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Medizin

Den ganzen Tag könnte ich schlafen!

Chronische Müdigkeit kann auch ein markantes Begleitsymptom sein

Chronische oder als abnorm empfundene Müdigkeit ist ein Symptom, mit dem Ärzte und Apotheker nicht selten konfrontiert werden. Sich ständig „am nächsten Tag“ nicht regeneriert zu fühlen, kann die Lebensqualität empfindlich stören, sei es körperlich, beruflich oder psychosozial. Tatsächlich gibt es zahlreiche, teils nicht offensichtliche Ursachen, die mit chronischer Müdigkeit assoziiert sein können. Die Diagnostik kann daher eine Herausforderung darstellen. Tückisch ist, dass übermäßige Müdigkeit auch ein Frühsymptom einer ernsthaften, vor allem malignen Erkrankung sein kann. Daher sollte bei Betroffenen auf weitere Warn­zeichen geachtet werden. | Von Clemens Bilharz

Grundsätzlich handelt es sich bei Müdigkeit und Schlaf­bedürfnis um einen biologischen bzw. physiologischen Regulationsmechanismus, der in der Regel einem zirka­dianen Rhythmus folgt (Tag-Nacht-Wechsel). Müde als Normalität nach „vollbrachtem Tagwerk“ oder nach einer unverhofft ungewohnten Anstrengung, das können wir nachvollziehen und vor allem beheben – durch einen „gesunden“ Schlaf.

Müdigkeit wird als negativ oder „krank“ empfunden, wenn wir sie als abnorm, situativ inadäquat und als (zu) lange anhaltend beurteilen. Ein weiteres Kriterium hierbei ist, dass wir uns durch Ruhe und Schlaf nur noch unvollständig oder gar nicht mehr regenerieren.

Hierbei stellt sich das Problem, dass Müdigkeit eine subjektive Wahrnehmung ist, verschiedene Ebenen betreffen kann (physisch, mental, psychisch/affektiv) und mithilfe verschiedener Formulierungen geäußert wird: müde, schlapp, schläfrig, erschöpft, lethargisch, energielos etc.

Schwierige Zuordnung

Hierzulande wird das Phänomen in der Regel als (chronische) Müdigkeit umschrieben, so z. B. auch in der Leitlinie der Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Familien­medizin (DEGAM). Demgegenüber wird international zumeist der französische Begriff „Fatigue“ verwendet, um eine auch krankheitsassoziierte Müdigkeit oder Erschöpfung zu benennen. Im Deutschen findet sich die Bezeichnung ­Fatigue bislang hauptsächlich im Zusammenhang mit malignen Erkrankungen (als Tumor-assoziierte Fatigue, s. u.). Allerdings kann sich die klinische Manifestation dieser Müdigkeit mit jener überlagern, die aufgrund anderer chronischer Erkrankungen auftreten kann.

Der ICD-10-Code für die Diagnose „Müdigkeit“ lautet R53, was formal der Zuordnung zum Symptomkomplex „Unwohlsein und Ermüdung“ entspricht (mit Begriffen wie Ermüdung, Erschöpfung, Asthenie, Lethargie etc.). Mögliche chronische Grunderkrankungen werden hier nicht genannt.

Als eigene Entität abzugrenzen ist das sogenannte chronische Fatigue-Syndrom (s. Kasten), ebenso der Dysbalance-Zustand des Burn-out-Syndroms (als Rahmen- oder Zusatzdiagnose).

Das chronische Fatigue-Syndrom (CFS)

Zeigt der Patient neben einer starken Müdigkeit bzw. Ermüdbarkeit noch immunologische und neurokognitive Symptome, könnte es sich um das sogenannte chronische Fatigue-Syndrom (CFS) handeln. Seit seiner Postulierung als eigene Krankheitsentität Ende der Fünfzigerjahre wird das auch myalgische Enzephalomyelitis (ME) genannte Syndrom kontrovers diskutiert. Gemäß den internationalen Konsensuskriterien von 2011 gilt der heterogene Sym­ptomkomplex ungeklärter Ätiologie als Multisystemerkrankung mit Dysregulationen im Bereich des Nervensystems, des Immunsystems und des zellulären Energiestoffwechsels. Die WHO klassifiziert das CFS als neurologische Erkrankung.

