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Aus den Ländern
Neurologie im Fokus
Bericht von der Scheele-Tagung
Geforscht wird viel an neuen Therapiemöglichkeiten – doch gerade bei neurologischen Erkrankungen und Symptomen müssen auch die modernsten Therapien mit einem „alten“ Problem kämpfen: die Blut-Hirn-Schranke, die vor 130 Jahren entdeckt wurde, schützt unser Gehirn zuverlässig vor Fremdstoffen, wie Prof. Dr. Gert Fricker von der Universität Heidelberg erläuterte. Sie führt dazu, dass z. B. moderne Antikörper in Zellkultur wirken, aber beim Menschen gelangen sie nicht ins Gehirn. Die sehr effektive Blut-Hirn-Schranke wird durch ca. eine Milliarde Blutkapillaren im Gehirn gebildet.
Die Gefäße sind sehr klein und eng gepackt und werden zusätzlich durch Tight Junctions extrem dicht miteinander verbunden, so dass eine passiv dichte Barriere entsteht.
Aktiver Auswärtstransport von Arzneistoffen ist induzierbar
Zusätzlich gibt es noch eine aktive Barriere: Die Endothelzellen exprimieren auf ihrer luminalen Seite Exportproteine, die Fremdstoffe erkennen und sofort aus der Zelle heraus und in den Blutkreislauf zurücktransportieren. Dazu gehören bedauerlicherweise auch fast alle Arzneistoffe: bis zu 99% kommen nicht durch die Blut-Hirn-Schranke. Die wichtigsten Exportproteine sind das P-Glykoprotein (P-gp), das Breast Cancer Resistance Protein (Bcrp) und mehrere Multidrug Resistance related Proteine (MRP). Die Exportproteine werden unter anderem durch Nuklearrezeptoren wie den Pregnan-X-Rezeptor (PXR) hochreguliert. Nuklearrezeptoren reagieren auf interne und externe Stimuli, sie werden durch Metabolite aus der Leber, durch aufgenommene Arzneimittel, durch Umweltgifte und auch durch viele Pflanzeninhaltsstoffe aktiviert. Bekanntestes Beispiel ist das Hyperforin aus dem Johanniskraut. Es ist ein starker Induktor von Nuklearrezeptoren – und induziert damit die Transportproteine. Daher sind Johanniskraut-Präparate kontraindiziert bei gleichzeitiger Einnahme von Immunsuppressiva oder HIV-Protease-Inhibitoren, die fast alle Substrate dieser Transporter sind. Reguliert Hyperforin die Transporter hoch, werden die Wirkstoffe unwirksam.
Neues bei Parkinson?
Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz von der Universität Frankfurt zeigte, welche Schwerpunkte in der Forschung rund um neue Therapien bei neurologischen Erkrankungen gesetzt werden. So gibt es beim Morbus Parkinson einen vielversprechenden Wirkstoff in der Pipeline: Istradefyllin ist ein selektiver Antagonist am A2A-Adenosin-Rezeptor, der im August 2019 als Nourianz™ bereits von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA zugelassen wurde. Durch die Antagonisierung der A2A-Adenosin-Rezeptoren wird der Dopamin-D2-Rezeptor-Signalweg aktiviert und die dopaminerge Neurotransmission erhöht. Eingesetzt werden die Tabletten zusätzlich zu einer Levodopa/Carbidopa-Therapie bei Patienten, die unter den Off-Phasen leiden. In den Studien verringerte sich unter Istradefyllin die Off-Zeit um 0,7 bis 1 Stunde am Tag – das sei für den Patienten ein großer Fortschritt, so Schubert-Zsilavecz. Auch in Europa sei eine Zulassung wahrscheinlich, so der Referent.
Ist die individualisierte Parkinson-Therapie möglich?
