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Vorbild für Absurdistan

Rezept- und apothekenpflichtige Arzneimittel, die Patienten irgendwo im Einzelhandel (oder an der Dönerbude oder im Eroscenter) bestellen und abholen können – nach einem möglicherweise im wörtlichen Sinn bahnbrechenden Urteil des OVG Münster soll das die schöne, neue Welt des bundesdeutschen Arzneiversorgungssystems sein. Deutschland als Vorbild für Absurdistan? Wenn die Politik nicht zeitnah notwendige Klarstellungen vornimmt, könnte es so kommen!

Konkret ging es, wie berichtet, um einen Bestell- und Abholservice für Arzneimittel, auf den sich die dm-Drogeriemarktkette mit einer niederländischen Versand-"Apotheke" in Venlo verständigt hatte. Tenor des Gerichtes, auf den Punkt gebracht: Der von der rot-grünen Bundesregierung erlaubte Arzneiversandhandel mit einer Auslieferung der Arzneimittel über die Post oder andere Logistiker berge mehr Gefahren (das Gericht sieht und beschreibt sie plastisch und ohne Beschönigung) als der Deal zwischen dem niederländischen Arzneiversender und dem dm-Markt. Da der Gesetzgeber Ersteres offensichtlich für akzeptabel halte, dürfe auch der beschriebene Deal nicht untersagt werden. Er übertrage nur auf Arzneimittel, was im allgemeinen Versandhandel inzwischen etabliert sei – dass sich die Kunden ihre Ware bei bestimmten Abholstationen ("pick-up"-Stationen) selbst abholen können.

Aus juristischer Perspektive besticht das Urteil durch die Chuzpe, mit der unterschiedliche Sachverhalte gleichgeschaltet werden. So werden die etablierten Usancen des allgemeinen Versandhandels auf den Versandhandel mit Arzneimitteln übertragen – als gäbe es da keinerlei Probleme. Dass (im Gegensatz zu normalen Konsumgütern) freier Handel mit Arzneimitteln aus guten Gründen grundsätzlich untersagt ist, also nur unter Erlaubnisvorbehalt gestattet ist, wird quasi vergessen. Außer Sichtweite liegt auch, dass die vielfältigen – und aus Sicht des Verbraucherschutzes unerlässlichen – Anforderungen, denen stationäre Apotheken genügen müssen, nicht zu halten wären. Dass die Mitarbeiter in den Vor-Ort-Apotheken – als Trottel der Nation? – auch weiterhin verpflichtet sein sollen, flächendeckend für alles zu sorgen, was aufwändig ist (z. B. Akutversorgung, Rezepturen, Home-Service am gleichen Tag, Nacht- und Notdienst), während Versandapotheken (evtl. im Zusammenspiel mit Abholstationen) absahnen, was einfach, kostengünstig und deshalb profitabel ist – das ist nicht vermittelbar und auch nicht zumutbar.

Aus rechtspolitischer Perspektive lässt sich das Münsteraner Urteil deshalb auch als Aufforderung an die Politik lesen, dem absurden Spiel rigoros einen Riegel vorzuschieben. Dies ist am ehesten durch ein Verbot des Versandhandels zu erreichen. Beschränkt auf verschreibungspflichtige Arzneimittel wäre dies nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 11.Dezember 2003 ohne viel Federlesen möglich. Das Urteil in Sachen "dm" – die Gefährdungen, die sich daraus ergeben – liefert mehr als nur eine Begründung.

Wenn der Gesetzgeber darauf nicht reagiert, wird er auch den Apotheken vor Ort nicht mehr die (sinnvollen) qualitätssichernden apotheken- und arzneimittelrechtlichen Anforderungen abverlangen können – zum Schaden der Patienten. Er wird zudem zu verantworten haben, dass sich das Versorgungsnetz der Apotheken erheblich ausdünnt. Es wird Regionen geben, bei denen die Bevölkerung für die Akutversorgung weite Wege auf sich nehmen muss. Überall wird der Wettbewerb zwischen den Apotheken geringer werden – der Qualität der Versorgung kann dies nur abträglich sein.

Dass Deutschland über ein gut verteiltes Netz von Apotheken verfügt, in dem auch die nicht lukrativen Versorgungsleistungen in erreichbarer Nähe erbracht werden, regelte sich bislang von selbst. Lücken in Netz wurden an der Relation Einwohner/Apotheke schnell erkannt und gestopft. Die Arzneimittelpreisverordnung, die allen Interessen Rechnung tragen musste, lieferte auch den Apotheken eine Kalkulationsbasis. Durch Höchstpreise, Zuzahlungsverzicht und das Eindringen dubioser "Apotheken"-Formen wird all das gefährdet.

Denn im Versand wird anders gerechnet, auf Gewinn von Marktmacht durch Dumping gesetzt. Wo Kapitalgesellschaften und Heuschrecken das Zepter übernehmen, gerät die dezentrale, flächendeckende Arzneiversorgung erst unter Druck und dann in Gefahr. Vor diesem Hintergrund ist interessant, dass DocMorris seine Ertrags- und Umsatzziele drastisch verfehlt hat; statt von 300 Mio. ist für 2006 nur noch von 150 Mio. Euro die Rede.

Auch der Arzneiversender "Zur Rose" läuft nach einer Meldung der Mitteldeutschen Zeitung (15.11.2006) "seinen Zielen hinterher". Trotz Umsatzverdopplung auf 22 Millionen Euro schreibt man auch 2006 – wie schon im Vorjahr – 3,8 Millionen Euro Verlust. Wie ist das unter normalen Finanzierungsbedingungen und bei legaler persönlicher Haftung eines Apothekers durchzuhalten? Die Frage müsste die Überwachungsbehörden interessieren – und sollte auch den Gesetzgeber nicht kalt lassen.

Dr. Klaus G. Brauer


DAZ 49/2006, S. 3


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