Von den Betroffenen werden immer wieder folgende Hauptsympto­me genannt:

  • eine extreme Ermüdbarkeit, nicht selten an den Folgetagen ­einer Anstrengung („postexertionelle Fatigue“),
  • kognitive Einschränkungen wie Konzentrations- und Merk­störungen („brain fog“), gelegentlich mit sensorischen ­Wahrnehmungsstörungen,
  • teils starke muskuloskeletale Schmerzen mit Einschränkung der Motorik, aber auch Migräne-ähnliche Kopfschmerzen.

Als immunassoziierte Symptome sind subfebrile Temperaturen und schmerzhafte Lymphknotenschwellungen möglich, auch Reizdarmbeschwerden mit Nahrungsmittelunverträglichkeiten wurden beschrieben.

Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer.

Ätiologisch ist das CFS bis heute nicht geklärt, man geht von mehreren bzw. multifaktoriell bedingten Prozessen aus. Vieles spricht für eine postinfektiöse Genese, so scheint vor allem das Epstein-Barr-Virus (infektiöse Mononukleose) in etwa 75% die Störung getriggert zu haben. Aber auch humane Herpesviren (HHV-6) und Enteroviren sowie Bakterien wie Chlamydien und Legionellen könnten eine Rolle spielen.

Zwar nicht spezifisch für das CFS, lassen sich dennoch häufig proinflammatorische Signalwege und eine erhöhte Zytokinkonzentra­tion nachweisen (TNF-α, Interleukin-1β). Auch die Gefahr eines metabolischen Syndroms ist bei CFS-Patienten doppelt so hoch wie bei Gesunden.

Die Komorbidität mit neuropsychiatrischen Störungen – vor allem einer Depression – ist hoch, die Abgrenzung kann im Einzelfall schwierig bis unmöglich sein. Anamnestisch ist chronischer (psychosozialer) Stress bei Betroffenen signifikant häufiger als bei Gesunden.

Da CFS-Patienten körperlich deutlich weniger aktiv sind, wird therapeutisch ein angepasstes körperliches Training empfohlen, flankiert von einer kognitiven Verhaltenstherapie, um eine „Langzeitschonung“ zu vermeiden.

Pharmakologische Optionen sind – je nach Konstellation – Antidepressiva (SSRI), Analgetika (Paracetamol, bei Fibromyalgie-­ähnlichen Schmerzen Pregabalin) und Melatonin bzw. Tryptophan (bei zusätzlichen Schlafstörungen).

Schwierige Differenzialdiagnose

Auch abnorme Müdigkeit ist zunächst ein unspezifisches Symptom, das ganz unterschiedliche (auch harmlose) Ursachen haben kann. Zahlreiche somatische, aber auch psychische Erkrankungen können in ihrem Verlauf Müdigkeit auslösen (überspitzt formuliert: Jede chronische Sinusitis kann müde machen). Allerdings gibt es Erkrankungen, bei denen Müdigkeit einen prominenten Stellenwert in der klinischen Manifestation einnehmen oder sogar ein verdächtiges Frühsymptom darstellen kann. Wenn Patienten über chronische Müdigkeit klagen, sollte daher gezielt nach Warnzeichen einer ernsthaften, etwa malignen Erkrankung gefahndet werden (s. Tab. 1).

Abnorme Müdigkeit kann darüber hinaus eine Lifestyle-Resultante sein (Schlafmangel, Suchtmittel), eine Arzneimittelnebenwirkung oder auch fakultativer Bestandteil einiger funktioneller Syndrome (z. B. des Reizdarm- oder des Globussyndroms).


