INTERPHARM Online 2022

Was vermag Melatonin bei Schlafstörungen zu leisten?

Stuttgart - 16.03.2022, 17:50 Uhr

Fehlt es einem nicht an endogenem Melatonin, besteht prinzipiell auch kein Bedarf, dieses zu supplementieren, sagt Dr. Verena Stahl. (Foto: lightpoet / AdobeStock)

Fehlt es einem nicht an endogenem Melatonin, besteht prinzipiell auch kein Bedarf, dieses zu supplementieren, sagt Dr. Verena Stahl. (Foto: lightpoet / AdobeStock)


Die Werbung für Melatonin ist omnipräsent. Bei wem kann Melatonin Schlafstörungen lindern? Antworten hat Apothekerin Dr. Verena Stahl bei der INTERPHARM online 2022.

Melatonin ist in aller Munde, oder – extrapoliert man das Werbeengagement der Hersteller auf den Verkaufserfolg – in jedem Medienkanal und in aller Nachttischkästchen. Ist Melatonin, unser natürliches Schlafhormon, tatsächlich eine wertvolle Alternative zu Antihistaminika, Z-Substanzen und Benzodiazepinen? Und das vielleicht sogar ohne Abhängigkeitspotenzial, anticholinerge Nebenwirkungen und erhöhte Sturzgefahr? Bei der INTERPHARM online 2022 setzt sich Referentin Dr. Verena Stahl, Apothekerin und etablierte DAZ-Autorin, am 25. März 2022 kritisch mit dem Mythos Melatonin auseinander. Denn zugelassen als verschreibungspflichtiges Arzneimittel ist Melatonin in Circadin® schon lange – neu sind die zahlreichen Nahrungsergänzungsmittel, die in den letzten Monaten und Jahren wie Pilze aus dem Boden sprießen. Die DAZ hat vorab der INTERPHARM mit Frau Stahl gesprochen.

Für wen eignet sich Melatonin?

DAZ: Kann Melatonin jedem Schlaflosen helfen?

Stahl: Man sollte vielleicht zunächst festhalten, dass Melatonin kein klassisches Hypnotikum wie ein Benzodiazepin ist, sondern ein Hormon, das an der Regulation des Tag-Nacht-Empfindens beteiligt ist. Fehlt es einem nicht an endogenem Melatonin, besteht prinzipiell auch kein Bedarf, dieses zu supplementieren. Das herauszufinden, ist gar nicht so einfach. Aber auch bei niedrigen Melatonin-Spiegeln, zum Beispiel im Alter, müssen nicht zwangsläufig Schlafstörungen resultieren. Vielleicht noch ein Gedankengang in die entgegen gesetzte Richtung: Bekanntermaßen spielt auch Cortisol eine große Rolle bei der Regulation des fein abgestimmten Tag-Nacht-Rhythmus, sozusagen als Gegenspieler von Melatonin. Niemand käme auf die Idee, dieses Hormon zum besseren Durchstarten in den Tag leichtfertig einzunehmen.

Um zum Ursprung der Frage zurückzukommen, sollte einen zunächst beschäftigen, woher der schlechte Schlaf rührt oder woran man überhaupt festmacht, dass man unter Schlafstörungen leidet. Und hier sehe ich eine große Chance, wenn Betroffene mit der Vorstellung, Melatonin könne ihnen vielleicht helfen, in die Apotheke kommen. Klar ist, dass Personen mit unbehandelten Depressionen und Angststörungen nicht versuchen sollten, Schlafstörungen, die Ausdruck ihrer Krankheit sind, mit Melatonin selbst zu therapieren. Auch Schlafstörungen aufgrund von organischen Erkrankungen gehören nicht in die Rubrik Selbstmedikation. Hier sind Ärzte und Therapeuten gefragt, um einerseits zugrundeliegende Erkrankungen oder Schmerzen zu behandeln, wodurch sich wiederum der Schlaf bessert, und ferner Strategien mit psychisch erkrankten Betroffenen zu entwickeln, um ihnen beispielsweise Sorgen und Ängste zu nehmen. Echte Schlaferkrankungen, wie eine Schlafapnoe, müssen darüber hinaus im Schlaflabor abgeklärt werden.

Dr. Verena Stahl

Unterstützende Fragebögen bei der Beratung einsetzen

Bei gelegentlich auftretenden Schlafproblemen können auch Apotheker und PTA – bitte mit viel Geduld und Verständnis – wichtige Tipps zur Schlafhygiene geben. Dabei ist es besser, zunächst die individuellen Schlaf- und Lebensgewohnheiten zu erfragen und entsprechend bei Auffälligkeiten einzuhaken, als alle uns bekannten Hinweise herunterzurattern. Unter Umständen ist hier der unterstützende Einsatz von Fragebögen zur Schlafqualität und -umgebung hilfreich. Statt zu erzählen, dass ein langer Mittagsschlaf oder Kaffee am Nachmittag kontraproduktiv sind, was die meisten bereits wissen, stellen Sie lieber konkrete Fragen. Zum Beispiel zu den Essgewohnheiten, und vielleicht treffen Sie ja dann auf jemanden, der gelegentlich große, fettige oder eiweißreiche Portionen am Abend isst und sich dann mit Sodbrennen beim Einschlafen plagt. Dem kann Melatonin auch nicht helfen. Oder fragen Sie bei Personen mit bekannter Blasenschwäche nach den Trinkmengen, die abends konsumiert werden. Vergessen Sie nicht, die Arzneimitteltherapie des Patienten auf mögliche Störquellen für die Nachtruhe zu untersuchen. Da kann von uns ein entscheidender Hinweis kommen, und wenn es nur der verspätete Einnahmezeitpunkt der Diuretika- oder Glukokortikoidtherapie ist. Ein Melatonin-Kaufwunsch kann also der Türöffner schlechthin zu einem klärenden Gespräch sein, und man sollte sich ein, zwei Einstiegsfragen überlegen, damit es zu diesem Gespräch kommt. 

