Beratung

Wenn gesundes Essen zum Zwang wird

Bei der Orthorexia nervosa kreisen Gedanken ständig um die Ernährungsweise

Es gibt immer wieder neue Ernährungstrends – von Low Carb, Clean Eating bis hin zu Raw Food. Der Wunsch nach einer gesunden Ernährungsweise mit dem Ziel, sich was Gutes zu tun und das Wohlbefinden zu stärken, nimmt zu. Wir sollten schließlich alle auf eine gesunde und ausgewogene Ernährung achten – doch was passiert, wenn dieser Trend überhandnimmt und zu einer Art Besessenheit wird? Ist das dann noch gesund?

Unter dem Begriff Orthorexia nervosa versteht man das krankhafte Fixieren auf gesundes Essen. Der Gedanke daran nimmt einen unangemessenen Stellenwert im Leben der Betroffenen ein – der Genuss beim Essen bleibt auf der Strecke. Noch ist das Phänomen nicht als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt – es bleibt umstritten, ob eine Zuordnung zu den Essstörungen erfolgen wird.

Foto: vaitekune/AdobeStock

Angst vor Nahrungsmittelzusatzstoffen oder bestimmten Nahrungs­mittelgruppenwie tierischen Lebensmitteln kann nicht nur die Lebensqualität ­einschränken, sondern auch zu einer Unterversorgung mit essenziellen Nährstoffen führen.

Wie äußert sich eine Orthorexie?

Zum ersten Mal wurde der Begriff im Jahr 1997 von dem amerikanischen Arzt Steven Bratmann eingeführt und aus dem Griechischen von ortho = richtig und orexis = Appetit abgeleitet. Während bei Patienten mit Ess­störungen wie Bulimia nervosa (Ess-Brechsucht) oder Anorexia ner­vosa (Magersucht) die Menge und Kalorien des Essens im Vordergrund stehen, zählt bei Orthorexie-Patienten die Qualität der Nahrung. Sie zwingen sich zu einer von ihnen selbst auferlegten gesunden Ernährung und haben zum Teil Ängste bzw. Sorgen, durch Aufnahme „ungesunder“ Lebensmittel zu erkranken. Welche Nahrungsmittel als „gesund“ bzw. „ungesund“ eingestuft werden, erfolgt dabei von den Betroffenen selbst. Aus einer vermeintlich gesunden Ernährungsweise wird mit der Zeit ein regelrechter Zwang. Es werden strikte Ernährungspläne aufgestellt – bei Nichtbefolgung drohen Selbstbestrafungen, um ein Gefühl von Kontrolle zu vermitteln. Manche Betroffene verzichten auf bestimmte Lebensmittel (z. B. Zucker), andere streichen ganze Lebensmittelgruppen von ihrem Essensplan. Auch bestimmte Arten der Essenszubereitung oder strenge Zeitpläne können das Krankheitsbild prägen. Dabei nehmen die neu erworbenen Essensgewohnheiten immer mehr Zeit in Anspruch und erschweren gemeinsame Essen in der Gesellschaft oder einen spontanen Restaurant­besuch. Die Betroffenen distanzieren sich zunehmend von ihrem sozialen Umfeld und leben immer mehr in ihrer eigenen Welt.

Welche Folgeschäden können auftreten?

Mit der Zeit kann die Orthorexie zu einem echten Gesundheitsproblem werden. Durch die strenge und im späteren Verlauf oft auch einseitige Ernährung können Mangel- und Fehlernährung auftreten. Die Betroffenen fühlen sich häufig erschöpft – Vitamin- und Mineralstoffmangel sind nicht selten. Oft kommt es auch zu einer ungewollten Gewichtsabnahme. Neben den körperlichen Beschwerden können auch soziale Beeinträchtigungen auftreten. Es entstehen Konfliktsituationen, bis sich die Betroffenen völlig von ihrem Umfeld abgrenzen und sich zurückziehen. Oft wird sogar der Umgang mit Personen gemieden, die ihre strengen Ansichten zur Ernährungsweise nicht teilen. Im Verlauf der Zeit kommt es zu einer zunehmenden Abnahme an Lebensqualität. Eine Orthorexie kann ein Vorläufer bzw. der Einstieg in die Magersucht sein.

Welche Risikofaktoren gibt es?

Die Orthorexie kann sowohl im Rahmen anderer Essstörungen auftreten als auch die Entwicklung solcher begünstigen. Insbesondere Mädchen und junge Frauen sind davon betroffen. Auch Patienten mit somatoformen Störungen haben ein erhöhtes Risiko, eine Orthorexie zu entwickeln. Die Motive sind individuell verschieden und reichen von Lebensmittelskandalen, dem Wunsch nach einer gesunden und nachhaltigen Ernährung bis hin zur Angst, durch ungesundes Essen krank zu werden. Der Übergang von einem harmlosen Gesundheitsbewusstsein bis zum zwanghaften Verhalten ist dabei fließend.

Wie erfolgt die Diagnose?

