Die Blaue Hand – Teil 2

Vorsicht orale Retinoide – eine Checkliste für Apotheker

Rosenheim - 06.02.2023, 17:50 Uhr

Bei oraler Anwendung von Retinoiden drohen in der Schwangerschaft selbst bei kurzzeitiger Einnahme schwerste Schäden. (Foto: ink drop / AdobeStock)

Bei oraler Anwendung von Retinoiden drohen in der Schwangerschaft selbst bei kurzzeitiger Einnahme schwerste Schäden. (Foto: ink drop / AdobeStock)


Haben Sie in Ihren Kassensystemen schon einmal auf das Blaue-Hand-Logo geklickt und sich das hinterlegte Schulungsmaterial durchgelesen? Die DAZ stellt Ihnen in dieser Serie eine Auswahl der „blauen Hände“ vor – heute zu oralen Retinoiden. Denn werden Acitretin, Alitretinoin oder Isotretinoin in der Schwangerschaft eingenommen, drohen schwere Fehlbildungen – teils auch Jahre über das Einnahmeende hinaus. Wissenslücken müssen also geschlossen werden, nicht nur bei den Patientinnen und Patienten. 

Bei einer Isotretinoin-Verordnung denkt manch Apotheker zunächst aufgrund schmerzlicher Erfahrung an Retaxfallen: Verschreibungen für Frauen im gebärfähigen Alter dürfen nur sechs Tage nach Ausstellung beliefert werden und sind auf den Bedarf für 30 Tage beschränkt. Doch diese formalen Auflagen haben durchaus einen Sinn: Orale Retinoide sind in der Schwangerschaft absolut kontraindiziert, es gilt ein striktes Schwangerschaftsverhütungsprogramm.

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Vor der Abgabe solch nebenwirkungsträchtiger oder teratogener Wirkstoffe wie den Retinoiden lohnt also immer ein Blick in die EDV oder auf die BfArM-Homepage (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte). Fachkreise finden dort nämlich behördlich angeordnetes Schulungsmaterial, erkennbar an der „Blauen Hand“. Im Fall von Acitretin, Alitretinoin und Isotretinoin gehört neben einer Checkliste für Apotheker, eine Checkliste für den Arzt sowie eine Patientenkarte dazu. Erstgenannte Liste schützt die Apotheke nebenbei auch vor wirtschaftlichem Schaden – dort stehen die nötigen Rezept-Formalien und Abgabebeschränkungen direkt an erster Stelle.

Ein orales Kontrazeptivum alleine reicht nicht 

Wichtiger als eine Retaxation ist natürlich die Arzneimitteltherapiesicherheit. Denn bei oraler Anwendung drohen in der Schwangerschaft selbst bei kurzzeitiger Einnahme schwerste Schäden. Experten sprechen vom charakteristischen Retinoid-Syndrom: 

  • Fehlanlage der Ohren,
  • Störungen der Gesichts- und Gaumenbildung,
  • Herzfehler und zahlreiche Entwicklungsstörungen im Bereich des Thymus und ZNS in unterschiedlichem Ausmaß.

Embryotox beziffert das Fehlbildungsrisiko auf 25 Prozent bei oraler Einnahme im ersten Trimenon. Zahlreiche Schwangerschaften werden bei Exposition aus Angst vor der fruchtschädigenden Wirkung abgebrochen. Zudem ist das Risiko für einen Spontanabort deutlich erhöht. 

Anwender dürfen kein Blut spenden – auch nicht (direkt) nach dem Absetzen von oralen Retinoiden

Um das zu verhindern, unterliegen Retinoide also einem strikten Schwangerschaftsverhütungsprogramm: 

  • Gebärfähige Frauen müssen unbedingt zuverlässig verhüten,
  • monatlich einen Schwangerschaftstest durchführen und
  • dürfen vorerst kein Blut mehr spenden – letzteres gilt offensichtlich auch für Männer, und bei Acitretin selbst nach Absetzen drei Jahre lang. Denn bei einer schwangeren Empfängerin des Spenderblutes besteht laut Blaue-Hand-Material ein Risiko für deren Fötus.

Als sichere Verhütung gilt entweder eine anwenderunabhängige Methode (Spirale, Implantat) oder alternativ zwei sich ergänzende Verhütungsmethoden. Ein orales Kontrazeptivum alleine reicht also nicht aus, sondern muss beispielsweise mit einer Barrieremethode wie einem Kondom kombiniert werden.

Seit 2016 ergänzt die blaue Hand die rote und ...

kennzeichnet behördlich angeordnetes und genehmigtes Schulungsmaterial, wie etwa Checklisten, Patientenausweise, Leitfäden oder Broschüren für Patienten. Dies wird immer dann erforderlich, wenn für die sachgerechte Anwendung zusätzliche Informationen erforderlich sind, die über die Fach- und Gebrauchsinformation hinausgehen. Das Material ist beispielsweise Bestandteil sogenannter Risikomanagementpläne und erforderlich, um ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis zu gewährleisten. 

