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Fortbildung
Risikofaktor unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Ein 62-jähriger Patient in Magdeburg war wegen schwerer Herzinsuffizienz von seinem Hausarzt zunächst mit einem ACE-Hemmer in normaler Dosis und später wegen unzureichender Wirkung zusätzlich mit täglich 100 mg Spironolacton behandelt worden. Nach anfänglichem Ansprechen verschlechterte sich sein Zustand dramatisch. Der Hausarzt veranlasste eine Blutuntersuchung, die eine Hyperkaliämie ergab. Er überwies den Patienten sofort zur – vermutlich lebensrettenden – Dialyse.
Was war passiert? Sowohl der ACE-Hemmer als auch der Aldosteronantagonist senkten die Kaliumionenausscheidung und führten zur Hyperkaliämie. In der RALES-Studie war zwar festgestellt worden, dass Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz besonders von der genannten Kombination profitieren, allerdings darf Spironolacton in dieser Kombination nur in einer Dosis von 25 mg gegeben werden.
Magdeburg-Hannover-Studie
Diesen Fall nahm das Dialysezentrum Magdeburg zum Anlass, in den folgenden 18 Monaten die Problematik lebensbedrohlicher Hyperkaliämien bei allen aufgenommenen Patienten zu untersuchen (Magdeburg-Hannover-Studie). Bei allen 44 Patienten, die in diesem Zeitraum aufgenommen wurden, war die lebensbedrohliche Hyperkaliämie durch die Behandlung mit einem ACE-Hemmer oder AT1-Blocker plus Spironolacton verursacht worden.
43 Patienten hatten Spironolacton in zu hoher Dosis erhalten. Zusätzlich erhöht wurde der Kalium-Blutspiegel bei vielen Patienten durch eine eingeschränkte Nierenfunktion und bei 34 Patienten durch einen Diabetes mellitus vom Typ 2.
Die Hyperkaliämie hatte für einige Patienten dramatische Folgen: Sechs Patienten mussten chronisch dialysiert werden, zwei Patienten starben. Nach Ansicht von Prof. J. C. Frölich, Hannover, war die Hyperkaliämie bei jedem Patienten vermeidbar.
Für unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) ist häufig die unzureichende Anwendung von Arzneimittel-Wissen verantwortlich. Frölich schätzt, dass insgesamt etwa 80% aller UAW vermeidbare Dosierungsfehler sind.
Wie häufig sind schwerwiegende UAW?
Aussagekräftige Studien zur Häufigkeit schwerwiegender UAW fehlen in Deutschland. In einer gemeinsamen Publikation mit dem Apotheker J. U. Schnurrer fasste Frölich die Studienergebnisse aus dem Ausland zusammen. Demnach erleiden 5,7% aller stationär behandelten Patienten schwerwiegende UAW, 30% davon vermeidbar.
4,8% aller Krankenhausaufnahmen beruhen ausschließlich auf einer UAW. Der Prozentsatz ist bei Älteren deutlich höher: Etwa jeder zehnte ältere Patient ist nur wegen einer schwerwiegenden unerwünschten Arzneimittelwirkung ins Krankenhaus gekommen. Schwieriger gestalten sich die Schätzungen im ambulanten Bereich. Sie reichen von schwerwiegenden UAW bei 5% bis hin zu 27% aller ambulant behandelten Patienten.
Und die Kosten?
Auf Deutschland übertragen sind bei ähnlicher Häufigkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen enorme Kosten zu erwarten: Allein im Krankenhausbereich dürften bei jährlich 16,5 Millionen stationären Patienten Kosten in Höhe von 3 Milliarden Euro anfallen, davon 900 Millionen Euro vermeidbar. Durch UAW, die zur Krankenhausaufnahme führen, dürften weitere 2,5 Mrd. Euro Kosten entstehen, davon 1,6 Mrd. Euro vermeidbar.
Metaanalyse aus den USA
In den USA gibt es nach den Ergebnissen einer 1998 veröffentlichten Metaanalyse aus prospektiven Studien 106 000 Arzneimitteltote pro Jahr. Dort betreffen tödliche unerwünschte Arzneimittelwirkungen 0,2% aller Krankenhauspatienten. Demnach ist der Arzneimitteltod die viert- bis sechsthäufigste Todesursache in den USA.
