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Gesundheitspolitik
Ohne Korrektur verspielt die Regierung Glaubwürdigkeit
I.
Der Gesetzentwurf der CDU/CSU und FDP sieht vor, das im Rahmen des BSSichG zum 1. Januar 2003 in Kraft getretene "Gesetz zur Einführung von Abschlägen der pharmazeutischen Großhändler" (Artikel 11 des BSSichG) wieder aufzuheben.
Die Aufhebung (oder eine andere Änderung des BSSichG mit gleicher Wirkung) ist uneingeschränkt zu begrüßen; sie zieht die notwendige Konsequenz aus einer verfehlten Regelung.
Schon bei ihrer Verabschiedung war erkennbar,
- dass diese Regelung unausgegoren und unausgewogen ist,
- dass sie das behauptete Ziel (den Großhandel) verfehlt, dafür ein angeblich nicht gemeintes Ziel (die Apotheken) zusätzlich belastet,
- dass sie sowohl für das behauptete wie für das angeblich nicht gemeinte Ziel in ihrer Dimension maßlos überzogen sein würde, obwohl all dies vom BMGS und seinen Repräsentanten bis heute hartnäckig geleugnet wird (zumindest zum Teil auch wider besseres Wissen, wie sich ausweislich eines in der DAZ publik gemachten internen Papiers des BMGS gezeigt hat).
II.
Nach außen hin hat die Regierung durch Repräsentanten des BMGS gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber Apothekern und auch gegenüber zweifelnden Abgeordneten der Regierungsfraktionen immer wieder versichert, aus dem Großhandelsabschlag ergebe sich keine zusätzliche Belastung der Apotheken.
Die Apotheken würden "nur" durch die Erhöhung des Abschlages nach § 130 SGB V belastet – mit insgesamt 350 Mio. Euro (inkl. MwSt.). Dies ist – wie vorhersehbar war und wie die ersten vier Monate nach In-Kraft-Treten des BSSichG nun zeigen – falsch.
Die Entwicklung der ersten vier Monate dieses Jahres zeigt vielmehr, dass die Prognosen von Brancheninsidern (PHAGRO, Deutsche Apotheker Zeitung, ABDA) für Großhandel und Apotheken insgesamt (und insbesondere für die Apotheken allein) eher zu optimistisch waren:
- Da die faktische zusätzliche Belastung der Apotheken durch Erhöhung des Apothekenabschlages nach § 130 (Erhöhung von derzeit einheitlich 6 % auf bis zu 10 %) mit 350 Mio. Euro (inkl. Mehrwertsteuer) deutlich zu niedrig angesetzt war, ergibt sich aus der Belastung von Großhandel und Apotheken für die GKV eine Gesamtentlastung, die rund 200 Mio. über den angenommenen 950 Mio. Euro (600 Mio. inkl. MWSt. + 350 Mio. inkl. MWSt.), also bei 1150 Mio. Euro liegt.
- Die rechnerische Belastung des Großhandels (3 % des Apothekenabgabepreises, bezogen auf die verschreibungspflichtigen und GKV-erstattungsfähigen Arzneimittel) wird in der Hochrechnung etwas unter den angenommenen 600 Mio. Euro (inkl. MWSt.) liegen. Rund 80 % der Belastungen, von denen das BMGS und seine "Experten", und auf dieser Basis auch die Abgeordneten der Regierungskoalition (fälschlich) annahmen, der Großhandel könne, müsse und werde sie allein schultern, sind letztlich bei den Apotheken gelandet (80 % von angenommenen 600 Mio. = 480 Mio. Euro).
- Von dieser Gesamtentlastung der GKV in Höhe von rund 1150 Mio. Euro (ohne Herstellerrabatt) entfallen auf die Apotheken, hochgerechnet aus den Daten der ersten vier Monate, rund 1050 Mio. Euro (inkl. MwSt.) – also praktisch das Dreifache der angeblich politisch gewollten 350 Mio. Euro (inkl. MwSt.).
