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Beratung

Im Dauertief

Der Kampf gegen ständige Müdigkeit

Jeder kennt das Gefühl, müde oder erschöpft zu sein. In der Regel gibt es einen nachvollziehbaren Grund dafür und einfache Maßnahmen gegen den bleiernen Zustand. Ständige Müdigkeit hingegen kann belastend sein, vor allem, wenn die Ursache nicht offensichtlich ist. Das Problem: Patienten mit Müdigkeit können leicht in einen Teufelskreis geraten, weil sie inaktiv werden. Dadurch nehmen die Probleme jedoch weiter zu. In wenigen Fällen steckt auch ein chronisches Erschöpfungssyndrom hinter den Symptomen. | Von Martina Schiffter-Weinle 

Müdigkeit ist ein ganz normales Zeichen unseres Körpers, das uns vor Überforderung schützt und uns auffordert, nach körperlichen oder geistigen Anstrengungen eine Ruhepause zur Erholung einzulegen. Sie wird von jedem Menschen subjektiv wahrgenommen. Häufig ist die Ursache-Wirkungs-Beziehung nachvollziehbar, zum Beispiel wenn wir nach einem anstrengenden Arbeitstag, einer kurzen Nacht oder sportlicher Betätigung energielos und müde sind. Dann kann die Müdigkeit ein befriedigendes Gefühl darstellen, das Symptom lässt sich durch eine Ruhephase bzw. einen erholsamen Schlaf mit einer Dauer von etwa acht Stunden (wobei das Schlafbedürfnis individuell zwischen circa sechs bis neun Stunden variiert) beheben. Auch Phasen, in denen das Müdigkeitsgefühl länger anhält, zum Beispiel nach bakteriellen oder viralen Infektionen, sind nicht ungewöhnlich. In ärztliche Hände sollten sich Patienten dann begeben, wenn die Ursache für ihre Müdigkeit unklar ist oder die Müdigkeit schwerer ist, als bei dem Auslöser zu erwarten wäre. Auch wenn die Beeinträchtigung nicht mehr akzeptabel erscheint oder die Beschwerden nicht mehr kompensiert werden können, suchen Betroffene medizinische Hilfe.

Eine ausführliche Anamnese ist wichtig

Die S3-Leitlinie „Müdigkeit“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM) empfiehlt im ersten Schritt eine ausführliche Anamnese. Passend dazu wurde ein Fragebogen entwickelt, den der Arzt dem Patienten zur Vorbereitung auf das Anamnesegespräch mit nach Hause geben kann. Darin werden beispielsweise die Zusammenhänge mit neuen oder schon länger bestehenden Erkrankungen, besonderen Lebensereignissen oder Belastungen im Alltag erfragt, die Lebensumstände ebenso wie zusätzliche körperliche Beschwerden, die möglicherweise auf eine chronische Erkrankung als Ursache hinweisen. Auch Symptome einer Depression und Angststörung werden gezielt erfragt, denn Müdigkeit ist ein Symptom bei zahl­reichen psychischen Störungen. Mehr als drei Viertel der Patienten mit ungeklärter chronischer Müdigkeit geben psychische Symptome an. Eine Übersicht über die möglichen Ursachen von Müdigkeit finden Sie im Kasten „Mögliche Ursachen für Müdigkeit“.

Mögliche Ursachen für Müdigkeit

  • niedriger Blutdruck
  • Flüssigkeitsmangel
  • Eisen-Mangel
  • Vitamin-Mangel (besonders Vitamin B12)
  • Infektionskrankheiten (z. B. Borreliose, Malaria)
  • neuromuskuläre Erkrankungen (z. B. Guillain-Barré-Syndrom, Myasthenia gravis)
  • rheumatoide Störungen: rheumatoide Arthritis, Lupus
  • endokrine Störungen (z. B. Hypothyreose, Hashimoto-Thyreoiditis, Hyperthyreose)
  • prämenstruelles Syndrom, Schwangerschaft
  • Diabetes mellitus
  • neurologische Erkrankungen (z. B. Hirntumor, Morbus Parkinson, multiple Sklerose)
  • Schlafmangel, nicht erholsamer Schlaf (z. B. wegen Schichtarbeit)
  • Schlafstörungen (z. B. obstruktive Schlafapnoe, Restless-Legs-Syndrom)
  • psychiatrische Erkrankungen (z. B. Depression, Angst­störung, Essstörungen, Drogenmissbrauch)
  • Medikamentennebenwirkungen

