Gesetzgebungsverfahren zum Apotheken-Reformgesetz

„Expertenkreis“ um HAV-Chef Seyfarth legt Stellungnahme zur Apothekenreform vor

Berlin - 02.07.2024, 15:15 Uhr

(Foto: IMAGO / Ardan Fuessmann)

(Foto: IMAGO / Ardan Fuessmann)


Bereits im Februar hatte eine Autorengruppe aus dem Apothekensektor mit einem Diskussionspapier für Aufsehen gesorgt, in dem sie dafür warb, Lauterbachs Reformpläne als Chance zu begreifen. Nun legt der selbsternannte Expertenkreis um den hessischen Verbandschef Seyfarth nach: In einer eigenen Stellungnahme zum Apotheken-Reformgesetz wirft er die Frage auf, in welche Richtung sich das Berufsbild entwickeln soll – freier Beruf mit strenger Regulierung oder mehr Unternehmertum?

Die Apothekenbranche steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Mit seinem Entwurf eines Apotheken-Reformgesetzes (ApoRG) hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bereits einen möglichen Weg vorgezeichnet: mehr Prävention, weniger starre Vorgaben und PTA allein in einer Apotheke, sofern eine Approbierte oder ein Approbierter per Videoschalte erreichbar ist. Zudem soll die 3-Prozent-Marge in zwei Schritten auf 2 Prozent sinken, im Gegenzug das Fixum auf 9 Euro steigen und der Festzuschlag ab dem Jahr 2027 jährlich in Verhandlungen zwischen GKV-Spitzenverband und Deutschem Apothekerverband (DAV) neu ausgeknobelt werden.

Die ABDA sieht in den Plänen Licht und Schatten – einen Punkt hält sie jedoch für derart existenziell, dass sie die Reform so lange komplett ablehnen wird, bis dieser gänzlich aus dem Entwurf verschwunden ist: die Apotheke ohne Apotheker. Die Blockade der Standesvertretung stößt innerhalb der Apothekerschaft nicht auf ungeteilte Zustimmung. Einige Kolleginnen und Kollegen sprechen sich klar dafür aus, die einzelnen Aspekte des Entwurfs differenziert zu betrachten und den Austausch mit dem Ministerium und den Parlamentariern zu suchen, statt sich auf die Hinterbeine zu setzen.

In dieses Horn stößt nun auch ein selbsternannter Expertenkreis aus dem Apothekenwesen, der im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens zum Apotheken-Reformgesetz nun eine eigene Stellungnahme einreicht. Zu der Gruppe zählen der hessische Verbandschef Holger Seyfarth, der Apotheker und AWA-Herausgeber Reinhard Herzog, die Gesundheitsökonomen David Matusiewicz und Dominik Klahn, die Juristin Daniela Klahn und die Apotheker Ulrich Ströh und Björn Kersting. Sie hatten bereits im Februar ein Diskussionspapier vorgelegt, in dem sie dafür plädierten, Lauterbachs Reformpläne als Chance zu begreifen und dessen Ansätze aufzugreifen und fortzuentwickeln.

In ihrer Stellungnahme kritisieren die Autoren erneut, dass es der ABDA „an eigenen, mutigen und problemlösungsorientierten Vorschlägen“ mangele. Für die Apotheken vor Ort sei das „ein brandgefährliches Trägheitsmoment, welches wir hiermit überwinden möchten“.

Neue Aufgaben für Apotheken

Unter anderem begrüßen die Unterzeichner, dass die Apothekenteams dem Entwurf zufolge künftig neue Aufgaben übernehmen sollen, etwa beim Impfen, Testen und in der Prävention. „Allerdings ergibt das nur dann Sinn, wenn dem Fachkräftemangel vorher wirksam begegnet wurde“, betonen sie. Sämtliche Leistungen müssen aus ihrer Sicht zudem „unter evidenzbasierten Kosten-Nutzen-Aspekten angemessen vergütet werden bei klarer Grenzziehung zwischen Erstattungs- und Selbstzahlermarkt“. Ergänzend gelte es, neue Märkte zu erschließen. Beispielhaft nennen sie Genusscannabis, electronic devices und Ernährung inklusive novel food.

