Arzneimittel und Therapie

Desvenlafaxin nicht besser als Venlafaxin

Der aktive Metabolit kann bei Major Depression nicht punkten

Episoden einer Major Depression bei Erwachsenen können nun auch in Deutschland mit dem Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Hemmer (SNRI) Desvenlafaxin (Desve­neurax®) behandelt werden. Hierbei handelt es sich um den aktiven Metaboliten der bereits seit vielen Jahren etablierten Substanz Venlafaxin. Bei nahezu identischem Sicherheitsprofil ist Venlafaxin allerdings zuverlässiger wirksam als Desvenlafaxin.

Die Pathophysiologie einer Major Depression und der genaue Wirkmechanismus von Antidepressiva sind bislang nicht vollständig geklärt. Die Wirkung von Serotonin- und Noradrenalin-Reuptake-Hemmern wird auf eine Beeinflussung der entsprechenden zentralen Neurotransmission zurückgeführt. Als dualer Reuptake-Hemmer (SNRI) reduziert Desvenlafaxin – ­eigentlich O-Desmethylvenlafaxin – die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt, wobei die Selektivität für den Serotonin- gegenüber dem Noradrenalin-Reuptake etwa 30-fach höher liegt. Anders als tricyclische Antidepressiva hat Desvenlafaxin keine ­Affinität zu α1-Adrenorezeptoren, ­histaminergen H1- und Muscarinrezeptoren, was potenziell zu einer besseren Verträglichkeit führt.

Foto: Black Brush/AdobeStock

Initiale Suizidgefahr Das Sicherheitsprofil von Venlafaxin und Desvenlafaxin ist nahezu identisch.

Wöchentliche Dosissteigerung

Desvenlafaxin wird zunächst in einer Dosis von einmal täglich 50 mg, unabhängig von den Mahlzeiten, eingenommen. Bei nicht ausreichendem Ansprechen kann in siebentägigen Intervallen eine Dosiserhöhung auf bis zu 200 mg pro Tag stattfinden, wobei auf dosisabhängige Nebenwirkungen zu achten ist. Die Mindestbehandlungsdauer von akuten Episoden einer Major Depression liegt normalerweise bei mehreren Monaten. Der therapeutische Nutzen von Desvenlafaxin ist in regelmäßigen Zeitabständen neu zu überprüfen. Bei Patienten mit schwerer oder terminaler Niereninsuffizienz sollte die Anfangsdosis auf 50 mg jeden zweiten Tag reduziert werden. Im Anschluss kann eine vorsichtige Dosissteigerung erfolgen. Insbesondere bei älteren Personen besteht dabei jedoch ein erhöhtes Risiko für orthostatische Hypotonien. Zur Vermeidung von Absetzsymptomen sollte die Desvenlafaxin-Therapie über mindestens ein bis zwei Wochen ausschleichend stattfinden. Dies ist auch bei der Umstellung von anderen bzw. auf andere Antidepressiva, einschließlich Venlafaxin, zu beachten.

Serotonin-Syndrom-Gefahr

Desvenlafaxin darf wegen der Gefahr eines potenziell lebensbedrohlichen Serotonin-Syndroms nicht zusammen mit Methylenblau oder Monoaminoxidase(MAO)-Inhibitoren wie Linezolid angewendet werden. Zwischen dem Absetzen eines MAO-Hemmers und dem Behandlungsbeginn mit Desvenlafaxin müssen mindestens 14 Tage liegen. Bei umgekehrter Reihenfolge liegt die Karenzzeit bei sieben Tagen. Auch im Zusammenhang mit anderen sero­tonerg wirkenden Substanzen wie Triptanen, SSRI, anderen SNRI, Lithium, Fentanyl und seinen Analoga, Tramadol, Dextromethorphan, Tapentadol und Johanniskraut ist das Risiko eines Serotonin-Syndroms erhöht. Die gleichzeitige Anwendung von Sero­tonin-Präkursoren, wie sie beispielsweise in Tryptophan-haltigen Nahrungsergänzungsmitteln vorkommen, wird ebenfalls nicht empfohlen. Interaktionspotenzial besteht zudem mit CYP3A4-Inhibitoren wie Azol-Anti­mykotika, Makrolid-Antibiotika oder Grapefruit, da die Wirkung und Toxizität von Desvenlafaxin aufgrund der verlangsamten Biotransformation gesteigert werden.