Beim Morbus Parkinson fehlt dem Gehirn der Transmitter Dopamin, um die Bewegungen des Körpers zu kontrollieren. Normalerweise wird Dopamin ständig produziert, gespeichert und von der Monoaminooxidase B (MAO-B) wieder abgebaut. Bei Parkinson ist die Dopamin-Bildung reduziert, der Abbau durch MAO-B bleibt aber gleich, es kommt zu einem Dopamin-Mangel. Steifheit der Muskulatur (Rigor), Zittern (Tremor) und Verlangsamung der Bewegung (Akinese) sind die Folge. Dass der Weg zu einer individualisierten Therapie schwierig ist, zeigte Prof. Dr. Alexander Storch von der Neurologischen Klinik an der Universitätsmedizin Rostock. Risikofaktoren für die Entwicklung von Motorkomplikationen sind neben einem niedrigen Erkrankungsalter und dem frühen Beginn der Levodopa-Therapie auch die genetische Prädisposition. So haben Patienten mit einem speziellen MAO-B-Genotyp ein erhöhtes Risiko für motorische Spätkomplikationen. Vorstellbar sei es daher, so Storch, dass der MAO-B-Genotyp als Biomarker für die Entwicklung von (motorischen) Spätkomplikationen sein könnte und eine gezielte Therapie möglich wird.
Passende Darreichungsformen für Parkinson-Patienten
Prof. Dr. Sandra Klein vom Institut für Pharmazie aus Greifswald, zeigte die physiologischen Besonderheiten bei Patienten mit Morbus Parkinson und wie sich diese auf die Arzneimitteltherapie auswirken. Das beginnt bereits in der Mundhöhle, denn die Speichelsekretionsrate ist reduziert und auch die Zusammensetzung des Speichels kann verändert sein. Dass Parkinson-Patienten oft der Speichel aus dem Mund läuft, hat nichts mit der produzierten Menge zu tun, sondern diese Hypersalivation ist auf Schluckstörungen zurückzuführen oder auf eine erniedrigte Schluckfrequenz. Denn der eigentlich automatische Schluckvorgang und die Atem-Schluck-Koordination kann bei Parkinson gestört sein. Durch eine eingeschränkte Motilität der Speiseröhre ist die Passagezeit erhöht, eine reduzierte Magenmotilität führt zu einer verlängerten Magenentleerungszeit (Gastroparese), als Folge kommt es zu einer potenziell verzögerten Entleerung oral applizierter Arzneiformen in den Dünndarm. Auch die Motilität von Dünndarm und Dickdarm ist reduziert, die Nahrung wird aus dem Magen nicht schnell genug in den Darm weitertransportiert. Da der Goldstandard der Parkinson-Therapie Levodopa nach der Einnahme nur im oberen Abschnitt des Dünndarms ins Blut aufgenommen wird, kann eine verzögerte Magenentleerung sich nicht nur negativ auf den Ernährungszustand auswirken, auch die Wirkstoffaufnahme kann gestört werden und eine Zunahme der Parkinson-Symptome ist möglich. Klein konnte zeigen, dass keine der bisher untersuchten Formulierungen (Modified-release(MR)-Formulierungen und Immediate-release(IR)Formulierung) von Levodopa ein robustes Freisetzungsverhalten zeigt. Sie betonte, dass wegen des sehr heterogenen Freisetzungsverhaltens die Darreichungsformen und verschiedenen Levodopa-Präparate nicht gegeneinander austauschbar sind! Für die Beratung in der Apotheke regte Klein an, besonders an die motorischen Störungen der Patienten zu denken und Schluckhilfen anzubieten.
