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DAZ aktuell
Europa braucht eine Verfassung
Gegen Bürokratie, für Subsidiarität
MERAN (bra). Aus tiefer Überzeugung ist er pro Europa, für die europäische Union – Dr. Erwin Teufel, der ehemalige Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg. Aber gerade deshalb ist er auch für die baldige Einigung auf eine europäische Verfassung, die im Sinne des Subsidiaritätsprinzips Zuständigkeiten regelt und verbindlich eingrenzt, damit sich "Brüssel" in der Wahrnehmung der Menschen nicht immer mehr als "fernes, bürokratischen Monster" darstellt.
In seinem Festvortrag zu Beginn der Meraner Fortbildungswoche der Bundesapothekerkammer, die am letzten Sonntag begann, mahnte Teufel an, die Erstarrung der Europapolitik zu überwinden, die sich breit gemacht hat, nachdem Frankreich und die Niederlande den europäischen Verfassungsentwurf – den Teufel mit erarbeitet hatte – per Volksentscheid abgelehnt haben. Im Blick auf Europa stellen sich, so Teufel, bei vielen Bürgern zwei kontroverse Empfindungen ein.
Einerseits habe der Einigungsprozess Europa das Ende einer langen Geschichte mit immer wieder aufflammenden Kriegen zwischen den Nationalstaaten beschert. Zuvor war in Europa "jede Nachkriegszeit zugleich Vorkriegszeit" – so Teufel. Hinter den 14 Millionen Toten des Ersten und den 50 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs (um nur die letzten Kriege zu erwähnen) stehen Schicksale der Toten, aber auch von Familien und Freunden. Immerhin: "Deutschland und die Europäer haben aus ihrer Geschichte gelernt" – so Teufel. Churchills Forderung nach Vereinigten Staaten von Europa, bei denen Deutschland und Frankreich vorangehen müssten, habe Gestalt angenommen – zuerst in der Montanunion, dann der Europäischen Union, die die deutsche Westorientierung unter Adenauer zur Voraussetzung hatte. Vor diesem Hintergrund dränge sich auf, sich aus Überzeugung als Europäer zu bekennen.
Andererseits sei zu konstatieren, dass inzwischen nach einigen Befragungen weniger als 50% der Befragten der Europäischen Union zustimmen. Vor gut zehn Jahren habe es noch Zustimmungsraten von 70 bis 80% gegeben. Das müsse nachdenklich stimmen – besonders weil der Einigungsprozess (von zunächst 6, dann 8, dann 15, dann 25 und jetzt 27 Staaten) insgesamt "unglaublich erfolgreich" gewesen sei. Das gilt – so Teufel – auch für die Integration der osteuropäischen, ehemals kommunistischen Staaten, die eine unglaubliche Anpassungsleistung zustande gebracht hätten – vom Kommunismus zum Rechtsstaat, von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft.
Viele Bürger nehmen Europa nur als fernes, zentralistisches und undemokratisches Gebilde wahr. Übersehen werde dabei, dass inzwischen 50% aller deutschen Gesetze (im Bereich der Wirtschaft sogar 70%) nur europäische Vorgaben umsetzen. Viele Berufsstände – so auch die Bauern und Apotheker – fühlten sich fälschlich lange Zeit von "Europa" nicht betroffen. Bei vielen Regelungen müsse man sich in der Tat fragen, ob sie auf europäischer Ebene geregelt werden müssten.
Teufel machte deutlich, dass bislang auf europäischer Ebene entgegen landläufiger Vorstellungen nicht das Europaparlament Gesetzgeber sei. Es spiele nur eine "Rolle am Rande" – sogar beim Haushalt. Das Sagen haben unmittelbar die 27 europäischen Regierungen: "Europäische Gesetzgeber sind die europäischen Staats- und Regierungschefs", für die einzelnen Sachgebiete sind es die 27 Finanzminister, Gesundheitsminister etc. Ein nationaler Umweltminister zum Beispiel, der im nationalen Kabinett mit einem Vorhaben gescheitert sei, habe beste Chancen, seine abgeblitzte Vorstellung über die Brüsseler Bande hinter verschlossenen Türen mit der ausgehandelten Rückendeckung gleichgesinnter Ressortkollegen aus den anderen Ländern zur Europäischen Vorschrift zu machen, die dann überall national umgesetzt werden müsse: "Eine Hand wäscht die andere".
