Arzneimittel und Therapie

Diabetes Typ 2: Erhöhte Mortalität unter Sulfonylharnstoffen

Es besteht schon lange der Verdacht, dass zumindest ältere Sulfonylharnstoffe das kardiovaskuläre Risiko und damit die Sterblichkeit bei Typ-2-Diabetikern erhöhen können. Jetzt kommt auch eine bevölkerungsbasierte retrospektive Kohortenstudie aus Kanada zu dem Schluss, dass eine Behandlung mit Sulfonylharnstoffen der 1. Generation und eine höher dosierte Glibenclamidtherapie mit einem erhöhten Sterberisiko einhergehen. Glibenclamid gilt als Mittel der 1. Wahl, wenn es um die Behandlung des Typ-2-Diabetes mit oralen Antidiabetika geht. Wir sprachen mit dem Endokrinologen und Internisten Prof. Dr. Christoph Rosak, Chefarzt am Krankenhaus Sachsenhausen in Frankfurt, über Hintergründe und mögliche Konsequenzen.

Seit über 30 Jahren wird diskutiert, ob Sulfonylharnstoffe das kardiovaskuläre Risiko für Typ-2-Diabetiker erhöhen können. Vor diesem Hintergrund wurde in der kanadischen Provinz Saskatchewan eine bevölkerungsbasierte retrospektive Kohortenstudie durchgeführt. Ausgewertet wurden Daten von 5795 Typ-2-Diabetikern, die durchschnittlich 4,6 Jahre mit oralen Antidiabetika behandelt worden waren. 120 dieser Patienten hatten noch ein Sulfonylharnstoffpräparat der 1. Generation wie Tolbutamid (Orabet®) erhalten, 4138 waren mit Glibenclamid (z.B. Euglucon®) und 1537 mit Metformin (z.B. Glucophage®) behandelt worden. Von der insgesamt eingenommenen Dosis der oralen Antidiabetika wurde ein Mittelwert gebildet und die Daten einer Gruppe mit niedriger Dosis (die Gesamtdosis unter dem Mittelwert) und einer Gruppe mit höherer Dosis (Gesamtdosis über dem Mittelwert) zugeordnet.

Unter Metformin-Behandlung war die Sterberate nicht erhöht, bei Sulfonylharnstoffen fand sich eine dosisabhängige Zunahme. Sulfonylharnstoffe der 1. Generation ließen in höherer Dosierung die Sterberate um das Doppelte ansteigen, das neuere Sulfonylharnstoffderivat Glibenclamid in einer Größenordnung von 30%. Diskutiert wird, ob Sulfonylharnstoffe mit einer höheren Selektivität für B-Zellen des Pankreas sich weniger ungünstig auf die Sterblichkeit auswirken. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass Sulfonylharnstoffe bei Patienten mit einem hohen kardiovaskulären Risiko nur mit Vorsicht eingesetzt werden sollten, zumal andere Klassen oraler Antidiabetika zur Verfügung stehen.

DAZ:

Herr Professor Rosak, ein wichtiges Ziel der Diabetes-Therapie besteht darin, Folgekrankheiten wie kardiovaskuläre Erkrankungen zu vermeiden. Welchen Beitrag können hier orale Antidiabetika leisten?

Rosak:

