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Arzneimittel und Therapie
Wenn MS-Patienten Natalizumab absetzen müssen
Wechsel auf Ocrelizumab bietet Vorteile
Das seit 2006 in der EU zugelassene Natalizumab (Tysabri®) hilft Menschen mit schubförmig remittierender multipler Sklerose (RRMS). Allerdings erhöht der hocheffektive Antikörper das Risiko, dass Patienten unter der Therapie eine progressive multifokale Leukenzephalopathie entwickeln – eine opportunistische und teils lebensbedrohliche Infektion (s. Kasten „Progressive multifokale Leukenzephalopathie unter Natalizumab“). Was dann? Auf welche Therapie können Patienten wechseln, wenn sie Natalizumab stoppen müssen?
Progressive multifokale Leukenzephalopathie unter Natalizumab
Die progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML) wird durch das John-Cunningham(JC)-Virus verursacht, ist eine Erkrankung des Zentralnervensystems und geht mit ausgedehnter Myelinzerstörung einher. Die Erkrankung trifft vor allem schwer immunsupprimierte Menschen, so beispielsweise Menschen mit multipler Sklerose unter Natalizumab-Therapie. Zu den häufigsten Symptomen einer PML zählen Schwäche, Sprach- und Kommunikationsschwierigkeiten, Sehkraftveränderungen und in manchen Fällen auch Veränderungen der Stimmung oder des Verhaltens. Eine PML kann zu einer schweren Behinderung führen oder tödlich verlaufen (Mortalitätsrate 24% bei mit Natalizumab behandelten Patienten mit bestätigter PML [2]), weswegen Patienten unter Natalizumab sorgfältig zu überwachen sind und der Antikörper bei Verdacht auf eine PML bis zum Ausschluss der Erkrankung zu pausieren ist. Eine bestätigte PML führt zwingend und dauerhaft zum Abbruch einer Therapie mit Natalizumab.
Drei Risikofaktoren lassen sich laut der Fachinformation von Tysabri® für die Entwicklung einer PML ausmachen [3]:
- Vorliegen von Anti-JCV-Antikörpern
- Behandlungsdauer: Vor allem eine langfristige Behandlung über zwei Jahre erhöht das Risiko für eine PML
- Immunsuppressive Therapien vor Anwendung von Natalizumab
Der Fachinformation zufolge kommt es unter Natalizumab „gelegentlich“ (≥ 1/1.000, < 1/100) zu einer PML.
Zugelassen ist Natalizumab mit einem Dosierungsintervall von vier Wochen. Studien legen nahe, dass ein verlängertes Dosierungsintervall von sechs Wochen das Risiko einer PML signifikant reduziert [4]. Zugelassen ist das verlängerte Dosierungsintervall allerdings nicht.
Bereits 2015 gab es zu Tysabri® ein Risikobewertungsverfahren durch den Ausschuss für Risikobewertung im Bereich der Pharmakovigilanz (PRAC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur, an dessen Ende Empfehlungen standen, die das Risiko einer PML reduzieren sollen. Danach sind häufigere MRT-Untersuchungen bei Patienten mit hohem PML-Risiko zu erwägen [5].
Dimethylfumarat, Fingolimod oder Ocrelizumab?
Im Juni 2023 veröffentlichte eine internationale Forschergruppe Ergebnisse einer multizentrischen, retrospektiven Kohortenstudie im Fachjournal „JAMA Neurology“ [1]. Sie hatten bei Patienten mit RRMS untersucht, welche Anschlussbehandlung am wirksamsten ist: Dimethylfumarat (Tecfidera®), Fingolimod (Gilenya®) oder der B-Zell-depletierende Antikörper Ocrelizumab (Ocrevus®). Dazu berücksichtigten die Wissenschaftler im Zeitraum von Juni 2010 bis Juli 2021 1386 Patienten mit einem durchschnittlichen Alter von 41,3 Jahren und einem Frauenanteil von 71%. Sie hatten Natalizumab für mindestens sechs Monate angewendet, wurden nach Absetzen innerhalb von drei Monaten auf Dimethylfumarat (138 Patienten; 9,9%), Fingolimod (823 Patienten; 59,4%) oder Ocrelizumab (425 Patienten; 30,7%) umgestellt und führten die neue Behandlung für wenigstens sechs weitere Monate durch. Patienten, die im vorangegangenen Jahr mehr Schübe erlitten hatten, erhielten eher Fingolimod, gefolgt von Ocrelizumab und Dimethylfumarat.
Als primären Endpunkt definierten die Studienautoren die jährliche Schubrate (annualized relapse rate, ARR) und die Zeit bis zum ersten Schub. Dabei galt als Schub, wenn die Patienten neue oder wiederkehrende neurologische Symptome zeigten, die für mindestens 24 Stunden anhielten und sich nicht auf eine Infektion oder Fieber zurückführen ließen. Als sekundäre Endpunkte interessierten sich die Wissenschaftler dafür, ob sich die bereits bestehende Behinderung der Patienten – gemessen an der EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale) – mit der neuen Therapie verbesserte oder verschlechterte und ob die Patienten die Behandlung ganz beendeten (s. Kasten „Was ist die EDSS-Skala?“).
Was ist die EDSS-Skala?