Der Gesetzgeber ist deshalb gefordert, die misslungene Regelung umgehend zu korrigieren.
III.
Nach den Regelungen des BSSichG werden die Großhandelsabschläge in Höhe von fast 600 Mio. Euro den Apotheken in Rechnung gestellt: die GKV kürzt über die Rechenzentren die fälligen Monatsabrechungen der Apotheken um die jeweiligen Beträge (3 % des Arzneimittelabgabepreises, bezogen auf die verschreibungspflichtigen und GKV-erstattungsfähigen Arzneimittel).
Neutral wären diese Kürzungen für die Apotheken nur geblieben, wenn der Großhandel den Apotheken zusätzlich zu bisher gewährten Einkaufsvorteilen weitere annähernd 600 Mio. Euro an Einkaufsvorteilen zukommen ließe, die diese dann (wie im Gesetz vorgesehen) an die GKV weiterreichen würden.
Zur Neutralisierung der Kürzungen in den Monatsabrechnungen hätten die einer Apotheke bisher gewährten Rabatte auf den regulären Großhandelsabgabepreis aber vom 1. Januar an für die verschreibungspflichtigen und erstattungsfähigen Arzneimittel um gut 3 Prozentpunkte erhöht werden müssen.
Dies zu erwarten war und ist jedoch vollkommen unrealistisch. Bei einer Umsatzrendite des pharmazeutischen Großhandels von in der Regel 0,5 % bis 1,5 % können den Apotheken nicht zusätzliche Nachlässe in Höhe von gut 3 % für die getätigten Umsätze gewährt werden – die Großhandlungen würden damit negative Ergebnisse einfahren und kurzfristig den Weg in die Insolvenz antreten.
Der Gesetzgeber ist deshalb gefordert, die misslungene Regelung umgehend zu korrigieren.
IV.
Eine Revision der misslungenen Regelung ist auch aus Gründen der politischen Hygiene notwendig.
Wenn man davon ausgeht, dass führende Repräsentanten des BMGS wichtige Papiere ihres Hauses kennen, muss man feststellen, dass die Zustimmung der Koalitionsabgeordneten und damit die Entscheidung einer Mehrheit des Bundestages für das BSSichG (hier speziell Artikel 11) durch Täuschung erschlichen worden ist – durch die bewusst falsche Aussage von Repräsentanten des BMGS, dass die Apotheken nicht durch Rabatte belastet werden könnten, die dem Großhandel zugedacht worden seien.
Bewusst falsch war die Aussage, weil die Fachleute im BMGS ausweislich eines internen Papiers sehr wohl davon ausgingen, dass auch der Großhandelsabschlag letztlich die Apotheken belasten würde.
Opfer dieser Täuschung ist auch Klaus Kirschner (SPD), der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses. Er hat in einer Antwort auf Briefe vieler Apotheker (guten Glaubens, wovon ich ausgehe) Mitte November behauptet, "durch die während der parlamentarischen Beratung am Gesetzentwurf angebrachten Änderungen" sei "nach Aussage des BMGS gewährleistet, dass von Großhandel und Herstellern zu erbringende Abschläge und Rabatte nicht auf die Apotheken abgewälzt werden können".
Nur: solche Änderungen gibt es nicht. Und selbst wenn es sie gäbe: sie sind ohne jede Wirkung geblieben – wie die faktische Entwicklung der ersten vier Monate dieses Jahres zeigt.
Der Gesetzgeber ist deshalb gefordert, die misslungene Regelung umgehend zu korrigieren.
V.
Um die Belastung der Apotheken an das angeblich beabsichtigte Maß (350 Mio. inkl. MwSt. für 2003) anzunähern, müsste Artikel 11 rückwirkend außer Kraft gesetzt werden.