Tab. 1: Warnzeichen („red flags“), die beim unspezifischen Symptom Müdigkeit oder Fatigue den Verdacht auf ­eine potenziell gefährliche Erkrankung lenken sollten.
Warnzeichen
Verdachtsdiagnose
kurzfristiger Beginn der Müdigkeit
  • maligne Tumorerkrankung
  • Anämie
  • Herzinsuffizienz
  • (bradykarde) Herzrhythmus­störungen
  • Niereninsuffizienz
  • Diabetes mellitus
unbeabsichtigter Gewichtsverlust
  • maligne Tumorerkrankung
  • Diabetes mellitus
  • Infektion
Belastungsdyspnoe
  • chronisch obstruktive Lungen­erkrankung (COPD)
  • Herzinsuffizienz
  • (bradykarde) Herzrhythmus­störungen
  • Anämie
vergrößerte Lymphknoten
  • maligne Tumorerkrankung
  • Infektion
Gangunsicherheit
  • Multiple Sklerose

Depression

Naheliegend ist zunächst die häufige Assoziation von Müdigkeit zu psychiatrischen Erkrankungen, v. a. der Depression. Die Diagnosekriterien sowohl der WHO als auch der American Psychological Association nennen hier explizit die erhöhte Ermüdbarkeit bzw. Müdigkeit (Fatigue) oder Energieverlust. Bezeichnenderweise verbinden die ICD-10-Kriterien die Müdigkeit als Hauptsymptom einer depressiven Episode klar mit dem Faktor Antriebsmangel. Im Gegensatz zu somatischen Störungen ergibt sich dadurch eine Überlagerung mit Gefühlen wie fehlender Motivation, mangelndem Interesse, Freud- und Hoffnungslosigkeit. Zudem hat die Müdigkeit im Rahmen einer Depression eine herunterziehende Qualität und korreliert mit der grundsätzlich gedrückten Stimmung der Betroffenen, die diesen Zustand oft als „bleiern“ beschreiben. Der depressive Mensch ist nicht einfach müde oder erschöpft als Resultante einer Pathologie, er ist einer Sache oder sogar seines Lebens müde. Nicht selten steht eine derart „unerklärliche“ Müdigkeit am Beginn eines depressiven Prozesses.

Multiple Sklerose

Obwohl die Multiple Sklerose landläufig eher mit „Gang­störungen“ assoziiert wird, ist eine abnormal erhöhte Erschöpfbarkeit ein häufiges und gleichzeitig stark belastendes Symptom bei MS. Zwischen 60 und 90 Prozent der Patienten sind davon betroffen. Wie kognitive Störungen können auch Fatigue-Beschwerden bereits frühzeitig im Krankheits­verlauf auftreten. Mit der Zeit ist die körperliche und/oder geistige Leistungsfähigkeit derart eingeschränkt, dass auch alltägliche Anforderungen nur noch schwer bewältigt werden können.

Bei der Multiplen Sklerose handelt es sich um eine immunvermittelte, chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, die in unterschiedlicher Ausprägung zur Demyelinisierung (Entmarkung) und somit Zerstörung der Axone (impulsleitende Nervenzellfortsätze) führt. Die Ursachen der MS-bedingten Fatigue sind noch weitgehend ­ungeklärt und wahrscheinlich multifaktoriell. Es bestehen Korrelationen zu Schädigungen des motorischen Kortex und der Basalganglien, aber auch zu immunologischen ­Parametern.

Weitere häufige Symptome der MS sind Spastik und Muskelschwäche, Schmerzen und Sensibilitätsstörungen, Ataxie und Tremor sowie Störungen der Blasen-, Darm- und Sexualfunktionen.