Vorzeigestudie aus Norwegen
Eine qualitativ hochwertige Studie zu Arzneimittel-bedingten Todesfällen im Krankenhaus stammt aus Norwegen. In der internistischen Abteilung eines Krankenhauses der Durchschnittsversorgung wurden die Patienten 2 Jahre lang prospektiv mit folgender Methodik untersucht: Bei der Krankenhausaufnahme und nach Tod im Krankenhaus wurde eine Blutprobe entnommen. 77% der Gestorbenen wurden autopsiert. Ein Gutachtergremium aus fünf Ärzten und einem Apotheker beurteilte, ob der Patient an seiner Krankheit oder durch ein Arzneimittel verstorben war.
Ergebnis: Von 13 992 aufgenommenen Patienten verstarben 732, und zwar 133 durch Arzneimittel. 75 Arzneimittel-bedingte Todesfälle konnten nur durch Autopsie und/oder postmortale Bestimmung der Arzneimittelkonzentration im Blut festgestellt werden. Übrigens hatten die behandelnden Ärzte nur acht Arzneimittel-bedingte Todesfälle gemeldet; das sind nur 6% der tatsächlichen Anzahl.
Die Situation in Deutschland
In Deutschland kann eine solche Studie schwerlich durchgeführt werden. Einerseits fehlt es an öffentlichen Geldgebern, andererseits ist die Autopsierate in deutschen Krankenhäusern viel zu gering (6 bis 8%). Nach Frölich können die norwegischen Ergebnisse durchaus auf Deutschland übertragen werden: Die Norweger verwenden im Prinzip dieselben Medikamente und lassen sogar einen großen Prozentsatz ihrer Mediziner in Deutschland ausbilden.
Demnach könnten auch in deutschen Krankenhäusern etwa 1% der aufgenommenen Patienten am Arzneimitteltod sterben. So kommt die – in der Presse mehrfach zitierte – Zahl von 58 000 Toten in den internistischen Abteilungen deutscher Kliniken zustande, von denen die Hälfte vermeidbar sein müsste. Niedriger dürfte der Anteil von Arzneimitteltoten in nicht internistischen Abteilungen sein. In Pflegeheimen dürfte die Todesrate durch UAW allerdings erheblich sein, befürchtet Frölich.
Konsequenzen
Klinische Pharmakologen suchen nach Strategien, um die Situation zu verbessern. In der Ausbildung hat sich schon etwas getan: Mit der neuen Approbationsordnung für Ärzte ist die klinische Pharmakologie kürzlich ein Schein-pflichtiges Fach geworden. Erstmalig müssen Medizinstudenten also lernen, mit Arzneimitteln umzugehen. Vorhandene Arzneimittel-Informationsdienste für Ärzte (z. B. ATIS-Niedersachsen) müssen ausgebaut werden.
Ärztliche Arzneiverordnungen im Krankenhaus könnten in Zukunft grundsätzlich über ein Computersystem erfasst werden. Solche CPOE-Systeme (Computerized Physician Order Entry) helfen Verordnungsfehler vermeiden. Das noch nicht fertiggestellte System Theraopt® berücksichtigt Lebensalter, Körpergewicht, Nieren- und Leberfunktion des Patienten, warnt vor Arzneimittelallergien und Kreuzallergien sowie vor Interaktionen.
Neben der Dosierung berechnet Theraopt® auch die Therapiekosten. Es schlägt beispielsweise bei Verordnung des nierengängigen Betablockers Atenolol an einen Patienten mit Niereninsuffizienz die Tagesdosis von 25 mg anstelle von 75 mg vor.
Quellen
"Erkennung und Vermeidung von unerwünschten Arzneimittelwirkungen", Vortrag von Prof. Dr. med. Jürgen C. Frölich, Institut für Klinische Pharmakologie der Medizinischen Hochschule Hannover, auf einer Veranstaltung der DPhG am 13. Januar 2004 in Münster. Schnurrer, J. U., Frölich, J. C.: Zur Häufigkeit und Vermeidbarkeit von tödlichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Internist 44, 889 – 895 (2003).
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Für Arzneimittelnebenwirkungen gibt es den korrekteren Begriff "unerwünschte Arzneimittelwirkungen" (UAW). Laut Definition der WHO versteht man darunter schädliche und unbeabsichtigte Reaktionen, die in Dosierungen auftreten, die beim Menschen zur Prophylaxe, Diagnose, Therapie oder zur Modifikation physiologischer Reaktionen üblich sind.
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