Interview mit den via-Vorständen Gräfe-Bub und Lauterbach

„Die Apotheken laufen auf der letzten Rille“

Berlin - 21.12.2022, 07:00 Uhr

Dr. Ann-Katrin Gräfe-Bub und Arndt Lauterbach (s / Foto: IMAGO / STL)

Dr. Ann-Katrin Gräfe-Bub und Arndt Lauterbach (s / Foto: IMAGO / STL)


Die überbordende Bürokratie killt die Apotheken – davon sind Ann-Katrin Gräfe-Bub und Arndt Lauterbach, Vorstände des Verbands innovativer Apotheken (via), überzeugt. Mithilfe der Ergebnisse ihrer jetzt veröffentlichten Bürokratie-Studie wollen sie die Politik auf die untragbaren Zustände in den Betrieben aufmerksam machen – vor allem darauf, was der Irrsinn letztlich kostet. Im Gespräch mit der DAZ erläutern sie ihre Motivation, die Studie aufzusetzen, und wie sie die Ergebnisse nun den Abgeordneten in Berlin nahebringen wollen.

DAZ: Frau Gräfe-Bub, Herr Lauterbach, in Zusammenarbeit mit Professor Reinhard Herzog, Apothekenberater aus Tübingen, konnten Sie zeigen, dass die Apotheken allein für den bürokratischen Aufwand beim Beliefern eines GKV-Rezepts und die Retax-Vermeidung bzw. -Bearbeitung pro Jahr insgesamt rund eine Milliarde Euro im Jahr aufwenden müssen. Was war Ihr Ansporn, diese Studie in Auftrag zu geben?

Lauterbach: Unser Motiv ergibt sich auch aus dem Grund, weshalb wir via gegründet haben. Wir wollen Themen, die aus unserer Sicht zu wenig Beachtung finden, an die Politik und vor allem die Bundestagsabgeordneten im Gesundheitsausschuss herantragen. Dazu zählen auch die Inhalte des Rahmenvertrags, die den Apotheken weitgehend aufgebürdet werden. Natürlich sind die Krankenkassen froh, wenn sie jemanden finden, der für formale Fehler am Rezept die Zeche zahlt – dieses Konzept passt aber nicht mehr ins 21. Jahrhundert. Die Apotheken betreiben einen völlig unverhältnismäßigen Aufwand, um Rezepte rahmenvertragskonform zu beliefern. Das wollten wir einmal anhand belastbarer Zahlen untermauern und ich denke, das ist uns gelungen.

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Gräfe-Bub: Unser Ziel als Verband ist es auch, den Apotheken ein klares heilberufliches Profil zu verleihen. In den Betrieben schlummern enorme Ressourcen, die wir zum Wohle der Patienten einsetzen könnten – doch statt diese zu heben, überschüttet man uns mit Bürokratie und unsinnigen Vorschriften. Via ist nicht aus einem Protestgedanken heraus entstanden, sondern weil wir überzeugt davon sind, dass die Apotheken wichtige Aufgaben in diesem System übernehmen können, auch abseits der reinen Arzneimittelversorgung. Aktuelle Beispiele sind das Impfen und die pharmazeutischen Dienstleistungen. Aber man muss uns die Luft lassen, um solche Angebote zu entwickeln und zu etablieren. Dann bräuchten wir auch keine Gesundheitskioske in Deutschland.

Wofür steht via?

Ziel des Verbands innovativer Apotheken (via) ist nach eigenen Angaben die Förderung und Weiterentwicklung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und pharmazeutischen Interessen von innovativen, inhabergeführten öffentlichen Apotheken und die Interessenvertretung der inhabergeführten Apotheke gegenüber Politik, Kostenträgern, Heilberuflern, den Verbrauchern sowie der Öffentlichkeit. 

Der Verband orientiert sich dabei an den Bedürfnissen der Apothekenkunden und des Gesundheitssystems. Gegründet wurde via im Jahr 2019

Warum ist das Thema Bürokratie in den Apotheken so wichtig?

Lauterbach: Es geht hier um sich ständig wiederholende Prozesse, die ausschließlich Kosten produzieren, aber keinen Nutzen für die Patienten stiften. Das ist auch der Tatsache geschuldet, dass das System im Laufe der Jahre immer kleinteiliger geworden ist, aber positive Entwicklungen wie die Digitalisierung vollständig daran vorbeigegangen sind. Die Kosten, die durch die bürokratischen Vorgaben entstehen, bleiben unmittelbar bei den Apotheken hängen. Das schmälert das ohnehin dünne Honorar nochmals deutlich. Die Apotheken laufen auf der letzten Rille und eigentlich müssten wir den Rahmenvertrag so, wie er jetzt ist, kündigen. Denn die darin enthaltenen Regelungen sind schlichtweg nicht mehr zeitgemäß. Wir sind absolut leistungsbereit, aber wir können und wollen nicht mehr unsinnige Kosten tragen, nur weil man ein bestehendes System fortschreiben will.

