Fünf Jahre medizinisches Cannabis

„Es existiert nicht die eine Therapieform“

Stuttgart - 10.03.2022, 07:00 Uhr

Laut Apotheker Dr. Dennis Stracke sind orale Darreichungsformen wie Lösungen und Extrakte besser dosierfähig und damit therapeutisch besser steuerbar, als inhalative. (Foto: cendeced / AdobeStock)

Laut Apotheker Dr. Dennis Stracke sind orale Darreichungsformen wie Lösungen und Extrakte besser dosierfähig und damit therapeutisch besser steuerbar, als inhalative. (Foto: cendeced / AdobeStock)


Als am 10. März 2017 der Startschuss für die Versorgung schwer erkrankter Menschen mit Medizinalcannabis fiel, war das Medieninteresse groß. Die neuartige Therapieoption wird in der öffentlichen Wahrnehmung mitunter auf die inhalative Anwendung der Blüten reduziert. Dabei gibt es nicht die eine Applikationsform für alle Patienten. Beim Verband der Cannabis versorgenden Apotheken (VCA) setzt man sich daher für einen interdisziplinären Erfahrungs- und Wissensaustausch ein.

Im Januar 2017 verabschiedete der Bundestag sein „Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“, das genau heute vor fünf Jahren in Kraft trat. Chronisch und vor allem schwer erkrankte Menschen haben seitdem Zugang zu medizinischem Cannabis bei entsprechender Indikation. Zuvor war eine Verschreibung THC- oder Cannabidiol-haltiger Zubereitungen nur nach individueller Antragsstellung möglich. Cannabisblüten konnten von den Patientinnen und Patienten ausschließlich im Rahmen einer Ausnahmegenehmigung bezogen werden, weil diese als nicht verkehrs- und verordnungsfähig eingestuft waren. Seit März 2017 haben nun erheblich mehr Menschen Zugang zu dieser neuartigen Therapieoption. Mittlerweile existieren neben Cannabisblüten, Cannabisextrakten auch oromukosale Applikationsformen auf Cannabisbasis, die in Apotheken zubereitet werden können.

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Statistiken aus dem System der gesetzlichen Krankenkassen machen deutlich, dass es sich um eine dynamische Marktentwicklung mit erheblichen Zuwachsraten handelt: Laut Analysen der GKV-Arzneimittel-Schnellinformation (GAMSI) betrug der Bruttoumsatz rund 27 Millionen Euro in 2017, 73,5 Millionen in 2018, 123 Millionen in 2019 sowie 165 Millionen in 2020. Für das vergangene Jahr könnten die prognostizierten Ausgaben bei mehr als 170 Millionen Euro liegen, basierend auf den GAMSI-Daten der ersten drei Quartale 2021.

Apotheker Dr. Dennis Stracke ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender im Verband der Cannabis versorgenden Apotheken (VCA) und kennt die Herausforderungen der Anfangszeit. Vielen Ärztinnen, Ärzten sowie Apothekerinnen und Apothekern, die zuvor nur wenige bis gar keine Berührungspunkte mit Cannabinoid-basierten Arzneimitteln hatten, fehlte es laut Stracke an ausreichender Expertise und Routine im Umgang mit dieser Therapieform – vor allem in Bezug auf mögliche Einsatzmöglichkeiten. Es fehlte zugleich an ausreichenden und zufriedenstellenden Informationen zu Dosierungen, Dosistitrationen sowie Wechsel- und Nebenwirkungen. Kurzum: „Man tat sich schwer, Cannabis indikationsbezogen einzusetzen, da die Bedeutung ‚Rezepturarzneimittel‘ nicht jedem vertraut war“, erläutert Stracke im Gespräch mit der DAZ. Hinzu kamen in den ersten beiden Jahren „massive Versorgungsengpässe von Cannabisblüten“. Die Patienten konnten nur unter schwierigen Bedingungen lückenlos versorgt werden. Unter diesem Eindruck gründeten vier Apotheker Anfang 2019 den VCA, um Bürokratie und Komplexität zu reduzieren und Apotheken und Patienten den Umgang mit der Cannabismedizin zu erleichtern. Zugleich setzt sich der Fachverband für einen interdisziplinären Erfahrungs- und Wissensaustausch ein.