Tumor-assoziierte Fatigue (CrF)

Bei Krebspatienten treten Müdigkeit, Schwächegefühl und mangelnde Energie häufig im zeitlichen und/oder kausalen Zusammenhang mit der malignen Tumorerkrankung einschließlich ihrer Behandlung auf. Daher verstehen Onkologen und Palliativmediziner diese Form von Fatigue inzwischen als eigenständige Entität und sprechen von Tumor-assoziierter Fatigue (Cancer-related Fatigue, CrF).

Die Symptomatik kann zu jedem Zeitpunkt der Krebserkrankung auftreten, nicht nur während oder nach einer intensiveren Behandlungsphase, sondern auch als Frühzeichen vor der Diagnose sowie bei der Progression, Metastasierung oder einem Rezidiv. Je nach Datenlage beträgt die CrF-Häufigkeit zwischen 50 und 90 Prozent; in einer Untersuchung zeigten sich bei rund 50 Prozent der Krebspatienten auch während der Nachsorge noch deutliche Fatigue-Symptome.

Allerdings sind nicht alle onkologischen Patienten gleichermaßen gefährdet: Besonders oft leiden Personen mit Leukämie, malignem Lymphom, Mamma- und Pankreaskarzinom unter CrF. Auch während und nach einer Chemo- oder Radiotherapie sowie nach Verabreichung von Immunmodulatoren wie Interferon klagen Betroffene häufiger über Fatigue-­Beschwerden.

Individuell kann sich die Tumor-assoziierte Fatigue sehr unterschiedlich darstellen. Sie kann sich

  • auf physischer Ebene zeigen, vor allem in Form von Schwächegefühl und schneller Ermüdbarkeit,
  • aber auch psychisch/kognitiv als Antriebslosigkeit, ­Konzentrations- und/oder Gedächtnisstörung.

Betroffene Patienten empfinden die CrF als einen Zustand, der sie mit am stärksten belastet. Hierdurch droht ein Teufelskreis aus Erschöpfung, Angst und Vermeidung von Aktivität und Anstrengung, sozialem Rückzug, dem Gefühl von Hilflosigkeit und depressiver Verstimmung. Häufige Folge ist eine massiv eingeschränkte Lebensqualität – nicht nur der Erkrankten, sondern auch ihrer Angehörigen. Letztendlich kann eine ausgeprägte Tumor-Fatigue auch die Patientenmitarbeit an den erforderlichen Therapiemaßnahmen (Compliance) gefährden.

Welche Pathomechanismen zu Fatigue-Beschwerden bei ­Tumorpatienten führen, ist nicht abschließend geklärt. Ausgehend von der chronischen Belastung des Organismus durch die maligne Erkrankung diskutiert man eine breite Palette von möglichen Faktoren, die gemeinsam zum Ergebnis Tumor-assoziierte Fatigue führen können:

  • direkte Tumorsymptome, z. B. Schmerzen,
  • Auswirkungen des Tumors, z. B. eine Tumoranämie oder Kachexie,
  • sogenannte B-Symptomatik (Trias aus: Fieber, Nachtschweiß und Gewichtsverlust),
  • Bewegungsmangel oder Ernährungsstörung mit weiterer Verminderung der Skelettmuskelmasse,
  • Nebenwirkungen der Tumortherapie, vor allem auf das Immun- und zentrale Nervensystem,
  • psychische Belastungen wie Angst und depressive ­Verstimmung.

Biochemische Erklärungsmodelle beziehen sich u. a. auf

  • hypothalamisch-hypophysäre Regelkreise,
  • das serotonerge System des ZNS,
  • die zirkadiane Melatonin-Sekretion und den Schlaf-Wach-Rhythmus,
  • die Expression proinflammatorischer Zytokine,
  • die Signaltransduktion in B-Lymphozyten (Antikörper­bildung).

