Diagnosestellung bereits bei leichten kognitiven Störungen möglich

Alzheimer-Demenz früher feststellen

07.12.2023, 07:00 Uhr

Zusammengefasst betreffen die wichtigsten Änderungen der Leitlinie „Demenzen“ aktuell die Diagnostik und nichtmedikamentöse Versorgung der Patienten. (Foto: RAM / AdobeStock)

Zusammengefasst betreffen die wichtigsten Änderungen der Leitlinie „Demenzen“ aktuell die Diagnostik und nichtmedikamentöse Versorgung der Patienten. (Foto: RAM / AdobeStock)


Ende November 2023 wurde die komplett überarbeitete S3-Leitlinie „Demenzen“ veröffentlicht, die unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) entstand. Auf stattlichen 312 Seiten werden umfassende Empfehlungen gegeben. Was ist neu bei der Diagnose und Therapie von Demenzen? 

Rund 1,8 Millionen Deutsche leiden aktuell an einer Demenz, die meisten von ihnen sind deutlich älter als 65 Jahre. Im Jahr 2050 rechnet die DGPPN mit 2,8 Millionen Betroffenen. Die Krankheit ist gekennzeichnet durch einen fortschreitenden Verlust von kognitiven Funktionen und Alltagskompetenzen und stellt eine große Belastung auch für das Umfeld der Patienten dar. Die häufigste Form ist die Alzheimer-Demenz, die rund 60 bis 80 % der Patienten betrifft, gefolgt von vaskulären Demenzen, die fünf bis zehn Prozent ausmachen. Seltenere Demenz-Formen, die die Leitlinie behandelt, sind die gemischte Demenz, die frontotemporale Demenz, die Demenz bei Parkinson-Krankheit und die Demenz mit Lewy-Körpern. Die Therapie zielt darauf ab, das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen und die Lebensqualität von Patienten und pflegenden Angehörigen zu verbessern. Eine Heilung ist nicht möglich.

Immer noch Goldstandard: Acetylcholinesterase-Hemmer

Pharmakologisch ist vieles in der Pipeline, doch wenig Neues in der zugelassenen Therapie. Zur symptomatischen Behandlung werden bei leichter und mittelschwerer Alzheimer-Demenz die etablierten Acetylcholinesterase-Hemmer Donepezil, Galantamin und Riva­stigmin in der jeweils höchsten zugelassenen und verträglichen Dosis empfohlen (s. Tab.). Die Auswahl sollte anhand des Nebenwirkungs- und Interaktionsprofils erfolgen, da sich die Substanzen in ihrer Wirksamkeit nicht unterscheiden. Empfohlen wird ein langfristiger Einsatz, auch bei Verschlechterung der Symptomatik. Im Gegensatz zur alten Version der Demenz-Leitlinie von 2016 ist die halbjährliche Überprüfung der Wirksamkeit mittels kognitiver Tests nicht mehr Voraussetzung für die fortlaufende Anwendung. Bei mittelschwerer und schwerer Alzheimer-Demenz ist der N-Methyl-d-Aspartat(NMDA)­-Rezeptor-Antagonist Memantin Mittel der Wahl (s. Tab.). Ist eine Therapie mit Memantin nicht möglich, kann ein Off-Label-Einsatz von Donepezil oder Rivastigmin auch bei schwerer Alzheimer-Demenz erwogen werden. Eine Kombinationstherapie aus Acetylcholinesterase-Hemmer und Memantin lehnt die Leitlinie ab.

Bei vaskulärer Demenz schlagen die Leitlinienautoren Donepezil, Galant­amin oder Memantin, bei Demenz bei Parkinson-Krankheit Rivastigmin oder Donepezil, bei leichter bis mittelschwerer Demenz mit Lewy-Körpern Donepezil als Pharmako­therapie vor. Bis auf die Rivastigmin-Kapseln, die zur Therapie der Demenz bei Parkinson-Krankheit zugelassen sind, handelt es sich jedoch um Off-­Label-Anwendungen. Bei frontotemporaler Demenz gibt es laut Leitlinie kein für die Therapie geeignetes Antidementivum.