Wenn die ausführliche Anamnese keine Hinweise auf definierte körperliche Störungen gibt, die Müdigkeit also primär ungeklärt ist, empfiehlt die Leitlinie eine körperliche Untersuchung mit Schwerpunkt auf der Beurteilung des Allgemeinzustandes, der Schleimhäute und Lymphknoten, von Herz, Puls, Atemwegen, Abdomen und die Beobachtung von Muskeltrophik, -kraft, -tonus und -eigenreflexen. Zusätzlich können Laboruntersuchungen (Blutglucose, Blutbild, Blutsenkung/CRP, Transaminasen oder γ-GT, TSH) durch­geführt werden.

Das Chronische Müdigkeitssyndrom

Ein aus ärztlicher Sicht eher seltenes Krankheitsbild ist das chronische Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom (chronic fatigue syndrom, CFS) bzw. die myalgische Enzephalomyelitis (ME). Das Krankheitsbild zeichnet sich durch eine extreme Müdigkeit und Erschöpfung (Fatigue) aus, durch die ein normaler Alltag für die Betroffenen kaum noch zu bewäl­tigen ist. Die Symptome verschlechtern sich nach nur leichter Belastung. Bei der Mehrzahl der Betroffenen tritt die Krankheit plötzlich auf, der Beginn kann aber auch schleichend sein, manchmal lässt er sich mit bestimmten Auslösern in Zusammenhang bringen, zum Beispiel mit Infekten, Impfungen oder schweren Traumata (körperlich oder emotional). Zusätzlich zur lähmenden Müdigkeit leiden Betroffene häufig unter Schlafstörungen, Fehlregulationen von Kreislauf und Körpertemperatur, Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisstörungen, Lärm- und Lichtempfindlichkeit, wiederkehrenden Halsschmerzen und Lymphknotenschwellungen, grippeähnlichen Symptomen oder Schmerzen (Kopfschmerzen, Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen). Die Diagnose CFS/ME ist eine Ausschlussdiagnose: Sie wird erst gestellt, wenn andere mit Fatigue einhergehende Erkrankungen ausgeschlossen werden können. Biomarker gibt es noch nicht.

In Deutschland sind geschätzt bis zu 250.000 Menschen vom chronischen Müdigkeits- oder Erschöpfungssyndrom betroffen, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche. Die genauen Ursachen der Erkrankung sind bisher noch ungeklärt. Neuere Studien weisen auf eine mögliche Autoimmunerkrankung und eine schwere Störung des Energiestoffwechsels hin. Auch virale Infektionen, zum Beispiel mit dem Epstein-Barr-Virus, werden als Auslöser diskutiert. Die Behandlung erfolgt symptomatisch – eine zugelassene kurative Behandlung oder Heilung gibt es bisher nicht. Der Fokus liegt auf einem guten Selbstmanagement, vor allem der Einteilung der eigenen Energiereserven (Pacing), der Anwendung von Entspannungstechniken sowie einer achtsamen psychosozialen Unterstützung der Patienten und ihrer Familien bei der Krankheitsbewältigung.

