Phytotherapie

Mit dem Kleinen Gold­regen gegen die Angst

Welches Potenzial in der traditionellen mexikanischen Droge steckt

Für die Phytotherapie von Angststörungen werden in der traditionellen europäischen Medizin vorrangig Drogen zur Reduktion von Stress, Unruhezuständen, Schlaflosigkeit und Erregungszuständen eingesetzt. Damit beschränken sich die therapeutischen Optionen vor allem auf Lavendel bzw. Lavendelöl [1], zumal es für Kava-Kava-Zubereitungen wegen des ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses keine HMPC-Monografie gibt [2]. Auch in Deutschland gibt es seit 2019 keine zugelassenen Kava-Kava-Präparate mehr. Trotz neuer klinischer Untersuchungen zur angstlösenden Wirksamkeit von Lavendelöl als Einschlafhilfe [3] oder als Aromatherapie zur Beruhigung und Stressreduktion beim Kaiserschnitt [4] besteht nach wie vor der Wunsch nach weiteren phytotherapeutischen Möglichkeiten, vor allem bei der generalisierten Angststörung. Kombinationen von Drogen wie Lavendelblüten, Baldrianwurzeln, Melissenblättern, Pestwurzwurzeln und Passionsblumenkraut, die in klinischen Studien stressreduzierende Effekte zeigen [5], sind sicher eine Option, die Zahl der Benzodiazepin-Verordnungen zu reduzieren. Eine phytotherapeutische Alternative mit nachgewiesener biologischer Wirkung und klinischer Wirksamkeit bei Angststörungen könnte der Kleine Goldregen (Galphimia glauca) sein. | Von Matthias Melzig

Bei der Suche nach entsprechenden Drogen spielen auch heute ethnomedizinische Aspekte weltweit (wieder) eine Rolle, was die Vielzahl von Veröffentlichungen in der wissenschaftlichen Literatur beweist. Dabei richtet sich der Blick zumeist nach Osten, denn der Schwerpunkt liegt gegenwärtig auf der Untersuchung von Arzneidrogen der Traditionellen Chinesischen Medizin. Allein von 2009 bis 2020 liegen 8593 Berichte zu klinischen Studien mit TCM-Drogen aus China vor [6]. Unabhängig von der Relevanz und Qualität dieser Studien muss man die enormen Anstrengungen zur Kenntnis nehmen, wie eine traditionelle Therapierichtung seit vielen Jahren einer wissenschaftlichen Bewertung unterzogen wird. Bei neuen, innovativen Drogenzubereitungen zur Behandlung von Angststörungen wird man hier bisher allerdings nicht fündig. Zwar werden verschiedene traditionelle Zubereitungen klinisch untersucht, allerdings sind deren biologische Wirkungen aus der Tradition heraus nur unzureichend definierbar, da die TCM in ihrem Selbstverständnis ursprünglich nicht naturwissenschaftlich begründet ist.

Foto: Hatori_Shisuka/AdobeStock

Galphimia glauca Der Kleine Goldregen (Synonym: Thryallis glauca) gehört zur Familie der Malpighiaceae und ist in Mittelamerika / Mexiko heimisch. Die Pflanze wird bis zu 1,5 Meter hoch und trägt im Sommer zahlreiche gelbe, sternförmige Blüten an langen auffälligen Trauben. Die Blätter sind eiförmig, dunkelgrün (glauca = blaugrün) und färben sich im Herbst rot.

Pflanzliche Drogen aus Mittel- und Südamerika

Für die Suche nach neuen Arzneidrogen lohnt daher auch der Blick nach Westen, genauer nach Mittel- und Südamerika, wo es lange vor der lateineuropäischen Entdeckung des Kontinents medizinische Behandlungsverfahren auf der Basis von pflanzlichen Drogen gab, die bis heute traditionell genutzt werden und Eingang in internationale Behandlungs-Leitlinien gefunden haben, ohne dass die europäische Phytotherapie dies bisher aktiv nutzt. Im Vergleich zu den oben genannten TCM-Drogen sind Untersuchungen zu tra­ditionell verwendeten Arzneipflanzen indigener Bevölkerungsgruppen auf dem amerikanischen Doppelkontinent in der wissenschaftlichen Literatur unterrepräsentiert.

Zu den bis heute traditionell genutzten Arzneipflanzen gehört Galphimia glauca Cav.. Eine aktuelle wissenschaftliche Evaluierung bewertet ihren therapeutischen Einsatz zur Behandlung von generalisierten Angststörungen entsprechend der World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) als relevant und evidenzbasiert [7]. Bisher wird diese Droge phytotherapeutisch fast ausschließlich in Südamerika genutzt, obwohl nur Nahrungsergänzungsmittel verfügbar sind. Auch in Europa ist kein entsprechendes Phytotherapeutikum mit geprüfter Qualität erhältlich [8].