Anämie bei chronischen Erkrankungen

Wie andere Anämieformen kann auch eine Tumoranämie Fatigue-Beschwerden verursachen oder verstärken. Da sie als Resultante einer systemischen Erkrankung verstanden werden kann, wird sie häufig auch zur Gruppe „anemia of chronic disease“ (ACD) gezählt. Neben soliden und hämatologischen Malignomen gelten auch chronisch-entzündliche (Immun-)Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis, Sarkoidose oder Morbus Crohn als Ursache einer ACD.

Hierbei kommt es zu einer Aktivierung des Immunsystems mit erhöhter Freisetzung von Zytokinen wie Tumornekrosefaktor alpha (TNF-α), Inter­feron γ oder Interleukin-6. Folgen sind eine gestörte Bildung sowohl des Wachstumsfaktors Erythropoetin in der Niere als auch von Erythrozyten im Rückenmark. Letzteres beruht auf einer erhöhten Hepcidin-Konzentration (des wichtigsten Regulators des Eisenmetabolismus), die eine „Fehlverwertung“ von Eisen z. B. in Makrophagen bedingt, sodass es der Blutbildung entzogen wird. Als Ausdruck einer Eisenverwertungsstörung bei gefüllten Eisenspeichern lassen sich ein erhöhter Ferritinwert und ein erniedrigter Transferrinwert nachweisen.

Weitere mögliche Ursachen einer Tumoranämie sind

  • eine Chemo- oder Strahlentherapie, die ebenfalls zu einer Hemmung der Blutbildung führen kann, sowie
  • tumorbedingte Blutungen und Begleiterkrankungen, z. B. eine Nierenfunktionsstörung.

Vor allem bei langsam wachsenden Tumoren wie dem kolorektalen Karzinom kann die Tumoranämie mit Fatigue das einzige Frühzeichen darstellen. Das Blutbild zeigt meist eine normochrome (normaler Hämoglobingehalt der Erythro­zyten) und normozytäre (normales Erythrozytenvolumen) Anämie.

Eisenmangelanämie

Weltweit ist der Eisenmangel für rund 80 Prozent aller Anämien verantwortlich.

Das Hämoglobinmolekül besteht aus vier Untereinheiten, in die jeweils eine prosthetische Gruppe – Häm b – eingebettet ist. In der sauerstofffreien Form handelt es sich hierbei um einen Eisen(II)-Komplex des Protoporphyrins IX. An dieser Stelle erfolgt die Bindung des Sauerstoffs, ein Hämoglobinmolekül kann also vier Sauerstoffmoleküle reversibel binden. Im menschlichen Organismus befinden sich 60 (bis 75) Prozent des Eisens im Hämoglobin (Hb) und etwa 30 Prozent im Myoglobin, während zehn (bis 25) Prozent an Ferritin gebunden sind (Depot-Eisen).

Bei einem Eisenmangel sind der Hb-Wert, der Hb-Gehalt pro Erythrozyt, die Retikulozytenzahl sowie die Serumferritin­konzentration erniedrigt. Die Erythrozyten können sowohl vergrößert als auch verkleinert erscheinen (Anisozytose).

Da bei einem Eisenmangel nicht ausreichend Hämoglobin gebildet wird, verringert sich die Sauerstoffkapazität der Erythrozyten, sodass die Sauerstoffversorgung der Organe und Gewebe abnimmt. Diesen hypoxischen Zustand versucht der Organismus mit einem erhöhten Herzzeitvolumen zu kompensieren. Daher zeigt das klinische Bild einer chronischen Eisenmangelanämie neben der Blässe von Haut und Schleimhäuten vor allem

  • Fatigue-Symptome wie Müdigkeit, Leistungsabfall und Konzentrationsstörungen,
  • Kreislaufsymptome wie Tachykardie, Belastungsdyspnoe und Schwindel.

Weiterhin können Befunde wie Mundwinkelrhagaden, Aphthen der Mundschleimhaut, diffuser Haarausfall sowie brüchige Finger- und Fußnägel auffällig sein.

