Aus den Ländern

Wenn Körper und Seele streiken

95. Zentrale Fortbildungsveranstaltung der Landesapothekerkammer Hessen

GIESSEN (ck) | Die 95. Zentrale Fortbildungsveranstaltung der Akademie für pharmazeutische Fortbildung drehte sich in diesem Jahr um psychische Erkrankungen. Und sie war eine besondere: Zum ersten Mal war sie auch bei der Ärztekammer Hessen akkreditiert.
Foto: DAZ/ck
Kongresshalle Über 300 Apotheker und auch einige Ärzte besuchten die Fortbildungsveranstaltung. Im nächsten Jahr sind weitere gemeinsame Veranstaltungen geplant.

Ursula Funke, Präsidentin der Landesapothekerkammer Hessen (LAK), nannte in ihrer Eröffnung die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 19. Oktober ein „unsägliches Urteil“. Man könne nicht akzeptieren, dass sich ausländische Versandapotheken nicht an die deutsche Arzneimittelpreisverordnung halten müssen und Rabatte auf verschreibungspflichtige Medikamente gewähren dürfen. Es liege ein steiniger Weg vor den Apothekern, der nur durch engen Zusammenhalt erfolgreich beschritten werden kann. Vor allem, so Funke, müsse die deutsche Arzneimittelpreisverordnung gelebt werden. Alles andere schwäche die Apothekerschaft und ihre Glaubwürdigkeit. Funke appellierte an die hessischen Apotheker, sich nicht zu illegalem Verhalten verführen zu lassen. Eine konsequente Forderung nach gleichen Preisen für gleiche Leistung diene dem Schutz der Apotheker und der Verbraucher.

Foto: LAK Hessen
Ursula Funke: Wir brauchen jetzt ein Versandverbot für Rx-Arzneimittel.

Depot-Antipsychotika: Segen und keine Strafe

Prof. Dr. Sibylle C. Roll von der Vitos Klinik Eichberg stellte die Fortschritte in der Pharmakotherapie bei schizophrenen Spektrumserkrankungen vor. In Deutschland werden pro Jahr ca. 5600 Erkrankungen neu dia­gnostiziert. Da jede psychotische Episode mit inflammatorischen Prozessen und einem Zelluntergang im Gehirn einhergeht, sollte es das oberste Ziel sein, möglichst wenige psychotische Episoden überhaupt entstehen zu lassen. „Wir müssen möglichst schnell die Erkrankung erkennen und gegensteuern, damit die Erkrankung nicht chronisch wird“, so Roll. Die zur Verfügung stehende Pharmakotherapie muss dabei rational eingesetzt werden, und nicht wie früher rein aus Erfahrungswerten heraus. Zu einer modernen Therapie zählen auf alle Fälle Depotformulierungen, die über einen längeren Zeitraum kontinuierlich Wirkstoff freisetzen. Sie sind nicht antiquiert, sondern erleben ein Revival. Galt „die Spritze“ früher als Strafe, wenn Patienten ihre Medikation nicht einnahmen, so sind Depot-Antipsychotika heute als ein wirklicher Fortschritt im Therapieregime anzusehen. Neben einem stabilen Wirkstoffspiegel und weniger unerwünschten Wirkungen ist vor allem eine hohe Adhärenz von Vorteil. Werden sie konsequent angewendet, so treten bis 30% weniger Rezidive auf als unter den oral applizierten Wirkstoffen. Ziel muss es sein, diese Darreichungsform zu entstigmatisieren. Leider bieten viel zu wenige Ärzte eine Depotformulierung an.

Interaktionen sind oft vermeidbar

Prof. Dr. Martina Hahn von der Vitos Klinik Eichberg griff das Thema Interaktionen auf. Sie zeigte, dass in der Psychiatrie ca. 50% der unerwünschten Wirkungen durch das Psychopharmakon selbst ausgelöst werden. Die gute Nachricht aber ist, dass sehr viele vermeidbar sind. Dabei ist interessant, dass nur zehn Wirkstoffe für 80% der Interaktionen verantwortlich sind. Nach Lithium sind es vor allem Antipsychotika. Eine der häufigsten Interaktionen ist die Kombination von SSRI und NSAR. Hier ist das Risiko für Magen-Darm-Blutungen zwölffach erhöht. Ibuprofen und Diclofenac sollten bei Patienten mit ­Depressionen nicht eingesetzt werden, auch nicht in niedriger Dosierung.