Galphimia glauca, auch als Kleiner Goldregen bezeichnet, gehört zur Familie der Malpighiaceae und ist endemisch in Mexiko. Daher ist verständlich, dass Berichte über die traditionelle Nutzung der Droge bei psychischen Erkrankungen bis in die Gegenwart hauptsächlich aus dieser Region stammen. Obwohl bereits 1552 im „Libellus de Medicinalibus Indorum Herbis” die Drogenanwendung in der Aztekischen Medizin ins Lateinische übertragen wurde und die Kenntnis darüber nach Europa kam [9], gibt es erst seit Anfang der 1990er-Jahre wissenschaftliche Publikationen zu phytochemischen und pharmakologischen Untersuchungen der Droge in internationalen Zeitschriften.

Sedativ wirkende Inhaltsstoffe

Das Inhaltsstoffspektrum der Krautdroge umfasst neben phenolischen Verbindungen, wie Gallussäure und Gallussäureester, auch Flavonoide, wie Quercetin, und interessante Triterpene, wie die Galphimine A bis H, die zu den Nor-seco-Triterpenen gehören und über einen auffälligen siebengliedrigen Lactonring verfügen (s. Abb. 2) [9]. Pharmakologische Untersuchungen an methanolischen Extrakten aus der Krautdroge zeigten sedative Eigenschaften im Tierversuch. Als verantwortlicher Inhaltsstoff wurde Galphimin B identifiziert [10]. Pharmakologische Untersuchungen wiesen nach, dass dieses Triterpen die synaptische Aktivität dopaminerger Neuronen im ventralen tegmentalen Bereich (VTA) über einen nicht-GABAergen Mechanismus veränderte [11]. Standardisierte Drogenextrakte induzierten im Tier­versuch weder eine Lebertoxizität noch genotoxische Effekte [12]. Ausgehend davon wurden vor allem in Mexiko randomisiert-kontrollierte Studien mit auf Galphimin B standardisierten Extrakten durchgeführt.

Galphimine sind eine Gruppe von Nor-seco-Triterpenen, die über einen siebengliedrigen Lactonring verfügen.

In der ersten, 2007 publizierten Studie, wurden die therapeutische Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit im Vergleich mit Lorazepam bei Patienten mit generalisierter Angststörung untersucht. Mittels einer kontrollierten, randomisierten, doppelblinden klinischen Studie wurden ambulante Patienten beiderlei Geschlechts, die den DSM-IV-Diagnosekriterien mit einem Wert von > 19 Punkten auf der Hamilton-Angstskala (HAM-A) erfüllten, eingeschlossen. Insgesamt wurden 152 Patienten mit einem durchschnittlichen Lebensalter von 37,8 Jahren und einer seit ca. 4,1 Jahren bestehenden generalisierten Angststörung in die Untersuchungen einbezogen. Die Versuchsgruppe (72 Probanden) wurde vier Wochen lang zweimal täglich mit Galphimia-Extrakt in Kapseln behandelt. Jede Kapsel enthielt 310 mg Galphimia-Extrakt mit einer Endkonzentration von 0,348 mg Galphimin B. Die Kontrollgruppe erhielt Lorazepam (1 mg) unter den gleichen Bedingungen. Ab der ersten Woche der Behandlung zeigte der Galphimia-Extrakt eine signifikante angstlösende Wirkung, vergleichbar mit Lorazepam. Der therapeutische Effekt, nachgewiesen als prozentuale und absolute Reduktion der Werte auf der Hamilton-Angstskala, war bei beiden Behandlungen ähnlich. Der Galphimia-Extrakt reduzierte den HAM-A-Wert um 17,65 Punkte (61,2%) und Lorazepam um 17,65 Punkte (60,29%). Beide Behandlungen führten zu keiner Veränderung der Leber- und Nierenfunktion und wurden als sicher eingeschätzt. Bezüglich der Neben­wirkungen erwies sich der Galphimia-Extrakt als besser verträglich als Lorazepam, es wurde eine deutlich geringere tageszeitliche Sedierung beobachtet [13].