Anhand der EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale) wird der Schweregrad der Behinderung bei Patienten mit multipler Sklerose eingestuft. Die Skala reicht von null bis zehn (in 0,5er-Schritten) und bewertet Störungen in unterschiedlichen funktionellen Systemen des Körpers:
- Pyramidenbahn, z. B. Lähmungen
- Kleinhirn, z. B. Störungen des Bewegungsablaufs, Tremor
- Hirnstamm, z. B. Sprach- und/oder Schluckstörungen
- Sensorium, z. B. verminderter Berührungssinn
- Blasen- und Mastdarmfunktion, z. B. Harn- und/oder Stuhlinkontinenz
- Sehfunktion, z. B. eingeschränktes Gesichtsfeld
- zerebrale Funktionen, z. B. Wesensveränderung, Demenz
Je nach Anzahl der betroffenen Funktionsbereiche und dem Ausmaß der Einschränkung erfolgt die Abstufung von EDSS-Wert = 0 (keine Symptome, kein Funktionsbereich betroffen) bis EDSS-Wert = 10 (Tod durch MS).
Ergebnisse: Schubrate unter Ocrelizumab am kleinsten
Die jährliche Schubrate lag in der Ocrelizumab-Gruppe bei 0,06. Unter Fingolimod und Dimethylfumarat war sie mit 0,26 beziehungsweise 0,27 signifikant höher als unter einer Ocrelizumab-Therapie (ARR-Ratio = 4,33 bzw. 4,50). Ähnlich positive Ergebnisse zugunsten des B-Zell-depletierenden Antikörpers berichten die Studienautoren auch, wenn es um das Risiko des ersten Schubs nach Therapiewechsel geht: Patienten, die Fingolimod oder Dimethylfumarat einnahmen, hatten ein signifikant höheres Risiko, einen ersten Rückfall zu erleiden, als Patienten, die Ocrelizumab-Infusionen erhielten, und zwar ein 4- beziehungsweise 3,7-mal höheres (Hazard Ratio [HR] = 4,02 bzw. 3,70). Keinen signifikanten Unterschied bei der jährlichen Schubrate oder dem ersten Schub nach Therapieumstellung scheint es hingegen zu machen, ob die Patienten Fingolimod oder Dimethylfumarat erhalten.
Behinderungsprogression oder gar -verbesserung?
Wie wirkten sich die neuen Therapien auf den Behinderungsgrad der Patienten aus? Auch hier punktet Ocrelizumab, denn: Die Einnahme von Fingolimod ging verglichen mit Ocrelizumab mit einem um 49% höheren Risiko einher, dass die Behinderung fortschreitet (HR = 1,49; 95%-Konfidenzintervall [KI] = 1,07 bis 2,07]). Da nur wenige Patienten die Kriterien für eine Behinderungsprogression unter Dimethylfumarat erfüllten, werteten die Studienautoren dieses Patientenkollektiv nicht aus. Keinen Unterschied zwischen der Behandlung mit Ocrelizumab und Fingolimod gab es zudem bei den bestätigten Raten für die Verbesserung der Behinderung (HR = 1,01).
Warum brachen Patienten ihre neue Behandlung ab?
Den Studienautoren zufolge beendeten die auf Fingolimod und Dimethylfumarat umgestellten MS-Patienten ihre Behandlung hauptsächlich aufgrund fehlender Wirksamkeit: 137 von 285 Patienten (48%) und 16 von 51 Patienten (31%). Kam es unter Ocrelizumab zu einem Therapieabbruch, waren vor allem Nebenwirkungen der Grund (11 von 31 Patienten; 35%). Insgesamt war die Abbruchrate unter Fingolimod und Dimethylfumarat 2,57-mal beziehungsweise 4,26-mal höher als unter Ocrelizumab (HR = 2,57; 95%-KI = 1,74 bis 3,80 und HR = 4,26; 95%-KI = 2,65 bis 6,84). Patienten mit Fingolimod-Therapie behielten verglichen mit Patienten unter Dimethylfumarat ihre Behandlung eher bei, die Abbruchrate war um 40% geringer (HR = 0,60; 95%-KI = 0,44 bis 0,84).
Insgesamt bewerten die Studienautoren bei RRMS-Patienten den Wechsel von Natalizumab auf Ocrelizumab positiver als auf Fingolimod oder Dimethylfumarat aufgrund signifikant weniger Schüben pro Jahr, einer längeren Zeit bis zum ersten Schub nach Therapiewechsel, einer geringeren Therapieabbruchrate sowie einer geringeren Behinderungsprogression unter Ocrelizumab. Ihre Studie könne damit bei der Auswahl einer krankheitsmodifizierenden Natalizumab-Folgebehandlung helfen, erklären die Autoren.
Dennoch sind sich die Wissenschaftler auch den Schwächen ihrer Forschungsarbeit bewusst. So sei seit der Markteinführung von Ocrelizumab im Jahr 2018 die Zahl der Patienten, die auf Dimethylfumarat oder Fingolimod umgestellt wurden, „drastisch“ zurückgegangen. Es fehlten somit ausreichend Patientendaten für die zeitgleiche Anwendung der drei Behandlungsoptionen. |
Literatur
[1] Zhu C et al. Comparison Between Dimethyl Fumarate, Fingolimod, and Ocrelizumab After Natalizumab Cessation. JAMA Neurol 2023, doi:10.1001/jamaneurol.2023.1542
[2] Arzt-Information und Management-Leitlinien für Patienten mit Multipler Sklerose, die TYSABRI (i.v. & s.c.) erhalten. Behördlich genehmigtes Schulungsmaterial, Paul-Ehrlich-Institut, Stand: 19. Februar 2021
[3] Fachinformation Tysabri®, Stand: Mai 2022
[4] Ryerson LZ et al. Risk of natalizumab-associated PML in patients with MS is reduced with extended interval dosing. Neurology 2019;93(15):e1452-e1462, doi: 10.1212/WNL.0000000000008243
[5] EMA bestätigt Empfehlungen zur Minimierung des Risikos für die Hirninfektion PML im Zusammenhang mit Tysabri. Informationen der Europäischen Arzneimittel-Agentur, EMA/266665/2016, 25. April 2016
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