Kardiopulmonale Störungen

Eine unzureichende Versorgung extrakardialer Organstromgebiete mit Blut, Sauerstoff und Substraten kann auch die Folge kardiovaskulärer oder pulmonaler Erkrankungen sein. Im ersten Fall beruht das klinische Bild auf einer reduzierten Organ- und Gewebeperfusion etwa bei Herzinsuffizienz, Hypotonie und (eher bradykarden) Rhythmusstörungen, im zweiten Fall auf einer gestörten Sauerstoffaufnahme bei Lungenleiden wie chronisch obstruktiver Bronchitis oder Emphysem. Neben chronischer Müdigkeit und Energiemangel zeichnen sich in den meisten Fällen weitere Symptome und Befunde ab, die zu einer naheliegenden Diagnose führen sollten (s. Tab. 2).

Allerdings liegen zur arteriellen Hypotonie als Ursache von Müdigkeit widersprüchliche Daten vor. So konnte in allgemeinmedizinischen Untersuchungen keine direkte Korrelation zwischen subjektiver Müdigkeit und Blutdruckwerten gezeigt werden. Auch wird die umgekehrte Kausalität diskutiert, nämlich dass ein beeinträchtigtes Befinden zu verminderter körperlicher Aktivität und dadurch zu erniedrigtem Blutdruck führen könne.


Tab. 2: Erkrankungen von Herz und Lunge, die mit Fatigue-Beschwerden einhergehen können. Differenzialdiagnostisch sollte neben der chronischen Müdigkeit auf zusätzliche Symptome oder Befunde geachtet werden.
Erkrankung
Typische Symptome
Herzinsuffizienz
  • Belastungs- oder Ruhedyspnoe sowie inadäquate körperliche Erschöpfung nach Belastung, meist mit Tachykardie einhergehend
  • Flüssigkeitsretention mit peripheren Ödemen, Nykturie und auskultatorisch feuchten Rasselgeräuschen über der Lunge
  • Palpitationen („Herzklopfen“), Schwindel, Synkopen
  • häufig Bluthochdruck (> 140/90 mmHg)
  • radiologische, Echo- oder EKG-Befunde, z. B. pulmonale Stauungszeichen oder ventrikuläre Wandverdickung
arterielle Hypotonie
  • Blutdruckwerte < 100/60 mmHg
  • häufig ohne Krankheitswert
  • primäre/essenzielle Form am häufigsten, in der Regel lageunabhängig und oft bei jüngeren Frauen mit leptosomalem Habitus
  • unspezifische Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrationsschwäche, Kälteempfindlichkeit, „schlechter Appetit“ oder „Wetterfühligkeit“
  • differenzialdiagnostisch zu beachten:
–  sekundäre Hypotonie (z. B. kardiovaskulär, endokrin, infektiös oder medikamentös bedingt)
–  orthostatische Hypotonie (gestörte Blutdruckgegenregulation bei raschem Wechsel in die aufrechte Körperposition)
Rhythmusstörungen (eher bradykard, z. B. AV-Block, ­Bradyarrhythmie bei Vorhofflimmern)
  • Müdigkeit und Leistungsschwäche, auch mit fließendem Übergang zu Benommenheit oder Kollapsneigung
  • zusätzlich Kopfschmerz, Schwindel, Sehstörungen, Schweißausbruch
  • tastbarer Puls meist „langsam“ und/oder „unregelmäßig“ (Bradykardie < 60/min), Phasen des Herzrasens bei Vorhofflimmern möglich
  • typisches Befundmuster im (Langzeit-)EKG, z. B. 3 : 1-Block (sog. Mobitz-Block) bei AV-Block 2. Grades
Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD)
  • „chronische Bronchitis“ mit gelegentlichem bis täglichem (vor allem morgens) und teils quälendem Husten (laut WHO produktiv über mindestens 3 Monate)
  • Hypersekretion mit schleimig-weißlichem, später auch zähem Auswurf
  • bei zunehmender pulmonaler Obstruktion (u. a. durch Schleimhautödem) zusätzliche Belastungsdyspnoe
  • im weiteren Verlauf Verkrampfung der Bronchialmuskulatur mit fließendem Übergang zu Asthma möglich
  • durch zunehmende Kollabierung der terminalen Bronchien bei der Exspiration („air trapping“) Entwicklung eines Lungenemphysems (Neigung zur Zyanose, bei Perkussion „hypersonorer“ Klopfschall, pathologische Lungenfunktionswerte)
  • als kardiale Komplikation zunehmende Druckbelastung und Insuffizienz des rechten Herzens (Cor pulmonale)