Ernährung kann Alzheimer nicht heilen
Prof. Dr. Tobias Hartmann von der Universität des Saarlandes berichtete über Versuche, über die Ernährung die Entstehung bzw. den Verlauf einer Alzheimer-Demenz zu beeinflussen. Die Rationale dahinter steckt in der Physiologie des Gehirns: Es besteht zu 60% aus Fett und die Fettzusammensetzung beeinflusst die funktionellen Eigenschaften der Zellmembranen. Man geht heute davon aus, dass während der menschlichen Evolution die Zunahme der Hirngröße begrenzt wurde durch die limitierte Versorgung mit Nährstoffen, Lipiden und Energie. Daher die Idee, mit einer entsprechenden Zufuhr an Nährstoffen die Funktionen des Gehirns positiv zu beeinflussen. Aber, so betonte Hartman, es gibt dazu nur wenige Studien, und in der Mehrzahl der Studien wird kein klinischer Nutzen ersichtlich. Die Auswirkung der Ernährung wird durch so viele Variablen beeinflusst, dass eine individuelle Vorhersage zum Nutzen oder Schaden fast unmöglich ist. Es gibt keine Evidenz für einen Stopp der Erkrankung oder eine Heilung, so Hartmann, wer das Gegenteil behaupte sei ahnungslos oder habe andere Motive. Gezeigt werden konnte in epidemiologischen Studien lediglich, dass bestimmte Ernährungsmuster das Demenzrisiko reduzieren könnten: Dazu gehört
- die mediterrane Diät mit viel Fisch, Gemüse, Früchten und einfach ungesättigten Fetten,
- die DASH-Diät mit viel Obst und Gemüse, wenig Milchprodukten und wenig Fisch und Fleisch sowie reduziertem Salzkonsum, und
- die MIND (nordische oder finnische) Diät, die der mediterranen Diät ähnle, aber mit weniger Fisch und Obst und dafür mit mehr grünem Gemüse.
Neues bei Alzheimer?
Auch aus der Forschung zum Morbus Alzheimer hatte Prof. Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz Neuigkeiten: Nachdem in den letzten Jahren gleich mehrere Antikörper in den Zulassungsstudien gescheitert sind, gibt es jetzt mit Aducanumab neue Hoffnung. Der Antikörper soll lösliche Oligomere und Ablagerungen von fibrillärem β-Amyloid binden, die für die Alzheimer-Krankheit charakteristisch sind. Tierexperimentelle Studien hatten gezeigt, dass Aducanumab das Fortschreiten der neurodegenerativen Erkrankung verhindert. Doch wurden Anfang 2019 zwei Phase-III-Studien gestoppt, weil die primären Endpunkte nicht erreicht wurden, dafür waren unter den hohen Dosierungen unerwünschte Wirkungen aufgetreten. Nach einer neuen Analyse größerer Datenmengen aus den Studien mit Patienten, die über einen längeren Zeitraum eine hohe Wirkstoff-Dosis erhalten hatten, und Gesprächen mit der amerikanischen Zulassungsbehörde teilte der Hersteller Biogen jetzt mit, dass er doch einen Zulassungsantrag bei der FDA stellen wird.
Auch mit einer speziellen Kombination aus Mikronährstoffen, Vitaminen und Omega-3-Fettsäuren wurde versucht, Substrate zur Verfügung zu stellen, die für die Bildung von Synapsen im menschlichen Gehirn erforderlich sind. Mit dem Ziel, das Fortschreiten einer Alzheimer-Demenz zu verlangsamen, wurde mit dieser Nährstoffkombination die LipiDiDiet-Studie durchgeführt. Leider konnte nach zwei Jahren Laufzeit beim primären Endpunkt (Ergebnis der neuropsychologischen Tests) kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen der Nährstoffdrink-Gruppe und der Placebo-Gruppe festgestellt werden. Es besserten sich nur die kognitiven und funktionellen Leistungen im Alltag. Zusätzlich konnte aber bei der Messung des Hippocampus-Volumens im MRT ein signifikanter Vorteil in der Nährstoffdrink-Gruppe beobachtet werden.