Gräfe-Bub: Es geht bei der Retax-Bearbeitung ja letztlich um die Kontrolle der Kontrolle – und es ist völlig absurd, dass wir dafür so einen Aufwand betreiben. Aber wir Apotheker sind es schon aus dem Studium gewöhnt, in Nanogramm zu denken und uns übertragene Aufgaben gewissenhaft zu erledigen. Also setzen wir auch hier die nötigen Kräfte frei, um Verluste durch Retaxationen möglichst zu begrenzen. Dabei geht es überhaupt nicht darum, dass der Patient möglicherweise nicht richtig versorgt wurde, sondern ausschließlich um Formalia. Das kann einfach nicht richtig sein.

Warum haben Sie das Thema selbst in die Hand genommen? Hatten Sie den Eindruck, dass ansonsten zu wenig passiert?

Lauterbach: Es ist viel passiert in den vergangenen Jahren, nur leider in die falsche Richtung. Statt Bürokratie abzubauen, kamen immer neue Schikanen hinzu. Das können wir uns als Gesellschaft nicht mehr leisten – der Hausärztemangel wird uns noch alle überrollen. Um die Menschen weiterhin adäquat versorgen zu können, müssen wir jetzt alle Möglichkeiten ausschöpfen, die wir haben. Und da können die Apotheken ein wichtiger Baustein sein, wenn man sie lässt. In der Schweiz hat sich die Politik getraut, den Apotheken mehr Verantwortung zu übertragen – aus einem rein pragmatischen Gedanken heraus. Dort hat man den Ernst der Lage erkannt und gehandelt. Das können wir in Deutschland auch. Wer dann nicht mitmachen kann oder will, ist natürlich völlig frei, diese unternehmerische Entscheidung für sich zu treffen. Wir wollen niemandem etwas aufzwingen, aber Möglichkeiten schaffen für diejenigen, die dazu in der Lage sind.

Gräfe-Bub: Nicht nur, dass die Bürokratie sogar mehr statt weniger geworden ist, auch die Retax-Stellen haben nochmals deutlich aufgerüstet. Das führt dazu, dass in besonders im Hilfsmittel- und Zytostatika-Bereich Schriftsätze mehrfach hin- und hergeschickt werden, ohne dass dabei etwas rumkommt. Und jetzt läuft das Fass einfach über.

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Kommt jetzt die Bürokratie-Bremse?

Bilden die Ergebnisse Ihrer Einschätzung nach die Verhältnisse in den Apotheken realistisch ab?

Gräfe-Bub: Wir haben die teilnehmenden Betriebe bewusst so ausgewählt, dass sie die vielfältige Apothekenlandschaft bestmöglich repräsentieren – es sind Apotheken aus dem ländlichen Bereich dabei, andere liegen in Fußgängerzonen, in Einkaufszentren oder in Medizinischen Versorgungszentren. Es wurde über fünf Tage von allen Berufsgruppen Apotheker:innen, PTAs, PKAs mit der Stoppuhr erfasst, wie viel Zeit für das Bearbeiten eines Rezepts nach Rahmenvertrag benötigt wird, im HV ebenso wie im Backoffice. Pharmazeutische Beratung haben wir ausgeklammert, genau wie Verpflichtungen, die aus dem Apothekengesetz oder der Apothekenbetriebsordnung resultieren. Insofern denke ich, dass wir den Aufwand ziemlich präzise erfasst haben. Im Zweifelsfall dürfte er in der Realität eher höher liegen als niedriger, denn die Apotheken, die mitgemacht haben, weisen bereits einen sehr hohen Organisationsgrad auf.

Was die Retaxationen betrifft, fällt auf, dass die Summe der Abzüge sich zwar in Grenzen hält, die Kosten für den Kontrollaufwand jedoch um ein Vielfaches höher liegen. Was schließen Sie daraus?

Gräfe-Bub: Es ist bemerkenswert, wie eingeschliffen die Prozesse sind und wie sehr die Apotheken sich selbst optimiert haben, um Retaxationen zu vermeiden. Dabei sind die Retax-Gründe mittlerweile so perfide, dass die Bearbeitung in vielen Apotheken von Approbierten übernommen wird, weil es ganz spezifischer Kenntnisse bedarf, um pharmazeutisch gegenhalten zu können. Vermutlich ist die Summe in unserer Studie eher zu niedrig – wer diese Kapazitäten hat, kann auch eher mal einen Apotheker abstellen, um sich um Rezeptkontrolle und Retax-Bearbeitung zu kümmern. Ich weiß von anderen Inhaberinnen und Inhabern, die deutlich mehr abgezogen bekommen und oftmals auch gar keinen Einspruch mehr einlegen. Das Thema ist so frustrierend und zermürbend, dass viele inzwischen schlicht ausrechnen, wann es sich noch lohnt, sich zu wehren, und wann es mehr kostet als nutzt.