Seit der Einführung wird das Angebot stetig erweitert. Das Schulungsmaterial kann auf der Homepage des BfArM beziehungsweise im Fall von biomedizinischen Arzneimitteln wie Antikörpern auf der Internetseite des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) aufgerufen werden. Außerdem finden Sie ausgewählte Inhalte des Schulungsmaterials auch in unserer neuen Serie zur „Blauen Hand“ auf DAZ.online.

Da Acitretin zudem die empfängnisverhütende Wirkung von niedrig dosierten Progesteron-Wirkungen herabsetzen kann, sind sogenannte Minipillen zur Verhütung übrigens nicht geeignet. Kombinierte orale Kontrazeptiva sind von dieser Wechselwirkung nicht betroffen, Isotretinoin und Alitretinoin ebenfalls nicht. 

Die sichere Kontrazeption muss nach dem Absetzen von Alitretinoin und Isotretinoin mindestens einen weiteren Monat fortgesetzt werden. Danach ist auch die Blutspende wieder erlaubt.

Acitretin: Kein Alkohol und 3 Jahre Verhütung

Bei Acitretin wurde der Sicherheitsabstand im Jahr 2016 sogar von zwei Jahre auf drei Jahre erhöht. Patientinnen dürfen nach dem Absetzen aufgrund der langen Halbwertszeit also drei Jahre lang nicht schwanger werden oder Blut spenden, und müssen entsprechend lange und sicher verhüten. Auch Alkohol ist während der Einnahme von Acitretin und bis zwei Monate danach tabu. Andernfalls bildet sich Etretinat, ein hoch teratogener Metabolit mit einer Halbwertszeit von etwa 120 Tagen.

Tritt eine Schwangerschaft während der Retinoid-Therapie oder innerhalb eines Monats (Aciretin: 3 Jahre) nach dem Absetzen auf, muss sich die Patientin sofort an ihren behandelnden Arzt wenden und individuell beraten lassen. Außerdem soll der Fall an den Zulassungsinhaber gemeldet werden, damit dieser den Ausgang der Schwangerschaft nachverfolgen kann. Eine Patientenkarte fasst die wichtigsten Hinweise laienverständlich zusammen und sollte vom Patienten sorgfältig aufbewahrt werden. 

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Leider zeigte eine Untersuchung von Embryotox kürzlich, dass trotz all der Auflagen großer Aufklärungsbedarf besteht. Denn noch immer treten ungeplante Schwangerschaften unter Retinoiden auf und auch die Schulungsmaterialien sind kaum bekannt. Apotheker sollten die angebotenen Materialien in der Beratung also gezielt nutzen.

Anwendungsgebiete der Retinoide und das Risiko der topischen Anwendung

Acitretin ist laut ABDA-Datenbank (Stand 6. Februar 2023) indiziert zur symptomatischen Behandlung von schwersten, einer konventionellen Therapie nicht zugänglichen Verhornungsstörungen des Hautorgans wie: 

  • Psoriasis vulgaris, vor allem erythrodermatische und pustulöse Formen
  • Hyperkeratosis palmoplantaris
  • Pustulosis palmoplantaris
  • Ichthyosis
  • Morbus Darier
  • Pityriasis rubra pilaris
  • Lichen ruber planus der Haut und Schleimhäute

Alitretinoin wird bei Erwachsenen mit schwerem chronischen Handekzem angewendet, das auf die Behandlung mit potenten topischen Corticoiden nicht anspricht. Wenn das Ekzem bereits mit Standardmaßnahmen wie 

  • Hautschutz,
  • Vermeidung von Allergenen und Reizstoffen und
  • Behandlung mit potenten topischen Corticoiden

unter Kontrolle gebracht werden kann, sollte Alitretinoin nicht verordnet werden.

Isotretinoin kommt bei schwere Formen der Akne (wie Akne nodularis, Akne conglobata oder Akne mit dem Risiko einer permanenten Narbenbildung) zum Einsatz, wenn sich die Akne gegenüber adäquaten Standardtherapiezyklen mit systemischen Antibiotika und topischer Therapie als resistent gezeigt hat.

Für topische Retinoide wie Adapalen erklärt Embryotox zur Risikoeinordnung der Anwendung bei Akne vulgaris: „Eine Metaanalyse prospektiver Studien mit Einschluss von fast 600 Schwangerschaften nach lokaler Retinoid-Therapie – davon jedoch nur 24 mit Adapalen – ermittelte keine signifikant erhöhten Fehlbildungs- oder Fehlgeburtsraten. Mit dieser Fallzahl kann jedoch nicht jegliches Risiko ausgeschlossen werden. Zudem gibt es wenige publizierte Einzelfälle, die den Verdacht haben aufkommen lassen, dass auch nach lokaler Anwendung Retinoid-typische Fehlbildungen auftreten können.“ (dm, ABDA-Datenbank)


Anna Carolin Antropov, Apothekerin
redaktion@daz.online


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