Aus den Ländern

Spannende Pipeline gegen Migräne

Mai-Symposium der Apothekerkammer Niedersachsen fand noch einmal online statt

HANNOVER (tmb) | Für Mitte Mai war der Niedersächsische Apothekertag geplant, der aber pandemiebedingt schon frühzeitig abgesagt wurde. Um trotzdem eine spannende Fortbildung zu bieten, veranstaltete die Apothekerkammer Niedersachsen am 15. Mai online ein Mai-Sympo­sium mit drei Vorträgen. Es ging um eine umfassende Übersicht zur Arznei­therapie der Migräne, die psychischen Folgen der Pandemie und den Placebo-Effekt.
Foto: Varisano Klinikum Frankfurt-Hoechst

Prof. Dr. Sibylle Roll

Prof. Dr. Sibylle Roll, Frankfurt-Hoechst, bekräftigte die großen psychischen Folgen der Pandemie. Diese seien auch neurobiologisch zu erklären, weil beispielsweise mangelnder sozialer Austausch das Belohnungssystem weniger aktiviert und damit die Motivation senkt. Mittlerweile liegen mehrere Studien zu den psychischen Aspekten der Pandemie vor. Sie zeigen, dass psychische Probleme häufiger geworden sind und vorhan­dene psychische Erkrankungen sich verschlimmert haben. Roll sieht Kinder, Jugendliche und junge Erwach­sene als besonders stark betroffen an, weil sie in entscheidenden Entwicklungsphasen getroffen wurden. Die Folgen würden sich erst in den nächsten zehn Jahren zeigen. Ältere hätten dagegen eher bereits gefestigte Muster, um mit Krisen umzugehen.

Volkskrankheit Migräne

Foto: Schmerzklinik Kiel

Prof. Dr. Hartmut Göbel

Prof. Dr. Hartmut Göbel, Kiel, Schmerzmediziner, Psychologe und „der“ Experte für Migräne, wie ihn Moderatorin Julia Fabricius ankün­digte, betonte, dass Kopfschmerzen vom Spannungstyp und Migräne die zweit- und dritthäufigste Erkrankung in Deutschland nach Zahnkaries sind. Bei der Migräne sind über 300 Formen zu differenzieren. Auslöser von Migräneattacken sei der Zusammenbruch der Energieversorgung in der Hirn­rinde nach starker Hirnaktivität. Als Reaktion würden die Gefäße weit gestellt, um mehr Glucose zu transportieren, aber dies führe zu einer Entzündungsreaktion und damit zum Schmerz. Zur Vorbeugung müsse der Patient selbst tätig werden, insbesondere durch einen geordneten Tages­ablauf, Stressvermeidung und regelmäßige Mahlzeiten. Da die Migräne genetisch bedingt ist, müssten die Patienten sich lebenslang auf diese Besonderheit einstellen. Allerdings gibt es immer mehr Behandlungs­möglichkeiten.

Vielstufige Behandlungskaskade

Neben den klassischen peripher wirksamen Analgetika werden bei Attacken insbesondere Triptane genutzt. Göbel erklärte, die Vielfalt der Triptane und ihrer Darreichungsformen werde in der Praxis gebraucht. Mögliche Ziele seien schnelle, aber kurze Wirkung, lange Wirkung oder hohe Potenz. Aus Schmelztabletten würden Triptane kaum über die Zunge aufgenommen. Daher sollte für eine schnelle Wirkung viel Wasser dazu getrunken werden, empfahl Göbel. Bei der Erstverordnung werde typischerweise ein Triptan mit einem Antiemetikum kombiniert. Wenn der Schmerz später wiederkomme, könne die Medikation bis zu drei Tage lang wiederholt werden. Wenn die Medikation aber schon initial nicht wirke, sei eine Wieder­holung sinnlos. Dann könnten NSAR oder Metamizol eingesetzt werden. Bei einem drei Tage andauernden Status migraenosus sollte die Medikation nicht wiederholt werden, weil ein Übergebrauchskopfschmerz droht. Dann sei eine Kombination aus Prednisolon und Diazepam indiziert, als letztes Mittel 1000 mg ASS und 10 mg Metoclopramid, jeweils intravenös. Opiate würden gegen Migräneschmerz nicht helfen und die Übelkeit verschlechtern, mahnte Göbel. Bei der Kombination von Triptanen und SSRI werde mitunter vor einem Serotonin-Syndrom gewarnt, aber dies sei eine artifizielle Idee, die in Studien nicht bestätigt worden sei. Bei über 30.000 Patienten seien zwei Fälle erfasst worden. Damit sollten die Patienten nicht beunruhigt werden.

