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DAZ Feuilleton
Naturforscher und Ärzte: Wissenschaft unter dem Patronat der Weisheitsgöttin
Nicht etwa eine naturwissenschaftliche, sondern eine archäologische Entdeckung hatte unter den Gelehrten so viel Beachtung gefunden, dass sie ihnen zur allgemeinen Identifikation auf der Stuttgarter GDNÄ-Versammlung dienen konnte: die Rekonstruktion der Athena Lemnia.
Athena Lemnia Der Archäologe Adolf Furtwängler (1853–1907) hatte aufgrund von antiken Schriftquellen und durch den Vergleich mit Vasenmalereien erkannt, dass zwei gleiche marmorne Köpfe in Dresden und Bologna, die man zuvor für Fragmente eines Jünglings oder einer Amazone gehalten hatte, die Göttin Athene darstellen und dass sie einer kopflosen Marmorfigur zuzuordnen sind, die ebenfalls in Dresden aufbewahrt wurde. Er sah in den Marmorfragmenten römische Kopien eines Meisterwerkes der griechischen Klassik, der Athena Lemnia des Phidias. Dieser bedeutendste griechische Bildhauer hatte das Standbild um 450 v. Chr. im Auftrag von Kolonisten in Lemnos für die Akropolis in Athen geschaffen. Da es sich um eine Bronzeplastik gehandelt hatte, war sie nach dem Verfall der heidnischen Kulte eingeschmolzen worden, denn Bronze war als Rohstoff immer begehrt.
Furtwänglers 1893 publizierte Rekonstruktion wurde so populär, dass sie um 1900 auf Vignetten und Exlibris häufig abgebildet worden ist. So verwundert es nicht, dass auch die GDNÄ das Motiv verwendete. Jeder Versammlungsteilnehmer in Stuttgart trug als Erkennungszeichen eine Anstecknadel mit dem Kopf der Athena Lemnia; zudem wurden Silber- und Bronzemedaillen mit demselben Motiv geprägt. Schließlich wurde noch ein Bronzeguss des etwas überlebensgroßen Porträts in ein Steinmonument eingearbeitet, das die Stadt Stuttgart zur bleibenden Erinnerung erhielt und das sie bis heute in ihrem Lapidarium in Ehren hält. Nur, um welche "Person" es sich bei dem Porträt handelt, ist mittlerweile in Vergessenheit geraten. Im Inventar des Lapidariums ist von einem "Arzt" die Rede.
Versöhnliche Geste einer streitbaren Göttin Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das Porträt der Athene männliche Züge trägt. Dies entsprach ganz ihrem "Charakter" und ihrer Rolle innerhalb der antiken Götterwelt. Sie war die Göttin der Weisheit, mit der nach damaliger Vorstellung insbesondere Männer gesegnet waren; sie lebte im Zölibat, was auch mancher griechische Philosoph für erstrebenswert hielt; und sie war eine kämpferische Natur. Üblicherweise wurde sie in kriegerischer Pose mit aufgesetztem Helm dargestellt. Die Athena Lemnia dagegen hielt ihren Helm in der rechten Hand und zeigte ihr unbedecktes Haupt mit den kurz geschorenen, in der Mitte gescheitelten Haaren. Sie trug ein Haarband, das bei dem kurzen Schnitt an sich überflüssig gewesen wäre und als Schmuck anzusehen ist. Eine friedlich gesonnene Athene mit weiblicher Note also – dies war schon den Schriftstellern der Antike aufgefallen.
Der Mensch – ein Mikrokosmos Ringsum den Kopf der Athene von 1906 läuft in griechischen Buchstaben die Inschrift: "ho anthropos mikros kosmos" – der Mensch ist ein kleiner Kosmos. "Kosmos" bedeutete den alten Griechen Welt, Schönheit, Ordnung, und zwar dies alles zugleich. Will sagen: In der Welt herrschen sinnvolle Gesetze, durch die sie so geworden ist, wie sie ist, und durch die sie auch weiterhin besteht. Eine solche Welt im Kleinen, ein Mikrokosmos, ist – nach einem Ausspruch des Aristoteles – jedes Lebewesen, da es sich nach seinen eigenen Gesetzen entwickelt, erhält und fortpflanzt.
Der Satz des Aristoteles dürfte um 1900 wohl so interpretiert worden sein: Der Mensch ist zwar ein Teil der Natur, in dem die Naturgesetze gelten, aber er ist mehr: ein System mit Eigenheiten und Besonderheiten, die man in der Natur nicht findet. In der Gegenwart schätzen die Wissenschaftstheoretiker die Sonderrolle des Menschen geringer ein, heben aber zugleich die besondere Stellung der belebten Welt innerhalb der Natur hervor. Dies hat Konsequenzen für die Methoden, Fragestellungen und Zielsetzungen der Wissenschaft vom Leben, und deshalb wurde der Begriff "Life Sciences" zur Abgrenzung gegenüber "Science" schlechthin geprägt.
Goethes Ratschlag an die Naturforscher Auf der Rückseite der Medaille von 1906 – und in dem Steinsockel des Stuttgarter Monuments – sind Verse von Goethe zu lesen: Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten; Nichts ist drinnen, nichts ist draußen: Denn was innen, das ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig öffentlich Geheimnis.
Goethe hatte diese Verse 1827 in seinem Gedichtband "Gott und Welt" veröffentlicht und dort zwischen seinen Lehrgedichten "Metamorphose der Pflanzen" und "Metamorphose der Tiere" platziert. Mit diesem Einschub sprach er die Leser direkt an, um sie zu "richtiger" Naturforschung zu ermahnen. Heute könnte wohl kaum ein Wissenschaftler mit dieser Belehrung etwas anfangen. Vielleicht könnte man den Sinn so zusammenfassen: Trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts bleibt die Natur ein Rätsel.
"Der Herrgott" von Stuttgart Zuletzt noch ein Wort zu dem Geschäftsführer des Stuttgarter GDNÄ-Versammlung, der die Medaille initiiert hatte. Es war Hermann v. Burckhardt (1847–1907), chirurgischer Chefarzt am Stuttgarter Katharinenhospital. Seine Kollegen hatten ihm den zweifelhaften Spitznamen "der Herrgott" gegeben, aber dennoch wegen seiner überragenden Fähigkeiten sehr geschätzt.
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