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Cannabis-Report 2020
Glaeske: „Cannabis ist kein Wundermittel!“
Seit Inkrafttreten des Cannabis-Gesetzes sind die GKV-Ausgaben für Cannabinoide in Deutschland sprunghaft angestiegen. Dies stellen die Autoren des Cannabis-Reports 2020 fest, den die BKK Mobil Oil gemeinsam mit dem Forschungszentrum SOCIUM der Universität Bremen erarbeitet hat. Sie fordern eine wissenschaftsbasierte Einschränkung der Rahmenbedingungen für die Verordnung. Könnte ein eigenes Rezeptformular analog dem T-Rezept helfen?
Mit dem „Cannabis-Gesetz“ von März 2017 wurde die Verordnung von Cannabinoiden zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) mit Erlaubnisvorbehalt ermöglicht. Inzwischen werden mehrere Zehntausend Patient:innen hierüber therapiert – und das nicht immer mit einer belastbaren Begründung. Das meinen jedenfalls die Autoren des Cannabis-Reports 2020, den die BKK Mobil Oil zusammen mit dem Forschungszentrum SOCIUM der Universität Bremen unter Leitung von Gerd Glaeske erarbeitet hat.
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Mit rund einer Million Versicherten gehört die seit 1952 bestehende BKK Mobil Oil zu den Top 20 im System der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland.
Plus 500 Prozent in vier Jahren
Der Einsatz von medizinischen Cannabinoiden in der Therapie nimmt immer mehr an Bedeutung zu, bemerkt der Vorsitzende des Vorstandes der BKK Mobil Oil Mario Heise in seinem Vorwort zu dem Report. Die aktuellen Analysen des GKV Arzneimittelschnellinformationssystems (GAMSI) zeigen danach eine dynamische Marktentwicklung mit erheblichen Zuwachsraten: Rund 27 Millionen Euro in 2017, 73,5 Millionen in 2018, 123 Millionen in 2019 sowie prognostizierte Ausgaben für Cannabinoide in 2020 in Höhe von 151 Millionen Euro, basierend auf den Daten der ersten beiden Quartale, belegen dies mehr als deutlich. Das entspreche einem Zuwachs von mehr als 500 Prozent in vier Jahren, rechnet Studienleiter Glaeske in einer Pressemitteilung zum Cannabis-Report 2020 vor.
Applikationsformen im Markt
Cannabis für den medizinischen Gebrauch umfasst den Einsatz von Fertigarzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol sowie Nabilon und den Cannabis-Extrakt Nabiximols, und zwar innerhalb der zugelassenen Anwendungsgebiete (In-Label-Use) und seit März 2017 auch außerhalb dessen (Off-Label-Use). Weiterhin können Apotheken Rezepturen mit Cannabisextrakten oder Dronabinol als Kapseln, Lösung zur Einnahme oder zur Verdampfung auf Betäubungsmittelrezept abgeben und zudem Cannabisblüten für Teezubereitungen oder zur Verdampfung zulasten der GKV abrechnen.
Unverarbeitete Blüten auf der Liste ganz oben
Für den Cannabis-Report 2020 hat die BKK Mobil Oil gemeinsam mit Glaeskes Arbeitsgruppe seine Arzneimittelabrechnungen für Cannabis-Verordnungen von 2017 bis Oktober 2019 analysiert. 1.317 Anträge auf Kostenübernahme nach § 31 Absatz 6 SGB V wurden in diesem Zeitraum gestellt und rund zwei Drittel davon bewilligt. Als erstaunlichstes Ergebnis der Studie bezeichnen die Experten, dass im Jahr 2019 62 Prozent der Ausgaben auf unverarbeitete Cannabisblüten und Blüten in Zubereitungen entfielen. „Archaisch anmutende Therapien in Zeiten der Verfügbarkeit von standardisiert hergestellten und im Markt verfügbaren zugelassenen Cannabis-Produkten und vor allem gut geprüften, wirksamen und vielfach erprobten Schmerzmitteln“, meint Studienleiter Glaeske.