Schlaflosigkeit und Schwitzen

Während der Anwendung von Desvenlafaxin kommt es sehr häufig zu Schlaflosigkeit, Schwindelgefühlen, Kopfschmerzen, Übelkeit, Mundtrockenheit, Verstopfung und Hyper­hidrose. Mögliche schwerwiegende Nebenwirkungen sind Angstgefühle, Albträume, Tachykardien, Palpitationen, Halluzinationen, Manien, Synkopen, Krampfanfälle, Angioödeme und schwere Hautreaktionen wie Stevens-Johnson-Syndrome.

Initiale Suizidgefahr

Die antidepressive Wirkung von Desvenlafaxin tritt erst nach einigen Wochen ein. Das häufig Erkrankungs-­assoziierte Suizidrisiko wird somit nur allmählich reduziert, initial u. U. sogar gesteigert. Daher muss auf mögliche Symptome wie Angstgefühle, Agitiertheit, Panikattacken sowie Aggressivität geachtet und erforderlichenfalls umgehend ärztliche Hilfe angefordert werden. Kinder und Jugendliche neigen unter Antidepressiva wie Desvenlafaxin besonders stark zu suizidalen Verhaltensweisen und auch zu Feindseligkeit, sodass ein Einsatz in diesem Alter nicht empfohlen wird. Falls es insbesondere zu Beginn der Anwendung von Desvenlafaxin zu Akathisien mit als quälend erlebter Ruhelosigkeit kommt, ist eine Dosissteigerung zu vermeiden. Patienten mit Miktionsstörungen, hohem intraokularem Druck, Epilepsie, Tendenz zu Aggressivität, Hypertonie oder relevanten kardio- bzw. zerebrovaskulären Erkrankungen dürfen nur mit Vorsicht und unter besonders engmaschiger Überwachung mit Desvenlafaxin behandelt werden. In klinischen Studien mit dem SNRI wurden dosisabhängig erhöhte Lipidwerte beobachtet. Regelmäßige Kontrollen dieser Parameter sind daher angeraten.

Mögliche Schäden nach Exposition im Mutterleib

Aufgrund bislang sehr begrenzter Erfahrungen darf die Anwendung von Desvenlafaxin bei schwangeren Frauen nur nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen. Es besteht der Verdacht, dass zumindest selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) nach Applikation in der späten Schwangerschaft bei Neugeborenen zu primären pulmonalen Hypertonien führen. Für SSRI und SNRI einschließlich Venlafaxin wurde zudem über Hämorrhagien und Komplikationen berichtet, die bei den Säuglingen eine Unterstützung der Atmung, Sonden­ernährung oder längere Klinikaufenthalte erforderten. Desvenlafaxin geht in die Muttermilch über und kann beim gestillten Säugling schwere Nebenwirkungen aus­lösen. Daher muss eine Entscheidung getroffen werden, ob auf das Stillen oder die antidepressive Behandlung verzichtet werden soll.

Zulassungsstudien

Desvenlafaxin wurde in einer ganzen Reihe von randomisierten, doppelblinden Studien an Patienten mit Major Depression in Dosierungen von 50 bis 400 mg pro Tag geprüft. Vier placebokontrollierte Untersuchungen mit insgesamt etwa 7700 Teilnehmern waren als achtwöchige Kurzzeitstudien zur Behandlung von akuten Depressionen vorgesehen. Die Bewertung der Wirksamkeit erfolgte anhand der für die Beurteilung von Depressionen etablierten, 17-Punkte umfassenden „Hamilton Rating Scale for Depression“ (HAM-D) und der allgemeinen Clinical Global Impression Scale (CGI-I). Desvenlafaxin zeigte sich der Placebogabe überlegen. Bei gemeinsamer Betrachtung aller Studien konnte der HAM-D17-Ausgangswert durch eine Behandlung mit 50 mg, 100 mg oder 200 mg Desvenlafaxin gegenüber Placebo um 1,5, 2,2 bzw. 2,4 Punkte verbessert werden. Etwa 55 bzw. 61% der Patienten aus der Verum-Gruppe erreichten einen CGI-I-Wert von 1 oder 2, entsprechend einer sehr starken bzw. starken Verbesserung des allgemeinen Befindens. Nach Anwendung von Placebo waren es 31 bzw. 45%.