Gleichwohl wird (hochgerechnet auf Basis der vorliegenden Zahlen aus den ersten vier Monaten) die Belastung der Apotheken durch den erhöhten Apothekenabschlag nach § 130 SGB V gut 200 Mio. Euro (inkl. MwSt.) höher als geplant liegen – gemildert allerdings dadurch, dass der Großhandel unter dem Druck der Apotheken und des Wettbewerbs aus seiner Umsatzrendite den Apotheken etwa 100 Mio. Euro über eine Erhöhung der Rabatte zur Verfügung gestellt hat.
Er hat dafür auf fast die Hälfte seiner schon vorher mit durchschnittlich rund 1 % sehr knappen Umsatzrendite verzichten müssen. Nicht wenige Großhandlungen dürften dadurch angesichts der verschärften Finanzierungsregeln (Basel II) in schwere See geraten.
Auch bei Wegfall der angeblich unbeabsichtigten Belastungen der Apotheken durch den Großhandelsabschlag nach Artikel 11 bleibt eine nahezu überfallartige Mehrbelastung der Apotheken bestehen: bis Ende 2001 betrug der Kassenrabatt nach § 130 SGB V noch 5 %, seit Anfang 2003 liegt bei über 8 % – das ist eine Erhöhung um über 60 %.
Es ist erkennbar, dass viele Apotheken nur noch die Möglichkeit sehen, darauf durch Arbeitsplatz- und Leistungsabbau und drastische Einschränkung von Investitionen zu reagieren. Ist das beabsichtigt? Will man so die "Präsenzapotheken" durch eine nachhaltige wirtschaftliche Schwächung politisch sturmreif schießen, um so den von der Regierungskoalition gewollten Versandapotheken zu erleichtern, sich zu etablieren?
Sind die Lasten im BSSichG "gerecht" verteilt, wie von der Regierung behauptet?
VI.
1. Der Pharmasektor wird insgesamt erneut überproportional getroffen – trotz der Versprechungen im Rahmen der Verabschiedung des Arzneimittelausgabenbegrenzungsgesetzes (AABG, das am 1. Januar 2002 in Kraft trat ), von weiteren Belastungen zunächst abzusehen.
Die Nullrunde, die anderen Bereichen im Rahmen des zum 1. Januar 2003 in Kraft getretenen BSSichG "verordnet" wurde und die sich für 2003 sogar das Bundeskabinett zumuten will, nimmt sich gegenüber den Maßnahmen, die dem Pharmasektor und insbesondere den Apotheken "aufgebrummt" werden, geradezu als Streicheleinheit aus. Insgesamt war ein Einsparvolumen von 1,7 Milliarden Euro geplant, 1,37 Milliarden davon sollten den Pharmasektor treffen.
2. Die Lastenverteilung innerhalb des Pharmasektors ist keinesfalls ausgewogen – was die öffentlich verlautbarten Absichten angeht, aber auch, wenn man sich die reale Lastenverteilung ansieht, wie sie – nachdem die Daten für ersten vier Monate des Jahres auf dem Tisch – inzwischen klar absehbar ist.
a. Wenn man die Wertschöpfung der Bereiche Pharmaindustrie und Distributionssektor (Großhandel und Apotheken) zum Maßstab nimmt, zeigt sich: Großhandel und Apotheken sind an der Wertschöpfung der Arzneimittel insgesamt nur mit knapp 27 % beteiligt, sie tragen aber fast 60 % der Belastungen, die das BSSichG der Branche aufbürdet.
b. Wenn man die Umsatzrenditen der Bereiche Pharmaindustrie und Distributionssektor (Großhandel und Apotheken) zum Maßstab nimmt, zeigt sich: Obwohl Apotheken und Großhandel drastisch geringere Umsatzrenditen als die Industrie aufweisen, werden sie etwa doppelt so stark belastet (990 Mio. versus 520 Mio. auf das Jahr bzw. 819 versus 420 Mio.)