Medizinalcannabis eine „sehr wertvolle Therapieoption“

Dass die mediale und vor allem öffentliche Aufmerksamkeit mitunter auf die Verordnung und Erstattung der Blüten zur inhalativen Anwendung fokussiert ist, erkennt auch Apotheker Stracke. Doch er hält die Akzeptanz der Verordner für orale Darreichungsformen wie Lösungen und Extrakte für viel höher. „Dies liegt insbesondere daran, dass flüssige Arzneiformen besser dosierfähig und damit therapeutisch sehr gut steuerbar sind.“ Cannabisblüten hingegen ließen sich mit den aktuell verfügbaren Vaporisatoren nur unzureichend dosieren, auch wenn sie den jeweiligen Patientinnen und Patienten sehr individuelle Dosierungsschemata und damit eine selbstbestimmte Therapie eröffneten. Häufig seien es Personen mit Cannabis-Vorerfahrungen, die den Wunsch nach einer Blütentherapie äußern. „Unter Berücksichtigung der Pharmakokinetik eines schnellen Wirkungseintritts ist das Risiko für Nebenwirkungen allerdings hier etwas höher als bei einer oralen Darreichungsform“, gibt Stracke zu Bedenken. Dennoch existieren viele Indikationen, bei denen eine inhalative Applikation – entweder der Blüten oder ethanolhaltiger Extrakte – sinnvoll seien.

Auf die Frage, welche Applikationsform der VCA für ideal hält, antwortet Stracke: „Es existiert nicht die eine Therapieform.“ Man orientiere sich bei der Auswahl vielmehr an der Indikation und krankheitsbelastenden Symptomatik, die es zu behandeln gilt. „Einschießende Spastiken oder Durchbruchschmerzen erfordern eine schnelle Wirkung, die nur mittels einer inhalativen Therapie erreicht wird. Bei anderen Schmerzsymptomatiken, zur Spastikprophylaxe oder bei Bewegungsstörungen eignen sich orale Darreichungsformen mit einer längeren Wirkung.“ Auch eine Kombination aus inhalativer und oraler Medikation wäre denkbar. Der VCA rechnet damit, dass sich zukünftig noch weitere Applikationen etablieren werden, wie beispielsweise transdermale, nasale oder rektale Darreichungsformen.

80.000 bis 100.000 GKV-Patienten

Aktuell geht man von 80.000 bis 100.000 GKV-Patienten aus, die mit Cannabinoid-basierten Arzneimitteln behandelt werden. Unter Einbeziehung der Privatversicherten und Selbstzahlern könnte es auf 150.000 bis 200.000 Menschen hinauslaufen. Für den VCA stellt Medizinalcannabis eine „sehr wertvolle Therapieoption“ dar. Es habe sich gezeigt, dass Cannabinoide nicht nur gezielt bei bestimmten Indikationen und Symptomen wirkungsvoll eingesetzt werden können, sondern sich auch positiv auf die Lebensqualität auswirken. Durch den Einsatz könnten auch Dosierungen bestimmter therapiebegleitender Medikationen reduziert werden.

Aus drogenpolitischer Sicht hält Stracke die Bestrebung der aktuellen Bundesregierung, Cannabis zu Genusszwecken zu legalisieren, für einen längst überfälligen Schritt. Ob und inwiefern ausschließlich Apotheken für die Abgabe prädestiniert wären, ist in seinen Augen noch nicht final entschieden und nach wie vor diskussionswürdig. Allerdings sollte die Abgabe aus Sicht des VCA dann nicht in der Offizin einer Apotheke erfolgen, sondern in separaten Räumlichkeiten. So könnte die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit Medizinalcannabis strikt von den Freizeitkonsumenten abgegrenzt werden, „um die medizinische Versorgung zu bewahren und zu schützen“.



Dr. Armin Edalat, Apotheker, Chefredakteur DAZ
redaktion@daz.online


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