Einzelne Risikofaktoren für eine Alzheimer-Erkrankung sind bekannt: Hoher Cholesterol-Spiegel, hoher Blutdruck, Übergewicht, Diabetes, Ernährung, Rauchen und Einsamkeit. Aber erst die Kombination von Risikofaktoren führt zu einer Steigerung der Wahrscheinlichkeit, eine Demenz zu entwickeln. Daher wurde ein multidimensionaler Ansatz zur Prävention kognitiver Einschränkungen bei Älteren in der FINGER-Studie (Finnish Geriatric Intervention Study) verfolgt. Die Kontroll-Gruppe wurde nur regelmäßig über eine gesunde Lebensweise geschult, während die Interventions-Gruppe auch umfassend über eine gesunde Ernährung beraten wurde und angeleitet ein körperliches Fitnesstraining absolvierte. Die mittlere Änderung der Ergebnisse neuropsychologische Tests war nach zwei Jahren in der Interventions-Gruppe signifikant besser: Vermutlich kann eine multidimensionale Intervention beitragen, die kognitiven Funktionen bei Demenz länger zu erhalten und den geistigen Abbau hinauszuzögern. |
Medizin in Grenzsituationen
WARNEMÜNDE (tmb) | Beim traditionellen Vorsymposium zur Scheele-Tagung blickte am 8. November 2019 der Vorsitzende der Scheele-Gesellschaft, Prof. Dr. Christoph Ritter, auf das 70-jährige Jubiläum der Gesellschaft im Vorjahr zurück. Er verwies dazu auf den DAZ-Beitrag von Scheele-Ehrenmitglied Dr. Hans Feldmeier („70 Jahre und kein bisschen leise“, DAZ 2019, Nr. 45, S. 80). Feldmeier dankte Ritter für die Illustration des Beitrags und der DAZ für die Gelegenheit zur Darstellung der Geschichte der Scheele-Gesellschaft.
Fachlich ging es um Grenzfälle lebenserhaltender Maßnahmen. Prof. Dr. Uwe Walter, Rostock, präsentierte die klinisch-diagnostischen Aspekte tiefer Bewusstseinsstörungen. Das Koma wird neurologisch als Nicht-mehr-Erweckbarkeit beschrieben. Doch gibt es Wachheit ohne Bewusstsein. Patienten mit „unresponsiver Wachheit“ (unpassend als „Wachkoma“ bezeichnet) reagieren nicht auf äußere Reize, bei minimal responsiver Wachheit gibt es einige schwache Reaktionen. Dagegen sind Patienten mit Lock-in-Syndrom wach und nehmen ihre Umwelt bewusst wahr, können aber nur Pupillen und Augenlider gezielt bewegen. Juristisch bedeutsam sei insbesondere der irreversible Hirnfunktionsausfall (Hirntod), der den Sterbeprozess unumkehrbar mache und Voraussetzung für Organentnahmen sei. Walter verwies auf den spektakulären Einzelfall einer Hirntoten in den USA, die nach Jahren Reaktionen gezeigt habe, und gab sich zuversichtlich, dass diese Patientin nach den strengeren deutschen Kriterien nicht für hirntot erklärt worden wäre.
Die Medizin-Ethikerin Prof. Dr. Dr. Sabine Salloch, Greifswald, beschrieb die zunehmende Bedeutung der Patientenautonomie ab Mitte des 20. Jahrhunderts. In der Praxis werde die Selbstbestimmungsfähigkeit allerdings oft nur informell geprüft und dabei manchmal überschätzt. Für Situationen, in denen ein Patient nicht einwilligungsfähig ist, können im Voraus Patientenverfügungen erstellt werden. Darin müsse erklärt werden, für welche Fälle sie gelten sollen. Dann könne verfügt werden, welche Maßnahmen abgelehnt oder gewünscht werden. Allerdings müssten aufgrund eines BGH-Urteils einzelne Maßnahmen genannt werden. Der Sammelbegriff „lebensverlängernde Maßnahmen“ sei nicht genau genug. Außerdem sei es hilfreich, wenn ein Betreuer für die Durchsetzung sorge. Nur ein Viertel der Deutschen habe eine Patientenverfügung und viele seien vermutlich nicht aussagekräftig.
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