Am 21. Mai 2003 fand vor dem Gesundheitsaus- schuss des Deutschen Bundestages eine Anhörung statt, bei der es um die Auswirkungen des Beitragssatzsicherungsgesetzes (BSSichG) ging, das seit Anfang des Jahres in Kraft ist. Konkret ging es vor allem um das von CDU/CSU und FDP eingebrachte "Erste Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Sicherung der Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung", in dem Union und FDP die rückwirkende Aufhebung des Großhandelsabschlages nach Artikel 11 BSSichG fordern. Dr. Klaus G. Brauer, einer der beiden DAZ-Herausgeber, war als Einzelsachverständiger geladen. Wir geben die vorher eingereichte schriftliche Stellungnahme in leicht veränderter Fassung wieder.
Der Einzelverständige Brauer legte die Zahlen einer Essener Apotheke vor. Im Schnitt der ersten vier Monate ist der Apothekenrabatt nach § 130 SGB V in dieser Apotheke auf 8,21 % gestiegen, also auf 2,21 Prozentpunkte mehr als in 2002 (in 2002: 6 %; in 2001 5 %). An Großhandelssrabatt zugunsten der GKV nach Artikel 11 BSSichG hatte die Apotheke in den ersten vier Monaten 2,14 % des GKV-Umsatzes dieser Apotheke abzuführen.
Die Apotheke führte also in den ersten vier Monaten 4,35 %-Punkte mehr Rabatt an die GKV ab als noch im 2002.
Rechnet man die 4,35 %-Punkte auf den GKV-Jahresumsatz der Apotheken in 2002 (24,22 Mrd. inkl. Patientenselbstbeteiligung) um, so ergeben sich durch das BSSichG 1053 Mio. Euro. als Zusatzbelastung der Apotheken.
Die Abweichung zwischen dieser Hochrechnung aus den Zahlen der Essener Apotheke (1053 Mio. Euro) und die Hochrechnung, die sich aus den Branchenzahlen der ABDA ergibt (1027 Mio. Euro), ist marginal; sie erklärt sich dadurch, das der Anteil höherpreisiger Packungen in der Essener Apotheke leicht über dem Durchschnitt liegt, die Rabattbelastung also etwas über dem Durchschnitt liegen muss.
Wenn der Einzelsachverständige Lauterbach in der Anhörung meinte, es könne nicht zu richtigen Zahlen führen, wenn man die Belastung einer Apotheke hochrechne, so irrt er sichtlich.
Natürlich sind Hochrechnungen auf Basis der Zahlen einer Apotheke nicht ungeprüft repräsentativ. Die vorgelegten Zahlen illustrieren aber, das die Branchenzahlen der ABDA durchaus plausibel sind.
Auf eine Frage der SPD-Abgeordneten Dr. Margrit Spielmann, sagte Lauterbach damals, es sei wegen der "Marktmacht der Apotheken ... schlicht und ergreifend unmöglich", dass der Großhandel den ihm zugedachten Rabatt letztlich "an die Apotheken weitergeben kann". "Wären solche Spielräume vorhanden, würden sie schon jetzt zugunsten größerer Gewinne [des Großhandels] genutzt" – so Lauterbach.
Die inzwischen vorliegenden, definitiven Zahlen der ersten vier Monate dieses Jahres zeigen, das der Chefberater der Ministerin die Realität offensichtlich gründlich falsch eingeschätzt hat. Brauer dazu während der Anhörung am 21. Mai 2003: Jedes Blumenmädchen wisse, das sie nur verschenken könne, was sie übrig habe. Ein Ökonom – ein Professor zumal – müsse wissen, dass Unternehmen im Wettbewerb nur so lange Boni vergeben könnten, wie sie noch ausreichend schwarze Zahlen schreiben.
Ein Branche wie der Pharmagroßhandel, die weniger als 250 Mio. Umsatzrendite pro Jahr erwirtschaftet (rund 1 %), kann nicht, ohne in eine Schieflage zu gelangen, 600 Mio. an zusätzlichen Boni verteilen – nur wenn dies möglich wäre, wäre der Großhandelsrabatt nach Artikel 11 BSSichG für die Apotheken zum durchlaufenden Posten geworden, der sie letztlich nicht belasten würde.
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