Dass der Minister bestimmte Vorgaben für die Apotheken lockern will, etwa mit Blick auf die Öffnungszeiten, Zweigapotheken, die Filialleitung durch die Inhaberin oder den Inhaber selbst und Neugründungen durch Apothekerinnen und Apotheker mit ausländischem Abschluss, werten die Autoren als sinnvolle Diskussionsgrundlage, der es noch an Feinschliff fehlt. „Eine Neuorganisation des Apotheken-Notdienstes macht zwecks besserer Nutzung der Personalkapazitäten ebenfalls Sinn – so durch Angliederung an Gemeinschaftspraxen, MVZ oder Notfallzentren, wie politisch angedacht“, schreiben sie überdies in ihrer Stellungnahme. Das Konzept der Volldienste die gesamte Nacht hindurch halten sie für diskussionswürdig.

Auch Autorengruppe lehnt Apotheke ohne Apotheker ab

Die Möglichkeit, Apotheken bei Anwesenheit von erfahrenen PTA zu öffnen, sofern eine Apothekerin oder ein Apotheker im Filialverbund per Video zugeschaltet werden kann und die Apothekenleitung mindestens acht Stunden pro Woche persönlich anwesend ist, sieht allerdings auch die Gruppe um Seyfarth kritisch. „Wirtschaftliche Chancen und die Absturzgefahr eines ganzen Berufsverständnisses liegen hier so nah beieinander wie bei keiner anderen Apothekenreform zuvor“, heißt es zusammenfassend. „Wir halten einen solchen tiefgreifenden Einschnitt, der zu Ende gedacht die gesamte eigenverantwortliche Freiberuflichkeit der niedergelassenen Kolleg:innen infrage stellen kann, in der Eile der Zeit für nicht geboten.“ Solche potenziell systemverändernden Reformen brauchen den Autoren zufolge einen langen Vorlauf, ausführliche Diskussionen über einen grundlegenden Systemwechsel und insoweit „einen ganz anderen, systematischen und strategischen Reifegrad. Wir lehnen diesen Vorstoß deshalb zu diesem Zeitpunkt klar ab.“

Die Apothekenvergütung

Nicht zuletzt widmen sich die Unterzeichner auch der Apothekenvergütung. „Mit Blick auf das Apothekenhonorar hat sich das BMG bislang zurückgehalten – zwar nachvollziehbar, angesichts der Defizite in der GKV und der Haushaltssituation allgemein“, schreiben sie. „Hier wünschen wir uns dennoch mehr Flexibilität und Kompromissbereitschaft, auch unter dem Aspekt der Gleichbehandlung mit anderen Gesundheitsberufen und ihrer Honorierung.“ Folgende Punkte führen sie in ihrer Stellungnahme an:

  • Die Erhöhung der Notdienstvergütung um rund 50 Millionen Euro sei „insgesamt zu kurz gesprungen“. Es gelte, die Notdienstorganisation grundsätzlich zu überdenken.
  • Die ohnehin geplante Rückführung des erhöhten Rx-Packungsabschlags von 2,00 Euro auf 1,77 Euro sei grundsätzlich zu begrüßen. „Es sollte versucht werden, diesen Abschlag noch weiter zu reduzieren, erst recht, wenn er lediglich als ‚Skonto‘ für die Krankenkassen gedacht war/ist.“
  • Die Kürzung des prozentualen Anteils der Apothekenvergütung von 3 auf 2 Prozent und die stufenweise Rückführung dieses Einsparvolumens in den festen Honorarbestandteil führt aus Sicht der Autoren „keinesfalls zu einer gerechteren und verbesserten Einkommensverteilung, sondern verschärft die Abkoppelung von Preis- und Kostenentwicklungen“. Sie ist demnach abzulehnen, zumal das Umverteilungsvolumen letztlich zu gering sei, um wirklich strukturelle Veränderungen anzustoßen.
  • Die Verhandlungslösung zum Apothekenhonorar bewerten sie kritisch: „Wird ab 2027, wie vorgesehen, wirklich verhandelt, oder eher diktiert angesichts der unterschiedlichen Wirkmacht der Beteiligten? Dieser Vorschlag bedarf eines Ordnungsrahmens, nach welchen Kriterien eine Honoraranpassung erfolgen soll.“ Liegt dieser fest, seien insoweit keine grundlegenden Verhandlungen nötig, sondern lediglich Umsetzungsvereinbarungen und gegebenenfalls einzelne Differenzierungen.