Chronische Niereninsuffizienz

Die Progression einer chronischen Nierenkrankheit kann zwischen verschiedenen Patienten stark schwanken. Dennoch zeigt sich nicht selten ein langsamer, sich über Jahre erstreckender Verlauf. Selbst Patienten mit einer milden bis mittleren renalen Insuffizienz können trotz erhöhter Harnstoff- und Creatininwerte ohne spezifische Symptome sein. Allgemeinsymptome wie Müdigkeit oder Kopfschmerzen sind möglich, können aber auch der in Europa mit etwa 30 Prozent häufigsten Ursache Diabetes mellitus geschuldet sein.

Mit zunehmender Einschränkung der Nierenfunktion treten Folgekrankheiten in mehreren Organsystemen auf. So kann sich z. B. ein renaler Hypertonus entwickeln, und ab einer Creatininclearance unter 60 ml/min kann eine renale Anämie auftreten, die primär durch eine verminderte Bildung von Erythropoetin verursacht wird und das Gefühl der häufigen Müdigkeit verstärken kann. Weitere Symptome sind eine Polyurie bzw. Nykturie, Ödeme und Störungen des Wasser- und Säuren-Basen-Haushalts (Hyperkaliämie, meta­bolische Azidose).

Im weiteren Verlauf kann vor allem durch die zunehmende Urämie auch das Nervensystem in Mitleidenschaft gezogen werden. Neben Müdigkeit, Muskelschwäche und Konzentrationsstörungen drohen Symptome wie Halluzinationen, Wahrnehmungsstörungen und Desorientiertheit.

(Post-) Infektiöse Müdigkeit

Je nach Datenlage klagen bis zu 40 Prozent der Patienten noch sechs Monate nach einer Mononukleose-Infektion über eine anhaltende Müdigkeit, Abgeschlagenheit und Antriebsschwäche. Ob dies als protrahierter Verlauf bei Virusper­sistenz verstanden oder dem chronischen Fatigue-Syndrom (s. Kasten) zugeordnet werden sollte, ist nicht geklärt.

Bei anderen chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder Morbus Crohn werden ebenfalls Müdigkeitszustände beschrieben. Als Schlüsselfaktor sind wahrscheinlich auch hier Entzündungsmediatoren wie Interleukin-6 (IL-6) und TNF-α beteiligt. Zum einen besteht die schon genannte Wechselwirkung mit der Erythropoese (und dadurch mit der „anemia of chronic disease“), zum anderen dämpft insbesondere TNF-α zentral den physiologischen Schlaf-Wach-Zyklus.

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Chronische Müdigkeit beeinträchtigt nicht nur die Leistungsfähigkeit und Lebensfreude, sie kann auch das Symptom einer ernst­haften Erkrankung sein.

Hypothyreose

Auch metabolische und hormonale Störungen können mit chronischen Müdigkeitszuständen einhergehen. So zeigen vor allem Schilddrüsenhormone eine ganze Reihe „stimulierender“ Wirkungen, zum Beispiel

  • fördern sie die Ausschüttung von Erythropoetin und begünstigen die periphere Sauerstoffabgabe der Erythrozyten,
  • sensibilisieren sie Zielorgane wie das Herz für Catecholamine,
  • fördern sie den Anstieg der Blutglucose-Konzentration,
  • steigern sie die Aktivität der Na+/K +-ATPase und die neuromuskuläre Erregbarkeit,
  • erhöhen sie durch eine Steigerung des Grundumsatzes die Körpertemperatur.