Lauterbach: In diesem Zusammenhang drängt sich der Verdacht auf, dass die Krankenkassen austesten, wie weit sie bei einer individuellen Apotheke gehen können. Daraus hat sich doch schon längst ein Geschäftsmodell entwickelt, mit eigenen Unternehmen, die auf Retaxationen im Auftrag der Kassen spezialisiert sind. Deswegen legen wir in der Apotheke meiner Frau grundsätzlich immer Einspruch ein, auch wenn es nur um 2 Euro geht. Das ist völlig unwirtschaftlich, aber wir wollen demonstrieren, dass wir so nicht mit uns umspringen lassen. Das sind Profiteure, die sich am System bereichern, ohne dass es dafür eine Berechtigung gäbe. Der ganze Bereich hat sich verselbstständigt und diesem Gebaren muss die Politik die Grundlage entziehen. Von dem Geld, das dabei draufgeht, könnte man so einige Mehrwerte schaffen, ohne dass extra Kosten entstünden.

Welche politischen Forderungen leiten Sie konkret aus den Ergebnissen ab? Geht es darum, sich den Aufwand bezahlen zu lassen oder die Bürokratie abzubauen?

Lauterbach: Letztlich wird das wohl das gleiche Ergebnis bringen. Denn dass die Krankenkassen bereit sein werden, uns den sinnlosen Aufwand zu bezahlen, halte ich für ausgeschlossen. Dann werden sie wohl doch lieber die bürokratischen Hürden senken. Es geht uns aber auch darum aufzuzeigen, wie viele personelle Ressourcen das aktuelle System bindet. Diese Fachkräfte könnte man in der Patientenbetreuung weitaus sinnvoller einsetzen. Die pharmazeutischen Dienstleistungen kommen aus mehreren Gründen noch nicht richtig zum Fliegen – ein ganz wesentlicher Punkt ist dabei der Fachkräftemangel.

Gräfe-Bub: Ganz genau. Wir wollen und wir brauchen die pharmazeutischen Dienstleistungen. In meinen Apotheken arbeiten viele junge Kolleginnen und Kollegen, die sehr großes Interesse an diesen Aufgaben haben. Ich bin überzeugt davon, dass die Apotheken als Arbeitsplatz für junge Approbierte wieder deutlich attraktiver werden, wenn wir die Bürokratie zugunsten echter pharmazeutischer Tätigkeiten zurückschrauben.

Wie tragen Sie die Ergebnisse jetzt an die Politik heran?

Gräfe-Bub: Wir haben bereits einige Hintergrundgespräche mit Gesundheitspolitikerinnen und -politikern verschiedener Parteien geführt, die sehr fruchtbar waren. Via ist nicht angetreten, um zu verhindern, sondern um zu gestalten – das kommt gut an. Oft erleben wir, dass die Abgeordneten den Wunsch äußern, den Kontakt zu intensivieren und gemeinsam neue Fragestellungen zu erörtern. Wir haben bereits mit einigen Mitgliedern des Gesundheitsausschusses sowohl von Oppositions- als auch Regierungsparteien gesprochen. Insgesamt stoßen wir in der Politik auf großes Interesse mit unseren Positionen zum Bürokratieabbau und unserem Konzept zum Heben von „Effizienzreserven“. Das spornt an – und das wollen wir ausbauen und vertiefen!

Frau Gräfe-Bub, Herr Lauterbach, vielen Dank für das Gespräch!

Dr. Ann-Katrin Gräfe-Bub (Foto: privat)

Zur Person

Dr. Ann-Katrin Gräfe-Bub ist Vorstandsvorsitzende des Verbands innovativer Apotheken. Sie betreibt zwei Offizinen in Siegen in Nordrhein-Westfalen, die Schloss-Apotheke am Markt und die Schloss-Apotheke am Kreisklinikum.

Arndt Lauterbach (Foto: IMAGO / STL)

Zur Person

Arndt Lauterbach ist Vorstandsmitglied bei via und Mitgründer der ELAC Guten Tag Apotheken. Seine Familie betreibt die SaniPlus-Apotheken in München.


Christina Grünberg, Apothekerin, Redakteurin DAZ (gbg)
cgruenberg@daz.online


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1 Kommentar

Bürokratie - Kosten

von Dr. Albrecht Emmerich am 21.12.2022 um 15:17 Uhr

In fast allen Lieferverträgen ist zu lesen:
"...ist vom Arzt abzuzeichnen!" oder "... ist mit dem Arzt Rücksprache zu halten!" etc.
Ich habe es selbst erlebt: Eine Apothekenmitarbeiterin war täglich zwischen zwei und drei Stunden unterwegs, um die entsprechenden Unterschriften bzw. Abzeichnungen einzuholen. Zeit Fahrweg, Parklpatzsuche, warten, bis die gnädige Arzthelferin den Zutritt zum Arzt gewährt. Wer erstattet uns die Kosten?
Genauso schlimm: Wir doofen Apotheker haben die ganze Woche von 8 bis 19 (20) Uhr geöffnet. Der Arzt, mit dem wir die geforderte Rücksprache halten sollen, ist Mittwoch nachmittags und am Wochenende (von Freitag 12 Uhr bis Montag 8 Uhr) in der Regel nicht erreichbar.
Dieser Zustand ist unhaltbar! bisher hat sich- soweit mir bekannt -jedoch niemand unserer Verhandlungsführer bzw. Standesvertreter dieser Problematik entsprechend angenommen.

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