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Gewählt, aber nicht entschieden
Der Ausgang der Bundestagswahlen hat wohl alle Parteien - mit Ausnahme der Linkspartei/PDS - überrascht. Als echter Sieger kann sich kaum eine Partei fühlen, auch wenn sich insbesondere Bundeskanzler Gerhard Schröder in der Wahlnacht ganz anders präsentierte. Am nächsten Tag erhoben er und seine Genossen zwar weiterhin den Anspruch, stärkste Fraktion zu sein und daher die Regierungsbildung in die Hand zu nehmen. Allerdings machte sich Schröder nach der Sitzung des SPD-Vorstandes und Präsidiums rar. Auch SPD-Chef Franz Müntefering konnte keine Auskunft geben, was am Tag nach der Wahl auf dem Terminplan des Kanzlers stand. Die Presse musste sich damit begnügen, dass Schröder nur kurz in Siegerpose im Atrium des Willy-Brandt-Hauses auftrat - um einen Blumenstrauß anzunehmen.
Müssen sich FDP oder Grüne neu erfinden?
Fakt ist: Weder kann Rot-Grün einfach weiter regieren, noch reicht das Stimmenverhältnis für eine schwarz-gelbe Koalition. Eine große Koalition wird vielfach als lähmend erachtet, eine Ampel- oder "Jamaika"-Koalition lösen ebenfalls keine Begeisterungsstürme aus. Die Schnittmengen zwischen Grünen und Liberalen erschließen sich wohl den wenigsten spontan. Schon in der Gesundheitspolitik könnten die Auffassungen kaum unterschiedlicher sein. Man denke nur an die Modelle der Parteien zur Finanzreform der gesetzlichen Krankenversicherung:
Die FDP verfolgt die Ablösung durch eine rein private Krankenversicherung, während die Grünen für die Bürgerversicherung stehen. Aber auch aus den überparteiübergreifenden Verhandlungen zum GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) hatte sich die FDP vor gut zwei Jahren schnell verabschiedet. Dennoch gab es am Montag nach der Wahl erste Annäherungen. Während FDP-Chef Guido Westerwelle am Wahlabend noch erklärte, seine Partei werde die kommende Legislaturperiode auf jeden Fall in der Opposition verbringen, sah er einen Tag später bereits weitere Optionen. Das Ziel der Liberalen sei ganz klar eine schwarz-gelbe Regierung, betonte Westerwelle. Er könne nicht beurteilen, ob sich die Grünen neu erfinden wollen und eine solche unterstützen würden.
Die Suche nach Gemeinsamkeiten
In der CDU bemüht man sich noch stärker, Gemeinsamkeiten mit den Grünen zu finden. Denn vielen erscheint die "Schwampel"-Lösung ein klareres Signal für einen Neuanfang als die große Koalition. Frau von der Leyen betonte am vergangenen Montag, dass mit allen Parteien - außer der Linkspartei - Gespräche geführt werden sollten. Was die Forderung nach Senkung der Lohnnebenkosten, einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Themen Bildung und Innovation betreffe, gebe es durchaus Schnittmengen mit den Grünen, so die niedersächsische Ministerin. Sie dürfte in einer solchen Konstellation die besten Chancen haben, Ulla Schmidt auf dem Ministersessel nachzurücken.
FDP sagt Nein zur Ampel
Eine Ampel-Koalition mit SPD, FDP und Grünen ist noch unwahrscheinlicher als die "Jamaika-Koalition". Westerwelle machte zu Wochenbeginn deutlich: "Eine Regierungsbeteiligung in einer rot-grünen Koalition schließen wir kategorisch aus". Einen entsprechenden Beschluss fällte der Parteivorstand und das Präsidium gleich am Montag nach der Wahl. Für Westerwelle ist eines klar: Nicht Schröder hat vom Volk den Auftrag bekommen, die Regierung zu bilden, sondern Merkel. Ihre Einladung "zu konstruktiven Gesprächen auf Grundlage unseres Programms" werde man annehmen, erklärte Westerwelle. Am 20. September wollten sich Union und FDP in Berlin zu ersten Sondierungsgesprächen treffen.
Große Koalition: Wer gibt in der Kanzlerfrage nach?
