Nicht verkehrsfähig, trotzdem zu haben

Risiko: Nicotin-Beutel im Trend

Stuttgart - 09.12.2024, 17:50 Uhr

Sich Nicotin-Beutel zwischen Zahnfleisch und Ober- oder Unterlippe zu klemmen, ist ein Trend mit Risiken, der unter anderem auf TikTok kursiert. (Foto: Andrey Popov/AdobeStock)

Sich Nicotin-Beutel zwischen Zahnfleisch und Ober- oder Unterlippe zu klemmen, ist ein Trend mit Risiken, der unter anderem auf TikTok kursiert. (Foto: Andrey Popov/AdobeStock)


Seit sich unzählige junge Männer in TikTok-Videos kleine weiße Nicotin-Beutel in den Mund stecken, erlebt oral konsumiertes Nicotin auch hierzulande einen Boom. Verkehrsfähig sind die Produkte in Deutschland nicht – und trotzdem leicht zu bekommen. Wird sich das bald ändern?

Nicotin erobert wieder Schulhöfe und Studentenkneipen. Doch seine popkulturelle Ästhetik, die Heranwachsende seit Jahrzehnten mit einer verklärten Aura von Männlichkeit und Freiheit ködert, definiert sich nicht mehr ausschließlich über das Inhalieren von Rauch. In manchen Kreisen wird es zunehmend schick, sich weiße, erdnussgroße Nicotin-Beutel zwischen Zahnfleisch und Ober- oder Unterlippe zu klemmen, um sie nach 30 bis 60 Minuten wieder auszuspucken.

„Ist das ein Fasan? Ist es ein Falke? Nein, das ist ein kleiner Zuckersegler, der direkt auf meinem Unterdeck landet“, ruft ein junger US-Amerikaner in seinem TikTok-Video, während er sich ein Nicotin-Päckchen der Marke „Zyn“ hinter die Unterlippe schiebt. In sozialen Medien gehen tausende solcher Videos der sogenannten „Zynfluencer“ um die Welt. „Zyn“ gehört dem Tabakkonzern Philip Morris International, der beteuert, niemanden für die Videos zu bezahlen.

Viele Nutzer hören auf TikTok zum ersten Mal von den Produkten, probieren sie aus und werden zum Teil abhängig. Schätzungen zufolge nutzen eine halbe Millionen junge Amerikaner regelmäßig Nicotin-Beutel. In Deutschland haben die Suchanfragen nach Marken wie „Zyn“ laut „Google Trends“ in den vergangenen Wochen einen Höhepunkt erreicht.

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Nicht verkehrsfähig – und trotzdem zu haben

Die Nicotin-Beutel der Marken „Zyn“, „Lyft“ oder „Velo“ bestehen aus Nicotinsalzen, Trägerstoffen wie Cellulose und Aromen mit Menthol-, Kaffee- oder Fruchtgeschmack. Die Überwachungsbehörden in Deutschland stufen tabakfreie Nicotin-Beutel als neuartiges Lebensmittel ein. Doch weil Nicotin nicht als Lebensmittelzusatzstoff zugelassen ist, dürfen die Beutel nicht in Verkehr gebracht werden. Trotzdem bieten manche Kioske in deutschen Städten die Marken an - und falls nicht, kann man sich die Produkte in Internetshops bestellen und nach Hause liefern lassen.

Bei starken Varianten gelangt durch die Beutel mehr Nicotin ins zentrale Nervensystem als beim Rauchen einer Zigarette – mit einer nur leicht langsameren Anflutungsgeschwindigkeit. Das Suchtpotenzial könnte daher vergleichbar sein. Berichte über akute Nicotin-Überdosierungen per Beutel werden häufiger – allerdings ist noch kein Fall mit schwerem Ausgang bekannt.

Das Risiko für Krebs scheint Nicotin allein nicht zu erhöhen – anders als tabakspezifische Nitrosamine, die das Bundesinstitut für Risikobewertung in der Hälfte der verfügbaren Produkte fand. Für zwei dieser Stoffe ist der kausale Zusammenhang für eine krebserzeugende Wirkung nachgewiesen. Sie entstehen bei der Fermentation von Tabakblättern, aus denen das Nicotin teils gewonnen wird. Der Nitrosamingehalt einiger Nicotin-Beutel betrug aber etwa ein Hundertstel des Gehalts in Zigaretten - und im Gegensatz zu ihnen ist es möglich, sie Nitrosamin-frei herzustellen.

Es scheint klar, dass die Beutel weniger schädlich sind als Zigaretten. Für Raucher könnten sie daher eine Schadensbegrenzung darstellen, wenn sie dank der Beutel den Absprung vom Glimmstängel schaffen. Für Nichtraucher, Kinder, Jugendliche, Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Schwangere stehen laut BfR eher die Risiken im Vordergrund. Um diese bei Langzeitkonsum abschätzen zu können, fehlen jedoch groß angelegte und unabhängige Studien.

Millioneninvestments in neue Produktion

Sicherer könnten Nicotin-Beutel werden, wenn sie in die EU-Tabakproduktrichtlinie aufgenommen und dort reguliert würden. 2023 richtete das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung ein Schreiben an die Europäische Kommission, um eine Regulierung anzustoßen. Doch noch geht jedes EU-Land seinen eigenen Weg.

Auch die Tabakindustrie drängt auf eine Regulierung. In den USA, wo die Vermarktung von „Zyn“ und Co. legal ist, kündigte Philip Morris International im August 2024 an, für 600 Millionen Dollar eine Produktion für Nicotin-Beutel der Marke „Zyn“ aufzubauen.

Der Tabakriese möchte die steigende Nachfrage auch in Europa bedienen. „Die deutsche Politik verhindert seit Jahren, dass Nicotin-Beutel als schadstoffreduzierte Alternative für erwachsene Raucher zur Verfügung stehen“, sagte Torsten Albig von Philip Morris Deutschland gegenüber „Lebensmittelpraxis“. Unerwähnt ließ er, dass Umsätze für den Konzern nicht nur bei den Rauchern warten, die auf Nicotin-Beutel umsteigen. Sondern auch in einer neuen, durch TikTok motivierten Zielgruppe, die zu Dauerkunden werden könnten.


Marius Penzel, Apotheker
redaktion@daz.online


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