Weit überwiegend junge Männer in der Hochkostengruppe
Nach der Analyse der Ausgaben für Cannabinoide je Versicherten sind wenige (rund acht Prozent) für einen Großteil (über 50 Prozent) der Ausgaben verantwortlich. Weitere Auffälligkeiten machen die Studienautoren bei den „Hochkostenfällen“ mit mehr als 15.000 Euro im Analysezeitraum aus. Zum einen fallen diese in den Bereich der unverarbeiteten Cannabisblüten und Blüten in Zubereitungen. Zum anderen liegt der Anteil der männlichen Patienten in dieser Gruppe bis zu zehnfach höher als der bei weiblichen. Außerdem sind die männlichen Antragsteller meist im Alter von 20 bis 29 Jahren, während Frauen erst ab dem Alter 30 bis 39 Lebensjahre Cannabinoide erhielten. Stutzig machten die Experten auch die Tagesdosen, die nach ihren Berechnungen mitunter um ein Vielfaches über denen des staatlichen Cannabisprogrammes der Niederlande lagen. Dies lasse auch die Frage aufkommen, ob solche Dosierungen noch mit einer verantwortungsvollen Versorgung in Einklang zu bringen seien oder ob getrocknete Cannabisblüten auch als Rauschmittel „auf Rezept“ missbraucht oder sogar weiterverkauft werden, gibt der Versorgungsforscher Glaeske zu bedenken.
In-label- und Off-label-Verordnungen
Ein weiteres beunruhigendes Ergebnis: Lediglich ein Fünftel der Antragsteller erhielt Cannabis-basierte Arzneimittel im Rahmen gut geprüfter und zugelassener Anwendungsgebiete. Dazu gehören vor allem die spezialisierte ambulante Palliativversorgung von Krebspatient:innen sowie neurologische Leiden oder Anorexie. Ein Großteil bekam diese für Indikationen, die klinisch nicht belegt sind, zum Beispiel aufgrund eines chronischen Schmerzsyndroms (27 Prozent), wegen anhaltender Rückenschmerzen (7 Prozent) oder auch wegen Spastik oder Polyneuropathie (6 bzw. 5 Prozent). „Also überwiegend für Indikationen, in denen eine Reihe von Studien gezeigt haben, dass THC-haltige Medikamente im Mittel keine relevante Schmerzlinderung erzeugt“, kommentiert der Schmerzmediziner Christoph Maier, ehemaliger Chefarzt der Schmerzklinik an der Universität Bochum. Weiterhin fiel auf, dass auch psychiatrische Diagnosen wie Depression, Epilepsie oder Schizophrenie genannt wurden, die bei zugelassenen Fertigarzneimitteln in Fach- und Gebrauchsinformationen als Kontraindikationen aufgeführt werden.
Besonderes Rezept und Nutzenbewertung
Abschließend sprechen die Autoren des Cannabis-Reports 2020 einige Empfehlungen aus, mit denen die Anwendung von Cannabinoiden im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung auf eine rationalere Basis gestellt werden könnte. So raten sie dazu, eine Einschränkung der Verordnung auf Ärzte mit besonderer Sachkunde bzw. Facharztweiterbildung anzustreben. Ein eigenes Rezeptformular (C-Rezept) für die Verordnung von Cannabinoiden analog dem T-Rezept könnte der Ärzteschaft außerdem den Status einer zumeist experimentellen Therapie besser verdeutlichen. Außerdem sollte die Anwendung von Cannabisblüten auf klinische Zulassungsstudien beschränkt werden. Angesichts ihrer Befunde werde die Forderung nach einer Nutzenbewertung der gesamten Cannabis-Anwendungspalette immer lauter, schreiben die Experten weiter. „Cannabis ist schließlich kein Wundermittel!“, fasst Glaeske zusammen. Er spricht sich deshalb nachdrücklich dafür aus, wie bei allen neuen Arzneimitteltherapien schnellstens eine AMNOG-Prüfung beim gemeinsamen Bundesausschuss nachzuholen.
1 Kommentar
JA leider
von Andreas Dömling am 16.03.2021 um 13:37 Uhr
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Cannabis kein Wundermittel...
von pille62 am 16.03.2021 um 13:11 Uhr
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