Sofortprogramm soll Entlastung bringen

Um die Apotheken kurzfristig zu entlasten, entwirft die Gruppe ein sogenanntes Sofortprogramm, das folgende Punkte umfasst:

  • Anpassung des Rx-Fixkomponente um 1,20 Euro (netto) je Fertigarzneimittelpackung spätestens ab Anfang 2025
  • Wiederzulassung der Skonti auf den Stand vor dem Urteil des Bundesgerichtshofes auf rechtsfester Basis
  • Verzicht auf die Kappung des prozentualen Zuschlags von 3 auf 2 Prozent
  • Rückführung des Kassenabschlags auf 1,77 Euro bereits zu Januar 2025
  • Etablierung eines Sicherstellungsfonds für unterversorgte Regionen (Startvolumen etwa 100 Mio. Euro)
  • Beschlussfassung über die Verwendung der ungenutzten Mittel aus dem Fonds für pharmazeutische Dienstleistungen (Umleitung in Sicherstellungsfonds oder anteilige Finanzierung des erhöhten Rx-Honorars)
  • „Entbürokratisierungs-Programm“ (bevorzugt Wirkstoffverschreibung und Erweiterung der Austauschmöglichkeiten therapeutisch vergleichbarer Präparate, Schaffung der Voraussetzungen für eine Online-Direktabrechnung sofort nach Warenabgabe, Nutzung der Möglichkeiten der elektronischen Patientenakte für Zwecke der Arzneimitteltherapiesicherheit und optimierten Patientenbetreuung, kritische Durchforstung der Apothekenbetriebsordnung und andere).

Grundsatzentscheidung für den Apothekensektor

Zudem gelte es nun, die Weichen für die Zukunft der Apothekenlandschaft zu stellen. Denn mit einer Novellierung des Arzneimittelpreisbildungs- und Honorierungssystems geht nach Ansicht der Verfasser auch eine Grundsatzentscheidung einher: mehr freier und weiterhin stark regulierter Beruf oder mehr Unternehmertum? Dazu skizzieren sie zwei diametral unterschiedliche Herangehensweisen, von denen sie klar jene Variante präferieren, die an einer strengen Regulierung festhält (Variante A). Danach soll das im Jahr 2004 eingeführte Kombimodell der Apothekenhonorierung beibehalten und weiterentwickelt werden.

In dieser Variante liegen die Schwerpunkte auf den Honoraren und der Minimierung der kaufmännischen Risiken. Zum einen soll eine kaufmännische Komponente (prozentualer Aufschlag) gemäß der tatsächlichen kaufmännischen Verantwortung auf Warenebene gewährt werden, welche „durch Minimierung von Retaxationsrisiken, Sofort-Direktabrechnung und Online-Erstattungsprüfung, womöglich sogar einem Rx-Warenlager auf Kommissionsbasis u.a.m. soweit reduziert werden könnte, dass Minimalaufschläge im Bereich von nur wenigen Prozent weiterhin vertretbar sind“. Der überwiegende Vergütungsanteil soll durch pharmazeutische Honorare erfolgen. „Hierzu wird ein Honorarsystem bestehend aus einer pharmazeutischen Grundberatungspauschale je Packung sowie einer fortlaufenden Patienten-Betreuungspauschale nach Einschreibung auf Monats- oder Quartalsbasis entwickelt.“ Im Zuge der Einschreibeprogramme könnten die Apotheken erweiterte Dienstleistungen anbieten, wie vertiefte Medikationsberatung, Datenerfassung und -auswertung sowie Koordination mit den Verordnern. „Insoweit würden die heutigen pharmazeutischen Dienstleistungen mehrheitlich in diesen Einschreibemodellen und ihrer Honorierung aufgehen.“

