Wirtschaft

Zwangslizenzen für EU-Kommission durchaus denkbar

Patentaussetzung bei COVID-19-Impfstoffen in der Diskussion

hb | Vor gut zwei Wochen hat US-Präsident Joe Biden international eine kleine „Schockwelle“ ausgelöst, indem er die Aussetzung von Patenten für COVID-19-Impfstoffe öffentlich befürwortet hat. Die Pharmaindustrie läuft unisono Sturm gegen ein solches Ansinnen, weil das aus ihrer Sicht nichts bringen würde. Im Europäischen Parlament herrscht in dieser Frage bis dato Uneinigkeit. Die EU-Kommission will bald einen Lösungsweg aufzeigen.

Um den weltweiten Immunisierungen mehr Schwung zu geben und die Ungleichgewichte zu vergleichsweise reichen Ländern auszugleichen, haben zahlreiche Länder, angeführt von Indien und Südafrika, im Herbst des vergangenen Jahres einen ungewöhn­lichen Vorstoß gewagt. Sie haben der Welthandelsorganisation (WTO) den Vorschlag unterbreitet, die Rechte am geistigen Eigentum (IP) im Zusammenhang mit COVID-19 zeitlich begrenzt aufzuheben. Die wichtigsten Impfstofflieferanten sollten ihr Wissen teilen, damit mehr Länder Impfstoffe für ihre eigene Bevölkerung und andere wirtschaftlich schwächere Länder herstellen können, so die Hauptintention. Der als „TRIPS waiver“ bekannte Vorschlag wurde von einigen Ländern und Regionen mit hohem Einkommen wie der EU, Groß­britannien, der Schweiz, Japan, Norwegen, Kanada, Australien, Brasilien und bis vor Kurzem auch von den USA blockiert.

Dann überraschte US-Präsident Joe Biden am 5. Mai bei der zweitägigen Sitzung des Generalrats der Welthandelsorganisation (WTO) in Genf mit der Ankündigung, dass die US-Regierung die Aufhebung der Rechte an geistigem Eigentum für COVID-19-Impfstoffe befürworte, unter Berufung auf die „außergewöhnlichen Umstände“ der Pandemie.

Biden sorgte hiermit weltweit für Verwunderung, hatten doch gerade die US-Amerikaner die Rechte des geistigen Eigentums bislang stets vehement verteidigt.

EU gibt sich gesprächsbereit, erwartet aber keinen Schnellschuss

Die europäischen Staats- und Regierungschefs diskutierten auf einem informellen EU-Gipfel in Portugal am 7. Mai über die Idee. Während Deutschland sich entschieden dagegen aussprach, signalisierten andere wie Frankreich, Italien und Polen zunächst Unterstützung. Die USA mussten sich Kritik daran gefallen lassen, dass sie wegen der konsequenten Bevorzugung der eigenen Bevölkerung im Gegensatz zur EU bisher keine COVID-19-Impfstoffe exportiert haben. „Heute gehen einhundert Prozent der in den Vereinigten Staaten von Amerika hergestellten Impfstoffe auf den amerikanischen Markt“, hatte der französische Präsident Emmanuel Macron festgestellt.

Er will erreichen, dass die impfstoffproduzierenden Länder ihre Exporte steigern. Die neuesten Daten der Europäischen Kom­mission besagen, dass von den 400 Millionen Dosen, die bisher in der Union hergestellt wurden, insgesamt 200 Millionen in 90 verschiedene Länder exportiert wurden.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, gab sich gesprächsbereit: „Wir sollten offen für diese Diskussion sein“, sagte von der Leyen. Eine kurzfristige Lösung stellte sie jedoch nicht in Aussicht.

EU-Parlamentarier uneins

Bei einer Plenardebatte im Europäischen Parlament (EP) am Mittwoch letzter Woche waren sich die Abgeordneten nicht einig darüber, ob die EU Vorschläge zur Aufhebung von Patenten für COVID-19-Impfstoffe unterstützen sollte. Zustimmung kam von EP-Parlamentariern aus Spanien und Belgien. ­Andere machten geltend, dass der Verzicht auf Patente auf globaler Ebene keine schnellen Ergebnisse bringen würde, und schlugen alternative Wege vor, um den in Schwierigkeiten geratenen Ländern zu helfen, wie etwa mehr Spenden und das drastische Hochfahren der Produktion, nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika, Asien und Lateinamerika. Die Abgeordneten werden auf der Plenarsitzung vom 7. bis 10. Juni über eine Entschließung zu diesem Thema abstimmen.

Foto: imago images/GFC Collection

Die Welthandelsorganisation (WTO) ist bezüglich einer möglichen Aussetzung der Patente für COVID-19-Impfstoffe von zentraler Bedeutung. Im Bild der Hauptsitz in Genf.