Migräne-Antikörper gegen CGRP oder gegen den CGRP-Rezeptor ermöglichen einen gezielten Eingriff in den Pathomechanismus. Aus Kostengründen werden diese hochpreisigen Arzneimittel nur bei Patienten mit mehr als vier Migränetagen im Monat von der GKV bezahlt, bei denen andere Verfahren nicht wirken oder unverträglich sind. Doch Göbel erwartet künftig einen breiteren Einsatz. Der Response der prophylaktisch eingesetzten Antikörper betrage etwa 50 Prozent bei gut 20 Prozent Placebo-Effekt. Dabei gehe es um weniger oder schwächere Attacken. Die Patienten müssten ihr Leben weiter der Migräne anpassen. Unerwünschte Effekte seien Verstopfung und Juckreiz, aber keine zentral-nervösen Effekte. Der für den Herbst erwartete neue Antikörper Eptinezumab werde intravenös angewendet und sei damit sofort bioverfügbar. Dies biete eine neue Option beim Status migraenosus.

Neue Optionen

CGRP ist auch ein Target für kleine, oral verfügbare Moleküle. Die neuen Gepante, beispielsweise das gerade in der EU zugelassene Rimegepant, wirken als CGRP-Rezeptor-Antagonisten. Göbel erklärte, sie seien schwächer als Triptane, böten aber Optionen für bisherige Non-Responder. Ubrogepant sei nur zur akuten Anwendung geeignet, Rimegepant auch vorbeugend. Dies ermögliche eine ganz neue Sicht, denn damit sei erstmals ein Arzneimittel gegen Migräne zugelassen worden, das akut und vorbeugend wirke. Dies biete die Chance, das Problem des Übergebrauchskopfschmerzes zu umgehen. Denn bisher könnten akut wirksame Arzneimittel gegen Migräne höchstens an 9 bis 10 Tagen pro Monat eingesetzt werden.

Als neue Substanzklasse zur akuten Behandlung sind auch die Ditane, beispielsweise Lasmiditan, in der Pipeline. Diese 5-HT1F-Agonisten wirken nicht vasokonstruktiv und bieten daher eine neue Option für Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren. Da sie ZNS-wirksam sind, drohen aller­dings Schwindel und Parästhesien. Die Patienten dürften keine Maschinen bedienen, ergänzte Göbel. Insgesamt sei er gespannt, wie die neuen Substanzen die Versorgung weiter entwickeln. Als Unterstützung für den Patientenalltag wies Göbel auf die von seinem Institut gemeinsam mit der Techniker-Krankenkasse entwickelte, frei verfügbare „Migräne-App“ hin. Die Patienten könnten damit den Krankheitsverlauf protokollieren und so den Arzt mit strukturierten Daten versorgen.

Placebo-Effekt nutzen!

Foto: Universitätsklinikum Essen

Prof. Dr. Sven Benson

Abschließend berichtete Prof. Dr. Sven Benson, Essen, über den Placebo- und den Nocebo-Effekt, der zu großen Teilen auf positiven oder negativen Erwartungen beruht, die vielfach über die Kommunikation vermittelt werden. Die Effekte lassen sich auch an neurobiologischen Korrelaten erkennen. Aus Versuchen in Studien folgerte Benson: „Sie können sogar die Opiat-Wirkung rausquatschen.“ Damit betonte er die große Bedeutung des Effekts. Als Konsequenz empfahl Benson den Placebo-Effekt durch empathische Kommunikation zu nutzen und warnte vor unbedachten missverständlichen Formulierungen. Auch eine notwendige Aufklärung habe Risiken und Nebenwirkungen, weil eine Erwartung entstehe. |

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