Tab.: Dosierung der zugelassenen Wirkstoffe zur symptomatischen Therapie von Demenz-Erkrankungen (nach [1]) TTS: transdermales therapeutisches System
Wirkstoffzugelassene Indikationinitiale TagesdosisSteigerungminimal wirksame Tagesdosismaximale Tagesdosisgalenische Besonderheiten
Acetylcholinesterase-HemmerDonepezilleichte und mittelschwere Alzheimer-Demenz5 mg
  • nach vier Wochen um 5 mg
5 mg10 mgauch als Schmelztablette erhältlich
Galantamin8 mg
  • nach je vier Wochen um 8 mg
16 mg24 mgauch als Tropfen erhältlich (Einnahme 2 × täglich)
Rivastigmin

2 × 1,5 mg

TTS: 4,6 mg

  • nach je zwei Wochen um 2 × 1,5 mg
  • TTS: nach vier Wochen auf 9,5 mg
  • nach sechs Monaten auf 13,3 mg möglich

2 × 3 mg

TTS: 9,5 mg

2 × 6 mg

TTS: 13,3 mg

auch als Tropfen oder TTS erhältlich
NMDA-AntagonistMemantinmittelschwere und schwere Alzheimer-­Demenz5 mg5 mg pro Woche20 mg20 mg Dosisanpassung bei Niereninsuffizienz 

 

Empfehlung für Ginkgo biloba

Ein neues Votum gibt es für den Einsatz von Ginkgo-biloba-Extrakt (Spezialextrakt EGb® 761, Tebonin®). Während die abgelaufene Leitlinie „Hinweise für die Wirksamkeit“ sah, auf deren Basis eine Behandlung erwogen werden könne, wird nun die Einnahme des Extrakts in einer Tagesdosis von 240 mg sowohl bei leichter und mittelgradiger Alzheimer-Demenz als auch bei vaskulärer Demenz ohne psychotische Verhaltenssymptome ausdrücklich empfohlen.

Auch für die Pharmakotherapie von begleitenden Symptomen beziehungsweise Komorbiditäten enthält der überarbeitete Leitlinientext nun klare Empfehlungen. Demenz-Patienten sind häufig von einer Depression betroffen. Hier sollen Substanzen ohne anticholinerge Nebenwirkungen ausgewählt werden, die Therapie kann langfristig erfolgen. Mittel der Wahl bei Alzheimer-Patienten sind Mirtazapin oder Sertralin.

Antipsychotika nicht als Dauermedikation

Antipsychotika, zum Beispiel gegen optische Halluzinationen oder Wahnvorstellungen, sollten dagegen in möglichst geringer Dosis und nur zeitlich begrenzt verordnet werden. Sie führen bei Demenz-Patienten zu einem erhöhten Risiko für zerebrovaskuläre Ereignisse und einer erhöhten Mortalität. Regelmäßig, am besten monatlich, sollten daher Absetzversuche erfolgen. Erste Wahl bei Alzheimer-Patienten ist Risperidon (zweimal 0,25 mg bis maximal zweimal 1 mg pro Tag), zweite Wahl Haloperidol (0,5 mg bis maximal 5 mg pro Tag). Wichtig ist hier, dass sich die Zulassung bei aggressivem Verhalten (Risperidon) und psychotischen Symptomen (Haloperidol) bei Alzheimer-Demenz nur auf Stadien bezieht, in denen ein Risiko für Eigen- oder Fremdgefährdung besteht. Patienten mit Demenz mit Lewy­-Körperchen oder Demenz bei Parkinson-Krankheit sollten stattdessen Clozapin erhalten.

Methylphenidat bei Apathie

Bei Demenz-Patienten tritt häufig eine Apathie auf, die ihre Teilnahme am Alltagsleben einschränkt, das Fortschreiten der Demenz fördert und pflegende Angehörige zusätzlich belastet. Im alten Leitlinientext wurde hier der Einsatz von Methylphenidat lediglich erwähnt, in der Überarbeitung wird ein Behandlungsversuch mit Methylphenidat ausdrücklich empfohlen, auch wenn es sich dabei um eine nicht zugelassene Indikation handelt.

Für Schlafstörungen bei Demenz-­Patienten gibt es bis dato keine Therapie mit ausreichend gesicherter Evidenz. Die niedrigpotenten Anti­psychotika Melperon und Pipamperon haben eine Zulassung für geriatrische Patienten mit Schlafstörungen und können im Rahmen dieser Zulassung zur Behandlung eingesetzt werden. Den erst 2022 zugelassenen Orexin-Antagonist Daridorexant erwähnen die Autoren, zum Einsatz bei Demenz-Patienten liegen jedoch noch keine Studien vor.

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Neu in die Leitlinie aufgenommen wurden Empfehlungen zur Therapie von Dranginkontinenz bei an Demenz Erkrankten. Empfohlen wird der Einsatz der Anticholinergika Trospium, Darifenacin oder Fesoterodin, bei denen keine Verstärkung der kognitiven Störung beobachtet wurde. Von Oxybutynin oder Tolterodin raten die Leitlinienautoren ab.