Foto: DAZ/ck

Therapie nicht zu früh absetzen

Prof. Dr. Kristina Friedland vom Departement Chemie und Pharmazie der Universität Erlangen-Nürnberg zeigte, dass die Pathophysiologie der unipolaren und bipolaren Depression bis heute nur teilweise verstanden wird. Diskutiert werden neben Störungen im Neuro­transmitterhaushalt eine Verringerung der Neuroplastizität sowie eine veränderte Aktivität der Hypophysen-Hypothalamus-Achse. Auch spielt Stress eine große Rolle. Die S1-Leitlinie empfiehlt eine kognitive Verhaltenstherapie und eine Pharmakotherapie. Bei leichten bis mittelschweren Depressionen soll zuerst mit einer Verhaltenstherapie begonnen werden. Dabei sollte bedacht sein, dass auch eine Psychotherapie nicht frei von Nebenwirkungen sein kann. Bei der Auswahl der Psychopharmakotherapie sollte genau abgewogen und auch der Patient mit in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. Denn nur, wenn er weiß, was ihn an Wirkung und Nebenwirkung ­erwartet, wird er adhärent sein. Zu oft werden die Substanzen zu früh abgesetzt, sie sollten mindestens ein halbes bis ein Jahr genommen werden. Viele setzen schon nach einer Woche wegen der Nebenwirkung das Antidepressivum ab. Aber erst nach einer längeren Zeit normalisiert sich der Neurotransmitterspiegel, bilden sich Synapsen neu. Zum oft in der Apotheke abgegebenen Johanniskraut konnte in Metaanalysen nachgewiesen werden, dass es in adäquaten Konzentrationen (900 mg pro Tag) bei mittelschweren Depressionen gleich wirksam ist wie ein SSRI. Die vieldiskutierte Interaktion mit hormonellen Kontrazeptiva werde nach Ansicht von Friedland bei Weitem überschätzt. Oft stecken hinter einer ungewollten Schwangerschaft Einnahmefehler, aber es stehe nun einmal ein diesbezüglicher Hinweis in der Fachinformation, sodass die Frauen immer darauf hingewiesen werden sollten, zusätzlich zu verhüten.

Stimulanzien sind erste Wahl ...

... doch auch Non-Stimulanzien wie Atomoxetin und Guanfacin habe ihre Berechtigung in der Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), wie Prof. Dr. Michael Huss von der Rheinhessen-Fachklinik Mainz erläuterte. Atomoxetin war das erste Nicht-Psychostimulans, das bei ADHS zugelassen wurde. Erste Therapieeffekte sind bereits nach einer Behandlungswoche zu erwarten, die volle Wirkung wird erst nach durchschnittlich vier bis sechs Wochen erreicht. Guanfacin ist ein selektiver α2-Rezeptor­agonist, der ursprünglich zur Behandlung von Hypertonie eingesetzt wurde. Vorteilhaft ist seine lange Wirkdauer. Die Retardtabletten werden einmal täglich zur selben Tageszeit eingenommen, egal ob morgens oder abends. Auch hier muss man sich der Wirklatenz bewusst sein. Nach und nach ergibt sich aus den Studien, dass es bedeutsam ist, in welcher Reihenfolge die Wirkstoffe eingesetzt werden. Haben Kinder einmal Stimulanzien bekomme und werden danach mit Atomoxetin behandelt, so wird eine ausgeprägte Effektminderung beobachtet. Atomoxetin scheint nur bei Drugnaiven zu wirken, Guanfacin dagegen wirkt, ganz egal ob im Vorfeld z. B. Methylphenidat eingesetzt wurde oder nicht. |

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