Den Teufelskreis verstehen

Wie kann man also in der Apotheke auf Kunden reagieren, die nebenbei oder gezielt von andauernder Müdigkeit berichten? Im Patientengespräch ist es wichtig, herauszustellen, dass die Ursachen dauernder Müdigkeit häufig in der Lebensweise der betroffenen Person und im Gemütszustand liegen. Sprechen Sie mit dem Betroffenen über seine Lebenssituation, innere und äußere Belastungen und Sorgen. Wie geht er mit der Müdigkeit um? Ist er zu müde für Sport, bewegt sich kaum noch, um sich zu schonen? Achten Sie dabei auf Warnzeichen (red flags), die möglicherweise auf eine potenziell gefährliche Erkrankung hinweisen (siehe Kasten „Warnzeichen für andere Krankheiten“).

Warnzeichen für andere Krankheiten

  • anhaltender, ungewollter Gewichtsverlust
  • Fieber oder Nachtschweiß
  • generalisierte Lymphadenopathie (krankhafte Schwellung der Lymphknoten)
  • Muskelschwäche oder -schmerzen
  • schwere Begleitsymptome wie Bluthusten, Bluterbrechen, schwere Atemnot, Aszites (krankhafte Ansammlung von Flüssigkeit im Bauchraum), Verwirrung, Selbstmordgedanken
  • neue oder andersartige Kopfschmerzen oder Verlust der Sehkraft, insbesondere in Zusammenhang mit Muskelschmerzen bei älteren Erwachsenen

Angepasste körperliche Aktivität

Als Therapie bei unklarer Müdigkeit rät die DEGAM vor allem zu mehr körperlicher Bewegung. Um den Teufelskreis von Müdigkeit, Inaktivität, deren körperlichen Folgen (Dekonditionierung) und wiederum Müdigkeit zu verhindern, muss der Patient ihn verstehen (siehe Abbildung). Denn fehlende körperliche Bewegung kann gleichermaßen zu Abgespanntheit oder Müdigkeit führen und das Belastungsvermögen senken. Dadurch nimmt die Lust auf Bewegung ab, die Stimmung sinkt.

Abb.: Kreislauf in der Entwicklung von Müdigkeit[Braun E et al. DEGAM-Leitlinie Müdigkeit 2017]

Ziel ist es deshalb, regelmäßig körperlich aktiv zu sein – und zwar in einem Ausmaß, dass die Körperfunktionen angeregt werden, es aber nicht zu einer Überforderung kommt, vor allem wenn weitere Krankheitsbilder vorliegen, zum Beispiel eine Krebserkrankung. Geeignet ist jede Form der Betätigung vom einfachen Spazierengehen über Schwimmen, Radfahren bis zum Fitnesstraining. Das Training sollte vorsichtig begonnen, langsam gesteigert und vor allem regelmäßig durchgeführt werden. Wichtig ist zudem, dass den Aktivitätsphasen ausreichend Ruhepausen und Erholungsphasen folgen. Auch Psycho- und Verhaltenstherapien sind für einen Teil der Patienten geeignet.

Beratung über Schlafhygiene

Gestörter Schlaf oder Schlafmangel kann sowohl Ursache als auch Begleiterscheinung der Müdigkeit sein. Wer nachts schlecht schläft, fühlt sich tagsüber häufiger und länger müde, unkonzentriert und weniger leistungsfähig. Ein erhöhter Kaffee- oder Alkoholkonsum verstärkt die Probleme.

Neben einer optimalen Schlafzimmertemperatur, die etwa zwischen 16 und 20 Grad Celsius liegt, und einer angenehmen Schlafumgebung sollte der Schlafrhythmus geregelt und ritualisiert sein. Die Schlafdauer ist dabei individuell verschieden. In der letzten Stunde vor dem Schlafengehen und in der Nacht sollte auf die Nutzung von digitalen Medien sowie auf Fernsehen verzichtet werden. Empfehlenswert sind hingegen feste Einschlafrituale, beispielsweise ein Spaziergang am Abend, Meditation oder Entspannungstechniken wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Sie helfen, den Tag abzuschließen und sich zu entspannen.

