige Tablette" um eine Dokumentation oder einen fiktionalen Film handelt. Auf Gerichtsbeschluss darf der zunächst verbotene Beitrag nun doch ausgestrahlt werden, weil – so die Richter – der mündige Bürger sehr wohl zu unterscheiden wisse. Ob er jedoch den Arzneimittelskandal, als der die Contergan-Tragödie vorrangig angesehen wird, auch richtig beurteilen kann, bleibt eine Frage. Findet man doch in den die "fiktionale Dokumentation" begleitenden Zeitungskommentaren Vieles, was auf Unkenntnis der damaligen Situation des Arzneimittelmarkts schließen lässt.
Ende 1957 kam Thalidomid auf den Markt. Es gab noch nicht unser heutiges Arzneimittelgesetz, keine Packungsbeilage, und die wenigen damals üblichen Tierversuche waren nur bedingt brauchbar. Nicht nur bei uns, in der ganzen Welt hat sich diese Situation nach und durch Contergan grundlegend geändert.
Der Hersteller Grünenthal vermarktete Contergan als frei verkäufliches Arzneimittel und pries es als Innovation. Nicht ganz zu Unrecht, denn Contergan war das erste bromfreie Schlaf- und Beruhigungsmedikament ohne größere Nebenwirkungen. Bis 1961 war es eine häufig benutzte Arznei, schätzungsweise 700.000 Bundesbürger griffen täglich dazu. Da Contergan unter anderem auch gegen die typische, morgendliche Schwangerschaftsübelkeit in der frühen Schwangerschaftsphase half, wurde es von Ärzten und Apothekern gezielt gerade Schwangeren empfohlen.
Im Hinblick auf seine Nebenwirkungen galt Thalidomid als besonders sicher – und war und ist es auch heute noch. Denn für die Therapie ist bekanntlich nicht so sehr die absolute Wirksamkeit eines Arzneimittels interessant, sondern seine therapeutische Breite: Je größer die therapeutische Breite, umso sicherer ist das Arzneimittel.
Thalidomid zeichnet sich durch eine hohe therapeutische Breite aus. Mit Contergan konnte man sich praktisch nicht das Leben nehmen. Doch zeigte Thalidomid auch, dass durch das Kriterium therapeutische Breite nicht die ganze Sicherheit abgedeckt ist. Contergan führt – innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft eingenommen – zu schweren Fehlbildungen (Dysmelien) oder sogar Fehlen (Aplasien) von Gliedmaßen und Organen der Kinder. Weltweit kamen zwischen 1957 und 1961 etwa 12.000 Kinder mit entsprechenden Schäden zur Welt, davon schätzungsweise 5000 in Deutschland.
Der Zusammenhang zwischen der Häufung fehlgestalteter Neugeborener und der Einnahme von Contergan wurde vom Kinderarzt und Humangenetiker Widukind Lenz "relativ" frühzeitig entdeckt, begünstigt durch den Umstand, dass die Fehlbildungen sofort bei Geburt erkennbar waren.
Ganz anders ist dies bei Diethystilbestrol (DES), einer anderen, heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Arzneimittelkatastrophe. DES ist ein synthetisches, östrogenes Hormon, das zwischen 1940 und 1971 vorwiegend bei Problemschwangerschaften, also gegen das Risiko eingesetzt wurde, ein Kind zu verlieren. Sein Wert hierfür war weltweit anerkannt. Erst 40 Jahre nach der Einführung wurden bei den Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft mit DES behandelt worden waren, erstmals Tumore im Urogenitaltrakt entdeckt und mit DES in Verbindung gebracht. Im Gegensatz also zur Contergan-Tragödie, bei der die Missbildungen sofort bei der Geburt erkannt wurden, entstanden bei der DES-Tragödie die Veränderungen erst mit der Pubertät oder wurden erst zu diesem Zeitpunkt erkannt.
Die Geschichte des DES wie auch die der verheerenden Thalidomid-Katastrophe illustrieren eine bestimmte Art von Arzneimittelrisiko, welches zwar extrem selten, aber niemals völlig auszuschließen ist. Trotz aller Fortschritte in der Pharmazie und völlig veränderter Kontrollmechanismen bei der Entwicklung von Arzneimitteln und ihrem Einsatz am Menschen gilt diese Erkenntnis auch in Zukunft weiter.
Erstaunlicherweise verschwand der Wirkstoff Thalidomid trotz der Contergan-Katastrophe niemals aus der Wissenschaft, sondern wurde weiter an Tieren erprobt und getestet. Und im Jahre 1964 fand der israelische Hautarzt Jacob Sheskin, der einer Lepra-Patientin Contergan aus Restbeständen verabreichte, dass sich ihre Geschwüre am nächsten Tag deutlich zurückgebildet hatten. Bedingt durch diese Entdeckung wird Thalidomid heute vor allem in südamerikanischen Ländern wie Kolumbien und Brasilien gegen die Lepra-Krankheit verwendet, und es wird auch in Deutschland mit der Substanz wieder experimentiert – als mögliches Mittel gegen Knochenkrebs und Aids. Unter strenger Beachtung seines Anwendungsverbots in der Frühschwangerschaft ist Thalidomid zurzeit in den USA, Australien, Neuseeland, der Türkei und Israel zugelassen.
Aus der Contergan-Tragödie wurde viel gelernt. Leider vermittelt sie uns aber auch eine Erkenntnis, die zwar schwer verständlich, aber eine unabänderliche Realität ist: Jede Anwendung eines Medikaments ist ein nie endendes "Experiment".
Prof. Dr. med. Klaus Heilmann beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Risikoforschung, Krisenmanagement und Technikkommunikation. In der DAZ-Rubrik "Außenansicht" greift Heilmann Themen aus Pharmazie, Medizin und Gesellschaft aus Sicht eines Nicht-Pharmazeuten vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen auf.
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