Zudem regen die Verfasser an, erwiesenermaßen deutlich risikobehaftete OTC-Arzneiwirkstoffe in das System der Rx-Festpreise mit einer vertieften Beratungserfordernis aufzunehmen. „Obgleich damit die Packungspreise (Kunden-Endpreise) im OTC-Segment bei etwa 10 € bis 12 € beginnen dürften, erscheint dies angesichts der Bedeutung und Wertigkeit (mitsamt Gefahrenpotenzial) dieser Wirkstoffe angemessen, und überfordert die große Mehrzahl der Kunden nicht.“ 

Die Notdienst-Honorierung soll darüber hinaus auf dem angedachten Niveau (etwa 550 bis 600 Euro je Volldienst und Nacht) im Fonds-Modell beibehalten werden. „Zu prüfen ist, ob nicht auch eingeschränkte Dienstbereitschaften (z.B. bis 23:00 Uhr und ab 7:00 Uhr) jeweils vor Ort vertretbar sind.“

Die Honorare seien grundsätzlich entsprechend der Einnahmeentwicklung der Krankenkassen sowie an veränderte Bedarfsprofile jährlich anzupassen, Kassenrabatte entfallen. „Die Honorare werden betriebstragend einschließlich eines angemessenen Unternehmerlohns für die ‚kassenapothekerliche Versorgung‘ (ein zu definierender Anteil am Gesamtgewinn) und einer anteiligen Verzinsung auf das eingesetzte unternehmerische Kapital ausgestaltet.“ Eine Querfinanzierung durch Einkaufsrabatte auf Rx-Arzneimittel erfolgt demnach nicht mehr.

Variante B: vollständige Freigabe der Preisbildung

„Völlig diametral wäre die vollständige Freigabe der Preisbildung“, leiten die Verfasser ihre Gedanken zu Variante B ein. Die Krankenversicherungen gewähren demnach nur noch einen Erstattungsbetrag je Arzneimittel. „Diese Erstattungslisten werden periodisch zwischen Apotheken bzw. ihren Spitzenorganisationen und Kostenträgern neu verhandelt.“ Die Apotheke sei dann in der Gestaltung des Abgabepreises frei. Institutionalisierte Zuzahlungen entfielen oder gingen kalkulatorisch in den Erstattungspreisen auf. „Dies führt zu mehr unternehmerischer Freiheit und Wettbewerb unter den Apotheken, und der Versandhandel bietet insoweit ebenfalls ein weiteres Wettbewerbselement.“ In diesem Modell entfalle zudem die Festschreibung der Großhandels-Margen, die Apotheken seien insoweit beim Erzielen ihrer Einkaufsrabatte frei. Fixpunkt aller Betrachtungen sei der jeweilige Listen-Herstellerpreis.

„Diese Variante dürfte die Vorstufe zu einem grundlegenden Systemwandel hin zu einem (auch) durch Kapitalgesellschaften und Fremdbesitz bestimmten Apothekenwesen darstellen“, fassen die Autoren zusammen „Wenngleich dieser Liberalisierungsansatz teils überraschende Chancen (nebst etlichen beachtenswerten Risiken) bietet, so erachten die Verfasser den Zeitpunkt für (noch) nicht gekommen. Dieser Liberalisierungsansatz erfordert eine vertiefte Analyse, welche den Rahmen dieses Konzeptpapiers sprengen würde und zudem derzeit nicht als mehrheitsfähig erscheint.“ Der Berufsstand tue jedoch gut daran, auch für dieses Szenario einen durchdachten Plan B in der Schublade zu haben.


Christina Grünberg (gbg), Apothekerin, Betriebswirtin (IWW), DAZ-Redakteurin
cgruenberg@daz.online


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