Ausgehend von diesen Erkenntnissen bestand das Ziel einer weiteren doppelblinden, randomisierten, Lorazepam-kontrollierten klinischen Studie darin, die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit eines wässrigen Galphimia-Spezialextraktes mit zweistufigem Trocknungsprozess bei Patienten mit generalisierter Angststörung über einen Zeitraum von 15 Wochen zu untersuchen. Studienteilnehmer waren 191 erwachsene Männer und Frauen mit der Diagnose einer generalisierten Angststörung (20 oder mehr Punkte auf der Hamilton-Angstskala) und ohne anxiolytische Behandlung im Vormonat. Die Verumgruppe erhielt eine oder zwei Kapseln (standardisiert auf 0,175 mg Galphimin B pro Kapsel) zweimal täglich, während zwölf Wochen plus drei Entzugswochen. Die Kontrollgruppe wurde in gleicher Art und Weise mit 0,5 mg Lorazepam pro Kapsel behandelt. Als primärer Endpunkt wurde die anxiolytische Wirksamkeit (≥ 50% Verringerung des Ausgangswertes auf der Hamilton-Angstskala) gemessen. Verträglichkeit und Sicherheit waren sekundäre Endpunkte. 104 Patienten schlossen die Studie ab, davon 51 in der Verumgruppe. Die Behandlung mit Galphimia-Spezialextrakt verringerte den Wert auf der Hamilton-Angstskala auf 11,51 ± 8,27 Punkte und Lorazepam auf 12,40 ± 8,07 Punkte (Varianzanalyse mit wiederholten Messungen; p = 0,05). Im Ergebnis bestätigte diese Untersuchung die stärkere Wirksamkeit des Galphimia-Spezialextraktes (standardisiert auf 0,175 mg Galphimin B pro Kapsel) bei einer generalisierten Angststörung im Vergleich zu 0,5 mg Lorazepam pro Kapsel [14]. Mit ähnlichem Studiendesign wurde 2019 eine weitere Studie publiziert, die den Galphimia-Spezialextrakt (standardisiert auf 0,374 mg Galphimin B pro Dosis) im Vergleich mit Alprazolam (1 mg pro Dosis) über zehn Wochen an 167 Patienten mit generalisierter Angststörung untersuchte. Die Wirksamkeit unterschied sich nicht von der aus den vorangegangenen Studien. Ein Wirkungsunterschied zu Alprazolam war statistisch nicht nachweisbar, jedoch traten unter der Behandlung mit standardisiertem Galphimia-Extrakt weniger Fälle von Tagesschläfrigkeit auf [15]. Auch eine Pilotstudie zum Einsatz des Galphimia-Spezialextraktes (standardisiert auf 0,374 mg Galphimin B pro Dosis) bei 34 jungen Erwachsenen über zehn Wochen mit diagnostizierten sozialen Angststörungen erbrachte einen Wirksamkeitsnachweis. Dabei war der pflanzliche Extrakt ähnlich wirksam wie eine Behandlung mit Sertralin (50 mg pro Dosis) [16].

In homöopathischen Zubereitungen gegen allergische Beschwerden verfügbar

Die Arzneipflanze Galphimia glauca Cav. ist in Europa nicht völlig unbekannt, denn unter dem Synonym Thryallis glauca (Poir.) Kuntze sind die getrockneten Blätter und Blüten­stände im Homöopathischen Arzneibuch monografiert. Laut Gelber Liste sind 58 homöopathische Präparate in Deutschland im Handel. Entsprechende Zubereitungen (vor allem D3 und D4) werden gegen allergische Beschwerden wie Heuschnupfen, allergisches Asthma oder Neurodermitis eingesetzt. Es wurden Anfang der 1990er-Jahre auch tierexperimentelle Untersuchungen mit einem methanolischen Pflanzenextrakt an Meerschweinchen (320 mg/kg Körper­gewicht) bezüglich der antiallergischen Wirkung durchgeführt, die eine signifikante Hemmung der durch Allergene oder Plättchen-aktivierenden Faktor induzierten akuten Bronchial­reaktion zeigten. Dabei wurde die Wirksamkeit auf die enthaltenen phenolischen Verbindungen zurück­geführt, Galphimine wurden nicht detektiert, ebenso waren homöopathische Zubereitungen nicht Gegenstand dieser Untersuchungen [17]. Tierexperimentelle Untersuchungen mit homöopathischen Zubereitungen wurden zwar in der Folge auch bei allergischen Beschwerden wie Heuschnupfen durchgeführt, ihre Aussagekraft ist allerdings begrenzt [9].