Die Behandlung von Typ-2-Diabetikern mit Metformin oder dem Insulinsensitizer Pioglitazon (Actos®) wird in der Langzeitanwendung in Bezug auf die Verminderung kardiovaskulärer Ereignisse positiv bewertet. Für die Gruppe der Sulfonylharnstoffe ist diese Frage nicht eindeutig geklärt. Eine kontroverse Diskussion läuft seit der Veröffentlichung der so genannten UGDP(University Group Diabetes Program)-Studie, die in den 70er Jahren durchgeführt wurde und in der gezeigt werden konnte, dass mit Tolbutamid behandelte Patienten in einem höheren Ausmaß an kardiovaskulären Ereignissen verstarben als jene, die nur mit Placebo behandelt waren (Meinert et al., Diabetes 19(2), 474–830 [1970]). In der United Kingdom Prospective Diabetes Study (UKPDS), die vor einigen Jahren abgeschlossen wurde, waren Patienten mit Herzerkrankungen von vornherein ausgeschlossen. Als Ergebnis dieser Studie zeigte sich, dass mit Sulfonylharnstoffen behandelte Patienten eine deutlich geringere Ausprägung mikrovaskulärer Ereignisse bei nicht signifikanter Reduktion von Myokardinfarkten aufwiesen (UK Prospective Diabetes Study Group. Lancet 352, 837–53 [1998]).

Da Sulfonylharnstoffe auch heute noch in Deutschland einen ganz wesentlichen Anteil bei der Behandlung von Typ-2-Diabetikern aufweisen, kommt der Klärung der Frage ihrer "kardiovaskulären Nebenwirkung" eine erhebliche Bedeutung zu.

DAZ:

Die kanadischen Forscher Scot H. Simpson und Kollegen haben in der jüngsten Ausgabe des Journals der Canadian Medical Association eine Studie veröffentlicht, die sich dieser Frage widmet und die neue Fragen aufwirft.

Rosak:

Auf der Basis der Saskatchevan Health Administration (Dose-response relation between sulfonylurea drugs and mortality in type 2 diabetes mellitus: a population based cohort study CMAJ, 17, 2006, 169) wurden 5795 Patienten in einer retrospektiven Auswertung identifiziert, von welchen 120 mit einem Sulfonylharnstoffpräparat der ersten Generation (Chlorpropamid, Tolbutamid), 4138 exklusiv mit Glibenclamid und 1537 mit Metformin therapiert worden waren. Die mittlere Beobachtungszeit betrug 4,8 Jahre bei Patienten mit niedriger Dosierung und 4,5 Jahre bei Patienten mit höherer Dosierung.

Die Auswertung ergab 1503 Todesfälle während des Untersuchungszeitraumes, von welchen 372 (24,8%) einem akuten ischämischen Ereignis (Myokardinfarkt) zuzuordnen waren. Patienten unter Sulfonylharnstofftherapie der ersten Generation (Chlorpropamid, Tolbutamid) hatten die höchste Mortalitätsrate mit 67,6 Todesfällen pro 1000 Personenjahre. Glibenclamid-therapierte Patienten wiesen mit 61,4 Todesfällen pro 1000 Personenjahre eine höhere Mortalität im Vergleich zu Metformin-therapierten Patienten auf, welche mit 39,6 Todesfällen pro 1000 Personjahren deutlich niedriger lagen. In der Feinauswertung zeigte sich, dass bei den mit Sulfonylharnstoff behandelten Patienten mit höherer Dosierung eine höhere Mortalitätsrate im Vergleich zu den Patienten mit niedriger Dosierung vorlag. Dieser dosisabhängige Zusammenhang war bei den mit Metformin therapierten Patienten nicht gegeben.

DAZ:

Wie ist die erhöhte Sterberate unter Sulfonylharnstoffen zu erklären?

Rosak:

Die Ursache für die höhere Mortalität unter Sulfonylharnstoffen im Vergleich zu Metformin könnte in dem Wirkungsmechanismus dieser Substanzgruppe liegen. Sulfonylharnstoffe binden sich an die so genannten Sulfonylharnstoffrezeptoren der B-Zellen des Pankreas. Diese Rezeptoren befinden sich in Assoziation zu den ATP-abhängigen-Kaliumkanälen, induzieren den Schluss dieser Kanäle und hemmen dadurch den Kaliumausstrom aus der Zelle. Dieser Vorgang bewirkt die Depolarisation der Zellmembran, die spannungsabhängigen Calciumkanäle öffnen sich, der Calciumgehalt im Zytoplasma der Zelle steigt und führt letztlich zur Insulinausschüttung. KATP-Kanäle sind ein allgemeines Regulationsprinzip der Zellmembran und sind in unterschiedlichen Zelltypen vorhanden. In der B-Zelle der Bauchspeicheldrüse regulieren sie die Insulinsekretion. Im Herzmuskel (Myozyt) verkürzen sie das Aktionspotenzial während einer Ischämie und sind am "ischemic preconditioning" beteiligt.