Schmerzen im Blick haben

Rund die Hälfte aller Demenz-­Patienten gibt an, unter chronischen Schmerzen zu leiden. Da neu auftretende Beschwerden ab einem gewissen Schweregrad der Demenz nicht mehr artikuliert werden können, wird von den Leitlinienautoren ein regelmäßiges Schmerzscreening mithilfe einer validierten Skala empfohlen.

Grundsätzlich sollte nicht nur die Medikation eines Demenz-Patienten regelmäßig evaluiert werden. Es wird empfohlen, im Rahmen eines geriatrischen Assessments auch die aktuellen Fähigkeiten des Patienten zu bestimmen und einen ganzheitlichen Behandlungs- und Pflegeplan daran anzupassen. Als Ziel formulieren die Leitlinienautoren ein „Dementia Care Management“, das unter Einbeziehung des betreuenden Umfelds nicht nur eine medikamentöse, sondern auch eine umfassende pflegerische und soziale Begleitung darstellt. Entsprechende nichtpharmakologische Maßnahmen werden in der Leitlinie umfassend dargestellt. Sowohl kognitives Training als auch kognitive Stimulation werden bei leichter und mittelschwerer Demenz empfohlen. Auch körperliche Aktivität (Krafttraining und/oder aerobes Training) kann zu einer Verbesserung der kognitiven Funktion führen und die Sturzgefahr mindern. Angeleitetes körperliches Training soll daher angeboten werden. Welche positiven Effekte weitere Therapieformen, unter anderem Gedächtnistraining, Tanz-, Musik-, Ergo- oder Berührungstherapie im Einzelnen haben können, diskutieren die Leitlinienautoren ebenfalls. Lediglich von der Anwendung computer­basierter kognitiver Trainingsprogramme wird abgeraten.

Diagnosestellung bei Alzheimer schon im Frühstadium

Die wichtigsten Neuerungen der Leitlinie beziehen sich auf die Diagnostik der Alzheimer-Krankheit. Bisher stand die Symptomatik im Vordergrund, die Diagnose konnte erst gestellt werden, wenn schon Einschränkungen in der Alltagskompetenz bestanden. Nach den neuen Kriterien der Leitlinie kann die Diagnose nun bereits bei einer leichten kognitiven Störung (mild cognital impairment, MCI) in Verbindung mit positivem Biomarker-Nachweis gestellt werden. Als Biomarker werden im Liquor Beta-Amyl­oid (Aβ42) und Tau-Protein (pTau181) bestimmt. Weitere Biomarker sowie bildgebende Verfahren zur Diagnostik der verschiedenen Demenz-Formen werden in der Leitlinie aufgeführt.

Die Diagnose in einem frühen Krankheitsstadium bietet die Chance, zum optimalen Zeitpunkt Therapiemaßnahmen einzuleiten. Eine Pharmakotherapie für die leichte kognitive Störung gibt es zurzeit noch nicht, die Leitlinie empfiehlt kognitives Training, kognitive Stimulation und gezieltes körper­liches Training. Gleichzeitig soll Advance Care Planning (ACP) angeboten werden, ein Prozess, in dem der Betroffene gemeinsam mit Angehörigen und medizinischem Personal festlegt, wie die Therapie und pflegerische Versorgung aussehen sollen, wenn seine Einwilligungsfähigkeit nicht mehr gegeben ist. Kein schönes Thema – aber Entscheidungen, die später die eigene Lebensqualität verbessern und den Angehörigen Sicherheit geben werden.

Fahrtauglichkeit: klare Regeln

Ein weiteres für Patienten unangenehmes Thema ist die Fahrtauglichkeit. Auch hier gibt die überarbeitete Leit­linie nun klare Regeln vor: Bei mittelschwerer und schwerer Demenz ist die Fahreignung aufgehoben. Bei leichter Demenz soll die Fahreignung individuell geprüft und jährlich neu beurteilt werden. Der Schweregrad der Demenz wird mittels standardisierter Fragebögen ermittelt.

Zusammengefasst betreffen die wichtigsten Änderungen der Leitlinie „Demenzen“ aktuell die Diagnostik und nichtmedikamentöse Versorgung der Patienten. Doch auch die innovativen Therapien, auf deren baldige Zulassung wir hoffen, werden ihren Weg in die Leitlinie schnell finden, denn die Leitlinie „Demenzen“ ist als Living Guideline angelegt, die fort­laufend, zumindest jährlich aktualisiert wird.

Literatur

Demenzen. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) (Hrsg.), Version 4.0, Stand 28. November 2023, https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/038-013


Dr. Sabine Werner, Apothekerin und Redakteurin
readktion@daz.online


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