Arzneimittel und Therapie

Nicht mehr Selbstmorde durch SSRI

Depressionen sind bei manchen Patienten mit Selbstmordgedanken verbunden. Antidepressiva sollten die Neigung zur Selbsttötung eigentlich verringern. Für selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) gibt es jedoch Studien, die auf eine erhöhte Selbstmordgefahr bei Kindern und Jugendlichen hinweisen. Zwei große Metaanalysen untersuchten die Suizidgefahr bei Erwachsenen, die mit SSRI behandelt wurden.

Die unipolare Depression ist gekennzeichnet durch depressive Stimmung, Hoffnungs- und Hilflosigkeit, Gefühle von Schuld und Traurigkeit, geringe Selbsteinschätzung sowie Gedanken an Selbstschädigung und Selbsttötung. Bis zu 15% der Patienten begehen Selbstmord. Daher wird in Therapierichtlinien bei mäßiger bis schwerer Depression die Behandlung mit Antidepressiva empfohlen.

Allerdings stehen seit einiger Zeit Antidepressiva, vor allem die häufig verordneten selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (selective serotonin reuptake inhibitors, SSRI), unter Verdacht, bei empfänglichen Personen Selbstmordgedanken verstärken zu können. Hinweise darauf gab es aus randomisierten, kontrollierten Studien mit SSRI bei Kindern. Ob das Risiko für Selbstschädigung und Selbsttötung unter SSRI auch bei Erwachsenen steigt, wurde jetzt in zwei großen Metaanalysen untersucht.

SSRI bei unterschiedlichen Indikationen

Die erste Metaanalyse beurteilte den Zusammenhang zwischen Selbsttötungsversuchen und dem Gebrauch von SSRI unabhängig von der Indikation (also nicht nur bei Depression). Sie erfasste randomisierte, kontrollierte Studien, in denen ein selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer mit Plazebo oder einer aktiven Kontrolle (Nicht-SSRI) verglichen worden war. Die Datenbanken Medline und das Register kontrollierter Studien der Cochrane Collaboration wurden durchsucht und weitere Literatur durchforstet. Ausgeschlossen wurden ausschließlich in Abstract-Form veröffentlichte Studien, Cross-over-Studien und Studien mit weniger als einer Woche Beobachtungsdauer.

702 Studien erfüllten die Einschlusskriterien. Von ihnen machten 345 Studien mit 36.445 Patienten Angaben über mögliche Nebenwirkungen, wie versuchte oder vollendete Selbsttötung. Insgesamt wurde über 143 Selbstmordversuche – 119 verhinderte und 24 vollzogene Selbsttötungen – berichtet. Die Rate der Selbstmordversuche betrug insgesamt 3,9 pro 1000 Patienten und 4,9 pro 1000 Patienten mit Depression. Pro 1000 Patientenjahre fanden 18,2 Selbstmordversuche statt.

Doppelt so viele Selbstmordversuche

Im Vergleich zu Plazebo war das Risiko für Selbstmordversuche unter SSRI mehr als verdoppelt (Odds-Ratio 2,28). Dabei waren nur gescheiterte Selbstmordversuche häufiger (Odds-Ratio 2,70), erfolgreiche dagegen nicht (Odds-Ratio 0,95). Im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva stieg das Risiko für Selbstmordversuche unter SSRI nicht (Odds-Ratio 0,88). Im Vergleich zu anderen Behandlungen, also Psychotherapie oder anderen Antidepressiva außer trizyklischen, war das Risiko für Selbstmordversuche unter SSRI fast verdoppelt (Odds-Ratio 1,94). Unter einem selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer traten 5,6 Selbstmordversuche pro 1000 Patientenjahre mehr auf als unter Plazebo. Wegen der hohen Verordnungshäufigkeit von SSRI ist auch eine leichte Erhöhung des absoluten Risikos besorgniserregend.

Die Autoren vermuten, dass die Selbstmordrate nicht bei schweren Depressionen, sondern nur bei leichteren Depressionen und anderen Indikationen steigt. Erregung und Unruhe könnten hier vermehrt zu Selbstmordversuchen führen.

Ergebnisse nicht überbewerten

Die Aussagekraft dieser Metaanalyse muss aufgrund zahlreicher methodischer Einschränkungen kritisch bewertet werden:

  • 62% aller Studien erfassten unter 100 Patienten.
  • Die durchschnittliche Beobachtungsdauer betrug nur 10,8 Wochen.
  • Bei 357 Studien mit 51205 Patienten waren mögliche Selbstmordversuche überhaupt nicht dokumentiert.
  • Die Therapieabbruchrate war in Studien, in denen Therapieabbrüche dokumentiert wurden, mit 28,7% sehr hoch.