Kann man Melatonin mit anderen Schlafmitteln kombinieren?

Ist eine Kombination mit anderen Schlafmitteln sinnvoll, um eventuell deren Dosis zu reduzieren?

Stahl: Der Schlafmitteleinsatz, vor allem der ungerichtete, wird ja seit Langem kritisch betrachtet. Er kommt nicht ohne Beeinträchtigung der Vigilanz und des Reaktionsvermögens aus und geht dementsprechend mit einem hohen Sturzrisiko und vielen damit verbundenen Folgeproblemen einher. Auch aufgrund einiger anderer assoziierter Risiken sollten Schlafmittel nur kurzzeitig und für maximal zwei (Antihistaminika) bis vier (Benzodiazepine, Z-Substanzen) Wochen (einschließlich Absetzphase) eingenommen werden. Diese Empfehlung geht allerdings an der Realität vorbei, und die Dauereinnahme der genannten Substanzen ist eher die Regel als die Ausnahme. Wenn Patienten an ihren Schlafmitteln klammern, hat das dann häufig damit zu tun, dass sie sich einen Schlaf ohne Medikamente schlichtweg nicht mehr vorstellen können oder Absetzversuche kläglich gescheitert sind.

Verschiebt man das ursächliche Schlafproblem?

Es ist daher eine interessante Überlegung, ob das als nebenwirkungsärmer angesehene Melatonin hier zu „Einspareffekten“ beitragen könnte. Hiermit verschiebt man aber meiner Meinung nach eher das ursächliche Problem und erzielt bei gleichzeitiger Einnahme unkalkulierbare Effekte. Das sollte man nicht auf eigene Faust ausprobieren. Ich halte es für sinnvoller, chronische Schlafmittelanwender, bei denen keine Indikation für einen längerfristigen Gebrauch besteht, multiprofessionell zu unterstützen und sie bei der schrittweisen, über einen langen Zeitraum durchgeführten Entwöhnung, zu begleiten. Unbedingt müssen dabei im Vorfeld bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden, zum Beispiel eine Verbesserung der Schlafumgebung und die Etablierung von festen Einschlafritualen oder Entspannungstechniken. Auch könnten begleitend eingesetzte pflanzliche Sedativa oder pflanzliche Hypnotika helfen, dem Schlafmittelgebrauch abzuschwören. Das Ganze ist zugegebenermaßen eine Idealvorstellung, aber keinesfalls eine utopische.

Mit 0,5 mg Melatonin starten

Welche Dosierungen sind „ungefährlich“ und einen Therapieversuch mit Melatonin wert?

Stahl: Die Spanne an angebotenen Verzehrmengeneinheiten (von Wirkstärken darf man ja streng genommen nicht reden) ist bei Melatonin-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln erschreckend immens. Die meisten Firmen bieten Produkte mit Einzeldosen von 0,5 mg aufwärts an. Laut gesundheitsbezogener Aussagen der Hersteller kann 1 mg Melatonin zur Verkürzung der Einschlafzeit eingenommen werden, bei Jetlag-Symptomen sind es 0,5 bis 5 mg Melatonin. Wenn nichts gegen einen Therapieversuch mit Melatonin spricht, würde ich auch bei Einschlafstörungen zunächst die niedrigste verfügbare Wirkstärke empfehlen, da schon mit 0,5 mg spürbare Effekte eintreten sollten.  Bei der Einnahmezeit muss man sich im Übrigen herantasten. Das kann von zwei Stunden bis eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen reichen und muss individuell ermittelt werden.

Schlafprotokoll führen

Da die Langzeitwirkungen einer kontinuierlichen Melatonineinnahme nicht bekannt sind, sollte man Folgendes beachten: Werden in den ersten zwei Wochen der Einnahme keine Verbesserungen beobachtet, sollte man es bei diesem kurzen Therapieversuch belassen. Hilfreich ist, die Einnahme durch Führen eines Schlafprotokolls zu begleiten, um Veränderungen objektivieren zu können. Wenn man der Meinung ist, dass Melatonin einem zu einem besseren Schlaf verhilft, sollte man es nicht länger als zwei Monate einnehmen, am besten nur sporadisch.

Doch welchem schlaflosen Patienten kann Melatonin nun tatsächlich helfen und welche Einnahmehinweise sollten dabei beachtet werden? Das erfahren Sie am 25. März 2022 bei der INTERPHARM online.

Programm-Infos

Pharmazeutischer eKongress online 2022

Melatonin in aller Munde - Was das Hormon wann bewirken kann

Referentin: Dr. Verena Stahl, Apothekerin

Freitag, 25. März 2022, 15:50 bis 16:35 Uhr (Livestream) 

Weitere Informationen zum Programm und zur Anmeldung finden Sie hier sowie unter www.interpharm.de.



Celine Müller, Apothekerin, Redakteurin DAZ.online (cel)
redaktion@daz.online


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1 Kommentar

Wert der Ausbildung

von Thomas Kerlag am 18.03.2022 um 8:50 Uhr

Diese Referenten müssen mal die Realität begreifen, dass sie für Vorträge gutes Geld erhalten.
Wir für Fragebogen ausfüllen nicht.
Nach langer Ausbildung kann man nicht mehr auf zukünftige Möglichkeiten verwiesen werden-
Himmelreich. Manche müssen jetzt ihre Familie ernähren

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