So bleibt noch die große Koalition von SPD und Union. Einer Umfrage zufolge favorisieren die Deutschen eine solche Lösung. Doch auch hier steht in den Sternen, wie sich Merkel und Schröder einander annähern wollen, solange beide auf ihre Kanzlerschaft beharren. Möglicherweise wird eine Zusammenarbeit der beiden großen Parteien erst möglich, wenn ein ganz anderer sich als Kanzler zur Verfügung stellt - etwa der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulf (CDU) oder der im Mai abgewählte, ehemalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Peer Steinbrück (SPD). In einer großen Koalition stünden Schmidts Chancen nicht schlecht, Ministerin zu bleiben. Für von der Leyen bliebe in diesem Fall das Familienministerium. Schmidt kann zugute gehalten werden, dass sie bereits im Gesetzgebungsverfahren des GMG großkoalitionäre Erfahrungen hat sammeln können. Allerdings stand ihr damals noch Horst Seehofer als Widerpart in der Union gegenüber - ein Verhandlungspartner, den die Ministerin nach wie vor schätzt. Ein Jahr später hatte es sich Seehofer allerdings mit der eigenen Fraktion verscherzt und musste seine Wortführerschaft in gesundheitspolitischen Fragen aufgeben. Schmidt wäre daher auf die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitspolitikern der Union angewiesen.
Einige Tage wird es noch dauern, bis wir wissen, wie es weiter gehen wird in Deutschland. Das Gesetz sieht vor, dass der neu gewählte Bundestag spätestens 30 Tage nach der Bundestagswahl zu seiner ersten Sitzung zusammentritt. Der Kanzler wird dann - mit verdeckten Stimmzetteln - auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag gewählt.
Schluss mit den Machtspielchen!
Sicher ist derzeit nur, dass nichts sicher ist. Viele, die sich für die neue Legislaturperiode ein Ministeramt ausgerechnet haben, werden nun auf die Geduldsprobe gestellt. Ebenso jene, die noch hoffen, ihren Posten zu halten - von der Leyen und Schmidt sind da in bester Gesellschaft. Angesichts der Tatsache, dass derzeit noch jede denkbare Regierungskonstellation ein Stück weit "unmöglich" erscheint, könnte man auch spekulieren, ob nicht ein ganz anderer künftig die Richtung in der Gesundheitspolitik angibt. Sollte Ursula von der Leyen unter einer CDU-SPD-Regierung Familienministerin werden, müsste sich die Union ohnehin ein/e neue/n Kompetente/n für das Gesundheitsressort suchen. Wie wäre es mit einer Renaissance Horst Seehofers? Er wäre sicherlich ein interessanter Vermittler in einer großen Koalition. Er hat sich sowohl mit der Bürgerversicherung als auch dem Prämienmodell ausgiebig auseinander gesetzt, er hat Ideen, wie es weiter gehen könnte, wenn man keines der Konzepte in seiner Reinform möchte. Auch weitere Strukturreformen sind für ihn ein Muss - dieses Einsehen teilen sowohl die SPD als auch die Union, wenngleich sie dazu noch wenig Konkretes sagen.
Die Wähler haben den Parteien eine kniffelige Aufgabe gestellt. Die Gräben in der Gesundheitspolitik stehen dabei durchaus stellvertretend für andere Politikbereiche. Es bleibt zu hoffen, dass die Parteienvertreter in den kommenden Tagen und Wochen gewissenhaft nach einer Lösung suchen und das Volk dabei nicht aus den Augen verlieren. Die Menschen in Deutschland wollen eine handlungsfähige Regierung, eine, die sich Mühe gibt, einen breiten Konsens für die anstehenden Reformen zu finden. Jeder, der in die Regierung will, sollte seine etwaigen Animositäten gegen Vertreter des bislang vermeintlich "anderen" Lagers zurückstellen und sich darauf besinnen, Gemeinsamkeiten zu finden. Der Wahlkampf ist vorbei - und so sollten auch persönliche Attacken verschwinden. Soll sich die Politikverdrossenheit der Bevölkerung nicht noch weiter ausbreiten, müssen die Verhandlungen rasch und sachlich geführt werden. Die Menschen wollen wissen, wie es weiter geht. Machtspiele sind derzeit gänzlich fehl am Platz.
Kirsten Sucker-Sket
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