„Zwangslizenzen völlig legitimes Mittel“

Der für Handel zuständige Vizepräsident der Kommission Valdis Dombrovskis formulierte bei der Debatte drei Elemente zur Behebung des Problems. „Unser erstes Ziel ist es, uns zu verpflichten, die Anwendung von Exportbeschränkungen zu begrenzen und Lieferketten offenzuhalten“, sagte Dombrovskis. „Impfstoff produzierende Länder sollten bereit sein, einen fairen Anteil ihrer heimischen Produktion zu exportieren.“ Als zweites Ziel nannte er mehr freiwillige Lizenzvereinbarungen für die Produktion, ebenso wie gestaffelte Preise, Auftragsfertigung und neue Investitionen in Produktions­kapazitäten in Entwicklungsländern. Als drittes Element brachte der Kommissionsvizepräsident Zwangslizenzen ins Spiel und ­bezeichnete diese im Zusammenhang mit einer Pandemie als „ein völlig legitimes Mittel.“

Die Europäische Kommission will hierzu offenbar bald Nägel mit Köpfen machen. Sie kündigt an, der Welthandelsorganisation in Kürze einen dreiteiligen Vorschlag vorlegen zu wollen, der auf Handelserleichterungen, eine Aufhebung von Exportbeschränkungen und die Ausweitung der Produk­tion abzielt, auch durch die Erleichterung der Flexibilität des TRIPS-Abkommens in Bezug auf Zwangslizenzen.

Innovationsbremse und Fälschungsfalle?

Die forschenden Pharma-Unternehmen, die sich in Deutschland im vfa zusammengeschlossen haben, lehnen die Aufhebung des Patentschutzes ebenso wie ihr europäischer Dachverband EFPIA kategorisch ab. Sie begründen dies damit, dass dies die Forschung behindere und das Problem der noch fehlenden Produktionskapazitäten verschärfe. Eine Aufhebung des Patentschutzes würde aus der Sicht der Unternehmen nicht dafür sorgen, „dass auch nur eine einzige Dosis Impfstoff schneller zur Verfügung steht“. Sie befürchten eher das Gegenteil, nämlich, dass Originalhersteller keinen Anreiz mehr hätten, sich an einer schnellstmöglichen weltweiten Versorgung mit Impfstoffen zu beteiligen. Außerdem lasse sich eine Impfstoff-Produktionsstätte nicht über Nacht auf der grünen Wiese errichten, und die vor Ort benötigte Expertise der Fachkräfte, Kühlgeräte und hochtechnologische Bestandteile für die Herstellung des Serums seien nur begrenzt verfügbar. Branchenverbände befürchten außerdem, dass eine Patentaussetzung ohne Zugang zu sämtlichem Know-how zu Qualitäts-, Sicherheits- und Wirksamkeitsproblemen und möglicherweise sogar zu Fälschungen führen könnte.

„Symbolpolitik statt Hilfe in der Not“

„Zur Überwindung der Pandemie bringen Patentfreigaben gar nichts“, konstatiert vfa-Präsident Han Steutel. Er ist überzeugt, dass die jetzigen Hersteller im nächsten Jahr mehr Impfstoff-Dosen produzieren, als die Weltbevölkerung benötigt. Patentfreigaben wären für ihn „reine Symbolpolitik statt Hilfe in der Not“. Der vfa-Präsident appelliert stattdessen dringend an die Länder, die Belieferung von Herstellern mit den benötigten Zutaten, Geräten und Ersatzteilen nicht länger durch Exportverbote zu blockieren. Außerdem sollte es allen Ländern mit eigenen Produktionsstätten gestattet werden, dort produzierte Impfstoffe auch über das COVAX(COVID-19 Vaccines Global Access)-Programm der WHO an arme Länder zu liefern.

Entscheidungsträger WTO

Die Welthandelsorganisation WTO ist für die Fragestellung von zentraler Bedeutung, da sie die ultimative Autorität für die Rechte an geistigem Eigentum und für den internationalen Handel darstellt. Dennoch wäre eine einstimmige Zustimmung der Länder erforderlich, damit eine solche Maßnahme verabschiedet werden kann. Die Aufhebung des Patentschutzes für COVID-19-Impfstoffe würde komplizierte und zeitaufwendige Verhandlungen erfordern, ohne zu wissen, ob die vorübergehende Aussetzung angesichts des zeit- und ressourcenaufwendigen Aufbaus neuer Produktionskapazitäten tatsächlich etwas bringen würde.

Pharmaindustrie eher für Lizenzen

Die Pharmaindustrie präferiert ein freiwilliges Lizenzierungssystem, das ihrer Ansicht nach bereits sehr gut umgesetzt wird. Als Beispiele werden in Presseberichten der Vertrag von AstraZeneca mit dem weltweit größten Impfstoffhersteller, dem indischen Serum Institute, und von Johnson & Johnson mit Aspen Pharmacare aus Südafrika angeführt. Dabei teilt ein Impfstoffentwickler nicht nur Patente, sondern auch die Technologie und das vollständige Know-how mit einem Hersteller. Ein Patentverzicht hingegen zwingt ihn dazu, die Rezeptur seines Impfstoffs offenzulegen.

Jedes Unternehmen, das COVID-19-Impfstoffe herstellen möchte, könnte dies tun, ohne Lizenz­gebühren an Impfstoffentwickler zahlen zu müssen und ohne sich Sorgen machen zu müssen, wegen Patentverletzung verklagt zu werden. Auch bei Zwangslizenzen wären die Unternehmen dazu verpflichtet, ihr Know-how zu teilen, aber sie müssten dann dafür entschädigt werden. |

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