DAZ:

Was ist unter "ischemic preconditioning" oder ischämischer Präkonditionierung zu verstehen?

Rosak:

Darunter versteht man die Tatsache, dass bei wiederholtem Sauerstoffmangel des Herzmuskels sich dieser im Sinne einer Anpassung bzw. Toleranz für längere Ischämien anpasst und es somit im Rahmen eines Myokardinfarktes zu geringerer Ausprägung der Infarktfolgen kommt. Es handelt sich dabei um einen Schutzmechanismus. Durch das spezifische Bindungsverhalten der Sulfonylharnstoffe der ersten Generation und Glibenclamid an den KATP-Kanal, welches nicht nur an den B-Zellen sondern auch an den Myozyten stattfindet, wird das ischemic preconditioning behindert und somit dieser Schutzmechanismus beeinträchtigt. In der besprochenen Arbeit wird ein Zusammenhang der erhöhten Anzahl an Todesfällen unter Sulfonylharnstofftherapie und dabei besonders dosisabhängig unter Glibenclamid mit diesem spezifischen pharmakoneigenen Effekt der negativen Beeinflussung des ischemic preconditioning hergestellt.

DAZ:

Welche therapeutischen Alternativen stehen zur Verfügung?

Rosak:

Sulfonylharnstoffe wie Gliclazid (Diamicron® Uno) oder Glimepirid (Amaryl®) weisen diese negative Eigenschaft, die den Sulfonylharnstoffen der ersten Generation und Glibenclamid anhaftet, nicht auf (Klepzig et al., Eur. Heart J. 20, 439–446 [1999], Moncanu et al., Circul. 102, 288 [2000]). Ähnliches gilt auch für das Glinid Nateglinid (Starlix®). Hier sind also Alternativen zu den Sulfonylharnstoffen der ersten Generation und zu Glibenclamid gegeben.

Bei den nicht Beta-zytotropen Substanzen ist der Unterschied von Metformin zu den untersuchten Sulfonylharnstoffen in der hier besprochenen Studie aufgezeigt, außerdem hat Metformin in der UKPD-Studie eine Verminderung der kardiovaskulären Mortalität bei übergewichtigen Typ-2-Diabetikern ergeben. Beachtet werden müssen bei dieser Substanz die Kontraindikationen: Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz, Lebererkrankungen und Atemwegserkrankungen. Außerdem findet sich unter Metformineinnahme eine relativ hohe Nebenwirkungsrate (ca. 20%).

Für Acarbose wurde bei Patienten mit eingeschränkter Glucosetoleranz (IGT) in der Langzeitbeobachtung (Stop NIDDM-Studie) eine deutliche Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse nachgewiesen. Kontraindikationen für die Gabe von Acarbose bestehen praktisch nicht. Nebenwirkungen treten bei nicht sachgerechter Anwendung vermehrt auf.

Bei der Gruppe der Thiazolidindione, bzw. Insulinsensitizer wurde für die Substanz Pioglitazon (Actos®) in der Langzeitanwendung (Pro-Activ-Studie) ein positiver Nachweis in Bezug auf die Senkung der kardiovaskulären Mortalität erbracht. Allerdings bestehen für diese Gruppe der Thiazolidindione Kontraindikationen wie Herzinsuffizienz, Lebererkrankungen mit Transaminasenerhöhung u.a.