Patienten mit gutem Ansprechen auf eine laufende Therapie mit Desvenlafaxin wurden über 26 Wochen mit dem Antidepressivum weiterbehandelt oder auf Placebo umgestellt. Die Patienten der Desvenlafaxin-Gruppe blieben über einen signifikant längeren Zeitraum stabil als unter Placebo. Nach 26 Therapiewochen war die Rückfall-Wahrscheinlichkeit im Verum-Arm gegenüber der Placebogabe etwa halbiert.

In drei weiteren vergleichenden Studien konnte Desvenlafaxin jedoch nicht überzeugen: In einer placebokontrollierten Untersuchung mit unterschiedlichen Dosierungen von Desvenlafaxin und Venlafaxin war für keinen der beiden SNRI ein Unterschied zur Placebogabe nachweisbar. Im Rahmen einer ähnlich konzipierten Studie erzielte lediglich Venlafaxin bessere Ergebnisse als Placebo, nicht jedoch Desvenlafaxin. In einer weiteren placebokontrollierten Untersuchung diente der SNRI Duloxetin als aktiver Komparator. Während die 100-mg-Desvenlafaxin-Tagesdosis genau wie bei Duloxetin der Placebobehandlung über­legen war, konnte dies für die 50-mg-Dosis nicht belegt werden.

Noch ein Me-Too-Präparat?

Das in den USA bereits seit 2008 zur Major-Depression-Behandlung eingesetzte Desvenlafaxin kann letztendlich nicht als relevanter therapeutischer Fortschritt angesehen werden. Bereits seit Jahren stehen für diese Indikation intensiv erprobte und stabil wirksame Arzneistoffe in ausreichender Zahl zur Verfügung. Selbst Venlafaxin, das Desvenlafaxin-Prodrug, ist bei nahezu identischem Sicherheitsprofil zuverlässiger wirksam als sein aktiver Metabolit. Der Versuch, eine günstige Beeinflussung von sexuellen Dysfunktionen unter Desvenlafaxin-Therapie nachzuweisen, war bislang ebenfalls nicht überzeugend. Die vorgelegte Studie mit nur 72 Teilnehmern war ohne verblindete Vergleichsgruppen durchgeführt worden. Abgesehen von einer größeren Anzahl an Patienten wäre jedoch gerade beim Thema Erektionsstörungen ein Placebo-Vergleich unerlässlich, um eine tragfähige Aussage zu erhalten. Ein marginaler Vorteil für Desvenlafaxin gegenüber Venlafaxin liegt in dem etwas geringeren Interaktionspotenzial bezüglich kombiniert eingesetzten CYP2D6-Substraten oder -Inhibitoren. Der CYP2D6-assoziierte Aktivierungsschritt ist im Fall von Desvenlafaxin nicht erforderlich. Eine klinische Relevanz besteht jedoch nach derzeitigem Kenntnisstand allenfalls für die kleine Gruppe von Patienten mit genetisch bedingtem schwachem CYP2D6-Metabolismus. Dieser Aspekt dürfte allerdings kaum als Argument für eine ­unbedingt erforderliche Markteinführung von Desvenlafaxin ausreichen. |

Literatur

[1] Fachinformation zu Desveneurax®, Stand Mai 2022

[2] Soares CN, Wajsbrot DB, Boucher M. Predictors of functional response and remission with desvenlafaxine 50 mg and 100 mg: a pooled analysis of randomized, placebo-controlled studies in patients with major depressive disorder. CNS Spectr 2020;25(3):363-371

[3] Hellerstein DJ, Stewart JW, Chen Y, Arunagiri V et al. Desvenlafaxine vs. placebo in the treatment of persistent depressive disorder. J Affect Disord 2019;245:403-411

[4] Sopko MA, Ehret MJ, Grgas M. Desvenlafaxine: another „me too“ drug? Ann Pharmacother 2008;42(10):1439-1446

Apothekerin Dr. Monika Neubeck

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