Gemessen an der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur und der klinischen Studienlage zum phytotherapeutischen Einsatz von Extrakten aus Galphimia glauca als Sedativum und Anxiolytikum einerseits und der Suche nach verträg­lichen und sicher wirksamen Therapeutika bei diesen Indikationen andererseits, ist es eigentlich verwunderlich, dass diese Arzneidroge in Europa bisher nicht beachtet wurde. Fasst man alle Fakten zusammen, dann erscheint Galphimia glauca als eine Arzneipflanze mit therapeutischem Potenzial, die darauf wartet, für die europäische Phyto­therapie entdeckt zu werden! |

 

Literatur

 [1] Community herbal monograph on Lavandula angustifolia Mill., flos. EMA/HMPC 2012, EMA/HMPC/734125/2010

 [2] Assessment report on Piper methysticum G. Forst., rhizoma. EMA/HMPC 2017, EMA/HMPC/450589/2016

 [3] Seifritz E, Kasper S, Möller HJ et al. Effect of anxiolytic drug silexan on sleep – a narrative review. World J Biol Psychiatry 2022;23(7):493-500

 [4] Çalişir F, Urfalioğlu A, Bilal B et al. The effect of lavender aroma­therapy on the level of intraoperative anxiety in caesarean case under spinal anesthesia: A randomized controlled trial. Explore (NY) 2022:1550-8307(22)00212-9, doi: 10.1016/j.explore.2022.11.008

 [5] Keck EM, Nicolussi S, Spura K et al. Effect of the fixed combination of valerian, lemon balm, passionflower, and butterbur extracts (Ze 185) on the prescription pattern of benzodiazepines in hospitalized psychiatric patients-A retrospective case-control investigation. Phyto­ther Res 2020;34(6):1436-1445

 [6] Cao Y, Liao L, Liu X et al. Trend of drug clinical trials in mainland China from 2009 to 2020. Curr Med Res Opin 2022;1-9, doi: 10.1080/03007995.2022.2103960

 [7] Sarris J, Ravindran A, Yatham LN et al. Clinical guidlines for the treatment of psychiatric disorders with nutraceuticals und phytoceuticals: The World Federation of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP) and Canadian Network for Mood and Anxiety Treatment (CANMAT) taskforce. World J Biol Psychiatry 2022:1-32, doi: 10.1080/15622975.2021.2013041

 [8] Bittel M, Rakoyzy, Fröhlich A, Langhorst J. Phytotherapie bei psychiatrischen Erkrankungen in medizinischen Leitlinien. Zschr Phytother 2022;43:112-120

 [9] Sharma A, Angulo-Bejarano, PI, Madariaga-Navarrete A et al. Multidisciplinary Investigations on Galphimia glauca: A Mexican Medicinal Plant with Pharmacological Potential. Molecules 2018;23:2985

[10] Tortoriellot J, Ortega A. Sedative Effect of Galphimine B, a Nor-seco-triterpenoid from Gaiphimia glauca. Planta Med 1993;59:398-400

[11] B Prieto-Gómez B, Tortoriello J, Vázquez-Alvarez A et al. Galphimine B modulates synaptic transmission on dopaminergic ventral tegmental area neurons. Planta Med 2003;69:38-43

[12] Aguilar-Santamaría L, Ramírez G, Herrera-Arellano A et al. Toxicological and cytotoxic evaluation of standardized extracts of Galphimia glauca. J Ethnopharmacol 2007;109:35-40

[13] Herrera-Arellano A, Jiménez-Ferrer E, Zamilpa A et al. Efficacy and Tolerability of a Standardized Herbal Product from Galphimia glauca on Generalized Anxiety Disorder. A Randomized, Double-Blind Clinical Trial Controlled with Lorazepam. Planta Med 2007;73:713-717

[14] Herrera-Arellano A, Jiménez-Ferrer E, Zamilpa A et al. Therapeutic Effectiveness of Galphimia glauca vs. Lorazepam in Generalized Anxiety Disorder. A Controlled 15-Week Clinical Trial. Planta Med 2012; 78: 1529-1535

[15] Romero-Cerecero O, Islas-Garduño AL, Zamilpa A et al. Galphimine-B Standardized Extract versus Alprazolam in Patients with Genera­lized Anxiety Disorder: A Ten-Week, Double-Blind, Randomized Clinical Trial. Biomed Res Int 2019;2019:1037036

[16] Romero-Cerecero O, Islas-Garduño AL, Zamilpa A et al. Therapeutic Effectiveness of Galphimia glauca in Young People with Social Anxiety Disorder: A Pilot Study. Evid Based Complement Alternat Med 2018;2018:1716939

[17] Dorsch W, Bittinger M, Kaas A et al. Antiasthmatic effects of Galphimia glauca, gallic acid, and related compounds prevent allergen- and platelet-activating factor-induced bronchial obstruction as well as bronchial hyperreactivity in guinea pigs. Int Arch Allergy Immunol 1992;97:1-7

Autor

Prof. Dr. Dr. h. c. Matthias F. Melzig, Professor für Pharmazeutische Biologie an der Humboldt-Universität zu Berlin von 1996 bis 2002, seitdem an der Freien Universität Berlin

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