Die Erkrankung bleibt meist lange unerkannt. Der erste Schritt zur Diagnose und der darauffolgenden Behandlung ist die Einsicht der Betroffenen, dass ihr Essverhalten einen abnormalen Charakter angenommen hat – auch das nähere Umfeld sollte wachsam sein und auf Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten achten. Die Betroffenen müssen in erster Linie dazu bereit sein, Hilfe zu suchen und diese auch anzunehmen. Sollte dies der Fall sein, können sich die Betroffenen als erste Ansprechpartner an Ernährungs- und Psychotherapeuten wenden. Zur Diagnostik stehen spe­zielle Fragebögen zur Verfügung. Zum einen wurde vom Entdecker der Orthorexie ein Fragenkatalog (wie z. B. „Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher genossen haben? Oder „Sind Sie in letzter Zeit mit sich selbst strenger geworden?) erstellt, der eine Einschätzung für das Vorliegen einer möglichen Orthorexie geben kann. Auch von Barthels und ihrem Team (Universität Düsseldorf) wurde ein neuer evaluierter Fragebogen ent­wickelt, mit dessen Hilfe besser ein­geschätzt werden kann, ob der Patient eine Tendenz zur Orthorexie zeigt (Düsseldorfer Orthorexie-Skala, s. Kasten „Kritisches Ernährungs­verhalten erkennen“). Im Anschluss werden die Ergebnisse mit dem be­handelnden Arzt bzw. Psychotherapeuten besprochen.

Kritisches Ernährungsverhalten erkennen

Mithilfe von Fragebögen kann ein ­orthorektisches Ernährungsverhalten auch von Betroffenen selbst erkannt werden. Ein Beispiel ist die Düsseldorfer Orthorexie Skala, in der Aussagen zum Ernährungsverhalten der letzten sieben Tage gestellt werden:

  • Dass ich gesunde Nahrungsmittel zu mir nehme, ist mir wichtiger als Genuss.
  • Ich habe Ernährungsregeln auf­gestellt.
  • Ich kann Essen/Nahrungsmittel nur genießen, wenn ich sicher bin, dass sie gesund sind.
  • Eine Einladung zum Essen bei Freunden versuche ich zu vermeiden, wenn sie nicht auf gesunde ­Ernährung achten.
  • Ich finde es positiv, mehr als andere Menschen auf eine gesunde Ernährung zu achten.
  • Wenn ich etwas Ungesundes ge­gessen habe, mache ich mir große Vorwürfe.
  • Ich habe das Gefühl, dass ich wegen meiner strengen Ernährungsmaßstäbe von Freunden und Kollegen ausgegrenzt werde.
  • Meine Gedanken kreisen ständig um gesunde Ernährung und ich richte meinen Tagesablauf danach aus.
  • Es fällt mir schwer, gegen meine ­Ernährungsregeln zu verstoßen.
  • Wenn ich etwas Ungesundes gegessen habe, fühle ich mich nieder­geschlagen.

Mit einer Skala von 1 (trifft nicht auf mich zu) bis 4 (trifft auf mich zu) kann das Ernährungsverhalten mit der Ernährungsqualität („Gesundheit“) des Essverhaltens in Zusammenhang gebracht werden.

(nach [Barthels F et al. 2015])

Welche Behandlungs­möglichkeiten gibt es?

Wenn die Diagnose feststeht, werden gemeinsam mit dem Patienten und ggf. Angehörigen die Behandlungsmöglichkeiten erörtert und Behandlungsziele festgelegt. Eine Behandlung sollte immer dann eingeleitet werden, wenn Beschwerden z. B. durch eine Mangelernährung bestehen oder die Betroffenen sich sehr stark in ihrer Lebensqualität beeinträchtigt fühlen. Die Therapie erfolgt dabei interdisziplinär – Psycho- und Ernährungstherapien sollten mit­einander verbunden werden. Dazu gehören ebenfalls eine kognitive Verhaltenstherapie und psychodynamisch-biografische Ansätze zur Stärkung des Selbstwertgefühls. Auch mögliche Angststörungen sollten aufgearbeitet werden. Hierbei wird sich oftmals an die Empfehlungen zur Therapie von Zwangs- und Essstörungen angelehnt. Wenn die Orthorexie frühzeitig erkannt und therapiert wird, stehen die Chancen gut, dass die Betroffenen wieder ein gesundes und genussvolles Bewusstsein zum Essen zurückerlangen. |

Literatur

Barthels F, Meyer F, Pietrowsky R. Die Düsseldorfer Orthorexie Skala – Konstruktion und Evaluation eines Fragebogens zur Erfassung orthorektischen Ernährungs­verhaltens. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie 2015; doi.org/10.1026/1616-3443/a000310

Klotter C, Depa J, Humme S. Gesund, gesünder, Orthorexia nervosa: Modekrankheit oder Störungsbild? Eine wissenschaftliche Diskussion. 1. Auflage, Springer Verlag 2015

Orthorexia nervosa. DocCheck Flexikon, https://flexikon.doccheck.com/de/Orthorexia_nervosa, Abruf am 14. Juni 2021

Orthorexia nervosa. Informationen des ENES-Experten-Netzwerk-Essstörungen Schweiz, https://sges-ssta-ssda.ch/essstoerungen/orthorexia-nervosa/

Orthorexie – Zwanghaft gesund essen müssen. Neurologen und Psychiater im Netz, www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/news-archiv/meldungen/article/orthorexie-zwanghaft-gesund-essen-muessen/, Abruf am 18. Juni 2021

Orthorexia nervosa. Öffentliches Gesundheitsportal Österreichs, www.gesundheit.gv.at/leben/ernaehrung/gesunde-ernaehrung/orthorexie, Abruf am 14. Juni 2021

Apothekerin Dr. Martina Wegener

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