Vergessen werden darf in der Diskussion über die Wirkung von Antidiabetika nicht, dass ihr richtiger Einsatz und das erzielte metabolische Ergebnis für den Patienten von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung von Begleit- und Folgeerkrankungen sind. Speziell bei einer Erkrankung, wie dem Typ-2-Diabetes, dessen Therapie aufgrund der sich vermindernden Insulinsekretion und ändernden Insulinresistenzlage permanenten Änderungen unterworfen ist, ist es wichtig, die richtigen Pharmaka (einschließlich Insulin) sachgerecht und individuell auf den Patienten zugeschnitten anzuwenden.

DAZ:

Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Arbeit der kanadischen Wissenschaftler?

Rosak:

Folgende Konsequenzen sind zu ziehen:

  • Der breite Einsatz von Glibenclamid-Präparaten muss vor dem Hintergrund der dosisabhängigen erhöhten kardiovaskulären Mortalität neu überdacht werden. Insbesondere was ihren Einsatz bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und Herzerkrankungen anbelangt.
  • Die Krankenkassen müssen entscheiden, ob in den DMP-Programmen die Vorgabe vorzugsweise Glibenclamid als zytotrope Substanz anzuwenden noch aufrechterhalten werden kann und nicht andere zytotrope Substanzen ohne diese negative Eigenschaft vorgezogen werden sollten.
  • Ärzte und Patienten sollten über das Risiko von Glibenclamid-Einnahme bei Typ-2-Diabetikern mit koronarer Herzerkrankung informiert werden. Hier ist auch der Apotheker gefordert.

DAZ:

Herr Professor Rosak, wir danken Ihnen für das Gespräch! Das Interview führte Apothekerin Dr. Doris Uhl.

Eine Kohortenstudie aus Kanada kommt zu dem Schluss, dass eine Behandlung mit Sulfonylharnstoffen der 1. Generation und eine höher dosierte Glibenclamidtherapie mit einem erhöhten Sterberisiko für Typ-2-Diabetiker einhergehen. Wir sprachen mit dem Endokrinologen und Internisten Prof. Dr. Christoph Rosak über Hintergründe und mögliche Konsequenzen.

Herzschutz durch ischämische Präkonditionierung Sulfonylharnstoffe blockieren den ATP-abhängigen Kaliumkanal der B-Zelle des Pankreas und erniedrigen so das Membranpotenzial der insulinproduzierenden B-Zelle. Das führt dazu, dass verstärkt Calcium in die Zelle einströmt. Die erhöhte intrazelluläre Calciumkonzentration hat eine erhöhte Insulinfreisetzung zur Folge. Sulfonylharnstoffe können jedoch auch die Kaliumkanäle anderer Zellen blockieren, so beispielsweise Kaliumkanäle von Herzmuskelzellen und glatten Gefäßmuskelzellen. Das scheint nicht ohne Folgen zu bleiben. Fatale Auswirkungen werden auf den stärksten Schutzmechanismus des Herzens gegenüber einer Ischämie befürchtet, die so genannte ischämische Präkonditionierung.

Mit der ischämischen Präkonditionierung wird ein Vorgang beschrieben, der dazu führt, dass eine Ischämieperiode, wie sie zum Beispiel bei einem Angina-pectoris-Anfall auftritt, das Herz vor einem späteren Infarkt schützt. Das geschieht unter anderem dadurch, dass die Relaxation glatter Gefäßmuskelzellen den koronaren Blutfluss verbessert. Herzmuskelschäden fallen nach einem ischämischen Infarkt kleiner aus. Betroffene können sich nach einem Angina-pectoris-Anfall wie zuvor belasten, ohne dass Brustschmerzen auftreten. Bei der Durchführung einer koronaren Angioplastie führt die ischämische Präkonditionierung zu reduziertem Auftreten von Schmerzen und ST-Segment-Depression.

Vieles deutet darauf hin, dass ATP-abhängige Kaliumkanäle entscheidend an der Vermittlung der ischämischen Präkonditionierung beteiligt sind.

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