Medikamente auf Nebenwirkungen prüfen

Bei zahlreichen Arzneimitteln aus der Gruppe der Antihypertensiva (Clonidin, α-Methyldopa, Betablocker), Antidepressiva, Neuroleptika, Antiarrhythmika (Amiodaron), Hypnotika, Muskelrelaxanzien und Opioide gehört Müdigkeit zu den bekannten Nebenwirkungen. Eine zu hohe Dosis von Abführmitteln oder wasserausschwemmenden Diuretika kann einen Kalium-Mangel verursachen, der zu Müdigkeit führt. Bei starken Nebenwirkungen sollte mit dem Arzt Rücksprache gehalten und erwogen werden, die Dosis anzupassen oder den Wirkstoff zu wechseln.

Zusätzliche Empfehlungen

Ist die Müdigkeit auf eine Mangelerscheinung, zum Beispiel einen Eisen- oder Vitamin-Mangel, zurückzuführen, kann die Einnahme von Vitaminen oder Spurenelementen empfohlen werden. Bei vorübergehenden Einschlafstörungen können pflanzliche Sedativa eingesetzt werden. Extrakte und Extraktkombinationen aus Baldrianwurzel, Hopfenzapfen, Lavendelblüten, Melissenblättern und Passionsblumenkraut wirken schlafunterstützend. Sie haben vergleichs­weise wenige Neben- und Wechselwirkungen, eine große therapeutische Breite und kein Abhängigkeitspotenzial. Wichtig ist, dass sie ausreichend hoch dosiert und kontinuierlich über einen längeren Zeitraum eingenommen werden. Leichte depressive Verstimmungszustände, die die Schlafqualität ebenfalls negativ beeinflussen können, können mit Johanniskraut-Extrakten behandelt werden. Bei deren Abgabe sollte auf das Interaktionspotenzial mit anderen Arzneimitteln hingewiesen werden. |

Literatur

Baum E et al. Müdigkeit. S3-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin e. V. (DEGAM) 2017, AWMF-Leitlinien-Registernummer 053-002, www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/053-002l_S3_Muedigkeit_2018-06.pdf

Bleijenberg G, van der Meer JWM. Chronisches Fatigue Syndrom. Harrisons Innere Medizin, 19., überarbeitete Auflage 2016, ABW Wissenschaftsverlagsgesellschaft

Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Informationen des MRI Chronisches Fatigue Centrum (MCFC), www.muenchen-klinik.de/krankenhaus/schwabing/kinderkliniken/kinderheilkunde-jugendmedizin/spezialgebiete-kinder-klinik/chronische-fatigue/

Fluge O et al. Metabolic profiling indicates impaired pyruvate dehydrogenase function in myalgic encephalopathy/chronic fatigue syndrome, JCI Insight 2017;1(21):e89376, doi: 10.1172/jci.insight.89376

Gelfand JM, Douglas VC. Müdigkeit. Harrisons Innere Medizin, 19., überarbeitete Auflage 2016, ABW Wissenschaftsverlagsgesellschaft

Jason LA et al. Risks for Developing Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome in College Students Following Infectious Mononucleosis: A Prospective Cohort Study, Clinical Infectious Diseases 2020, https://doi.org/10.1093/cid/ciaa1886

Scheibenbogen C et al. Chronisches Fatigue-Syndrom/CFS – Praktische Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie. Ärzteblatt Sachsen 2019:26–30, Sächsische Landesärztekammer, Dresden

Scheibenbogen C et al. Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome – Evidence for an autoimmune disease. Autoimmun Rev 2018;17:601-609, doi: 10.1016/j.autrev.2018.01.009

Autorin

Martina Schiffter-Weinle studierte Pharmazie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Nach der Approbation arbeitete sie von 2006 bis 2012 als Apothekerin in Oxford, Großbritannien. Bis 2018 war sie Redakteurin bei PTAheute und PTAheute.de. Seit Juli 2018 ist sie Chefredakteurin von „Eins & Drei – Das Filialapotheken-Magazin“ und Redakteurin bei der Deutschen Apotheker Zeitung.

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