 

Plazebokontrollierte Studien, die der Zulassungsbehörde vorgelegt wurden

In einer zweiten Metaanalyse wurde untersucht, ob SSRI-Gebrauch bei Erwachsenen mit vermehrten Selbtmordgedanken oder -handlungen verknüpft ist. Hierzu wurden randomisierte, kontrollierte Studien erfasst, in denen selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer mit Plazebo verglichen worden waren. Diese Studien waren der britischen Arzneimittel-Zulassungsbehörde MHRA (Medicine and Healthcare Products Regulatory Agency) von den pharmazeutischen Unternehmen im Rahmen der Sicherheitsprüfung vorgelegt worden. Sowohl veröffentlichte als auch unveröffentlichte Studien wurden ausgewertet.

Möglicherweise mehr Selbstschädigungen als unter Plazebo

In 477 Studien mit weit über 400.000 Teilnehmern wurde über 16 Selbsttötungen, 172 nicht tödliche Selbstschädigungen und 177 Episoden von Selbstmordgedanken berichtet. Dabei gab es:

  • Keine Evidenz für ein erhöhtes Selbsttötungsrisiko (Odds-Ratio 0,85)
  • Schwache Evidenz für ein erhöhtes Risiko nicht tödlicher Selbstschädigungen (Odds-Ratio 1,57)
  • Keine Evidenz für ein erhöhtes Risiko für Selbstmordgedanken (Odds-Ratio 0,77)

In beiden Behandlungsarmen traten 39 Selbsttötungen pro 100.000 Patienten auf. Nicht tödliche Selbstschädigungen und Selbstmordgedanken waren jeweils zehnmal häufiger. Vermutlich wurden nicht tödliche Selbstschädigungen und Selbstmordgedanken in der Metaanalyse zu wenig erfasst. In der Allgemeinbevölkerung treten nämlich nicht tödliche Selbstschädigungen 30mal häufiger auf als Selbstmorde und Selbstmordgedanken fünfmal häufiger als Selbstschädigungen.

Größere und längere Studien sind nötig

Die Metaanalyse war nicht groß genug, um eine signifikante Änderung des Selbstmordrisikos unter SSRI zu zeigen. Weder ein günstiger noch ein ungünstiger Effekt von SSRI auf die Zahl der Selbstmorde konnten jedoch ausgeschlossen werden. Für vermehrte Selbstschädigungen von Erwachsenen, die mit SSRI behandelt wurden, gab es schwache Evidenz, für vermehrte Selbstmordgedanken keine Evidenz. Da die meisten Studien weniger als zehn Wochen Beobachtungsdauer hatten, kann nicht ausgeschlossen werden, dass kurzfristige Risiken durch einen langfristigen Nutzen der SSRI aufgehoben werden. Nutzen und Risiken selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer müssen deshalb in großen, langfristigeren Studien weiter überpüft werden.

Fazit für die Praxis

Der Autor des Editorials plädiert dafür, mäßige bis schwere Depressionen weiterhin mit Antidepressiva zu behandeln. Eine unbehandelte Depression kann nämlich noch problematischer sein. Sowohl bei trizyklischen Antidepressiva als auch bei selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern müsse man aber in der Frühphase der Behandlung damit rechnen, dass Selbstmordgedanken oder -handlungen induziert oder verstärkt werden können. Der Arzt hat den Patienten auf diesen möglichen Nebeneffekt hinzuweisen und ihn in der Frühphase eng zu überwachen. Familienmitglieder und Betreuer können unterstützend einbezogen werden. Der Patient muss vor einem plötzlichen Behandlungsabbruch gewarnt werden.

Susanne Wasielewski, 
Münster

Quelle
Fergusson, D., et al.: Association between suicide attempts and selective serotonin reuptake inhibitors: systematic review of randomised controlled trials. Br. Med. J. 330, 396 – 399 (2005). Gunnell, D., et al.: Selective serotonin reuptake inhibitors (SSRIs) and suicide in adults: meta-analysis of drug company data from placebo controlled trials submitted to the MHRA's safety review. Br. Med. J. 330, 385 – 388 (2005). Cipriani, A., et al.: Suicide, depression, and antidepressants. Br. Med. J. 330, 373 –374 (2005).

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