Verfassung bringt Fortschritt?
Eine europäische Verfassung könnte diese unerfreuliche Situation nach Teufels Ansicht bessern. Die Räte der Minister (und Regierungschefs) müssten nach dem vorliegenden Entwurf öffentlich tagen. Damit seien bereits 50% der unsinnigen Entscheidungen vermeidbar.
Durch die Verfassung solle auch das Europaparlament – als zweite Kammer neben den Räten – zum gleichberechtigten Gesetzgebungsorgan werden. Die Verfassung werde auch die Zuständigkeiten klar regeln. Dass jeder nationale Minister "nach Europa trägt, was er im eigenen Land nicht durchsetzen kann", wird ein Ende haben. Immerhin seien 90% der europäischen Regelungen bislang Folge von nationale Initiativen.
Die Lösung heißt "Subsidiarität"
"Subsidiarität", dieses "fürchterliche Wort für eine großartige Sache", so Teufel, stamme aus einer päpstlichen Enzyklika, sei aber inzwischen Allgemeingut geworden.
Es besage, dass jeder zunächst für sich selbst zuständig sei; dass nicht-staatliche Organisationen vor staatlichen den Vorrang haben sollten; dass das ursprünglichere Recht bei der jeweils kleineren Einheit liegt. Wer Kompetenzen auf höhere Instanzen verlagern möchte, sei beweispflichtig, dass es auf der niederen Instanz nicht geht.
Nach Teufel gibt es durchaus Bereiche, die man auf europäischer Ebene gemeinsam regeln müsse. Dazu gehören die Verteidigung, die Umweltprobleme (sofern sie grenzüberschreitend sind), die Großforschung und -technik (z. B. Airbus/EADS), die Wettbewerbsregeln des gemeinsamen Marktes. Von allem anderen aber sollte, so Teufel, "Europa die Finger lassen". Es lasse sich besser auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene regeln.
Die angestrebte Verfassung müsse die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten klar regeln. Nur weil es die europäische Verfassung noch nicht gebe, könne Europa an sich ziehen, was es wolle. Nur deshalb gebe es scheinbar nichts, wofür Europa nicht zuständig wäre.
Obwohl Europa im Gesundheitswesen nach den Römischen Verträgen eigentlich keine Zuständigkeit habe, reklamiert es derzeit, so ist Teufel zu verstehen, unter allgemeinen Gesichtspunkten (Wohl des Menschen, Wettbewerb) Kompetenzen, die ihm nicht zustehen.
Die Verfassung werde Europa Selbstbeschränkungen auferlegen, die bisher fehlen. Anstelle des halbjährlichen Wechsels im Ratsvorsitz würde es einen hauptamtlichen Ratsvorsitzenden geben, der auf zweieinhalb Jahre gewählt wird und einmal wiedergewählt werden kann. Der Kommissionspräsident würde vom Europaparlament gewählt. Auch die Aufgaben der europäischen Organe (z. B. des Europäischen Gerichtshofes) würden klar umschrieben.
"Europa eine Seele geben"
Wenn sich Europa im Bewusstsein der Bürger nicht als "fernes, bürokratisches Monster" darstellen wolle, sei es wichtig (mit Jaques Delors gesprochen), "Europa eine Seele zu geben". Die geistigen Wurzeln Europas lägen einerseits im griechischen Denken. Dort hat (aus der Mythologie kommend) die Wissenschaft ihren Anfang genommen. Eine zweite Wurzel habe Europa im römischen Staatsrecht. Ferner sei es – "im Guten wie im Schlechten" – vom monotheistischen Glauben der Juden und Christen geprägt. Wichtig seien auch die Fundamente, die in der Renaissance, im Humanismus gelegt worden seien.
Lange vor der geographisch-politischen Einheit habe sich Europa in der Musik und Geistesgeschichte etabliert. Auch die bürgerlichen Freiheiten als Vermächtnis der französischen Revolution dürfe man nicht vergessen.
Nur wer um seine Herkunft wisse, habe Zukunft – meinte Teufel. Theodor Heuss habe einmal gesagt, das europäische Haus sei auf drei Hügeln erbaut: Auf der Akropolis in Athen, auf dem Kapitol in Rom und auf Golgatha in Jerusalem. Besser, so Teufel, könne man es nicht ausdrücken.
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