Dementsprechend zeigen sich bei einer Hypothyreose so ­unterschiedliche Symptome wie Kälteintoleranz, Anämie, Hypoglykämie, verlangsamte Atmung, Bradykardie (nicht selten mit Hypotonie), Appetitlosigkeit, Obstipation, Hypo­reflexie, Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Typisch ist auch eine teigige Konsistenz der meist trockenen Haut (Myxödem).

Die häufigste Ursache einer primären Hypothyreose ist eine Autoimmunthyreopathie.

Diabetes mellitus

Im Gegensatz zum Typ-1-Diabetes verläuft der Typ-2-Diabetes oft schleichend, möglicherweise sogar über Jahre unbemerkt und ohne subjektives Krankheitsgefühl. Erst wenn die Plasmaglucosewerte immer wieder über 250 mg/dl (13,9 mmol/l) und die HbA1c -Werte bei 9,5% liegen, bemerken die Betroffenen allgemeine Symptome wie leichte Ermüdbarkeit, Abnahme der Konzentrationsfähigkeit und Rückgang der körperlichen Leistungsfähigkeit. Auffällig sind weiterhin häufiges Wasserlassen, schlecht verheilende Wunden und eine erhöhte Infektneigung, insbesondere der Haut oder Harnwege. Zu beachten ist, dass der Typ-2-Diabetes sich im Rahmen des metabolischen Syndroms entwickelt, welches durch mangelnde körperliche Aktivität, Übergewicht, Fettstoffwechselstörungen, arteriellen Bluthochdruck und eine Insulinresistenz gekennzeichnet ist.

Eine plausible Erklärung für Fatigue-Symptome bei Diabetes liegt in einem insgesamt instabilen Blutzuckermetabolismus, der zu praktisch täglichen Schwankungen des Blutzuckerspiegels mit sowohl hyperglykämischen als auch hypoglykämischen Episoden führt. Hierzu passt auch die Beobachtung, dass ein Abfall des Blutzuckerspiegels

  • sowohl mit Zeichen eines aktivierten autonomen Nervensystems einhergeht (Schwitzen, Zittern, Herzklopfen, Übelkeit)
  • als auch mit Zeichen einer Neuroglucopenie (Müdigkeit, Konzentrationsstörungen, Schwindelgefühl, Verwirrtheit, Erregbarkeit).

Eventuell Psychostimulanzien, auf jeden Fall körperliche Aktivität

Gesicherte spezifische Therapieempfehlungen für den Zustand chronische Müdigkeit oder Fatigue gibt es nicht. Wenn eine Grunderkrankung diagnostiziert ist, gilt es, diese zuerst adäquat zu behandeln, z. B. eine Hypothyreose durch Hormonsubstitution oder einen manifesten Eisenmangel durch die Gabe von Eisen(II)sulfat, und dann die Entwicklung des Symptoms Müdigkeit abzuwarten.

Tumorpatienten mit Chemotherapie-induzierter Anämie können mit synthetischem Erythropoetin (EPO) behandelt werden, wobei auch subkutane Selbstinjektionen möglich sind. Zeigt sich trotz optimaler Dosierung (und gegebenenfalls Eisensubstitution) innerhalb von sechs bis acht Wochen kein Anstieg des Hb-Wertes auf 12 g/dl, ist eine Fortsetzung dieser Therapie nicht sinnvoll. Auch bei renaler Anämie (wegen chronischer Niereninsuffizienz) wird die Gabe von EPO empfohlen.

Lässt sich die Müdigkeit (vor allem bei Multipler Sklerose und malignen Tumoren) nicht beeinflussen, gelten in manchen Leitlinien Psychostimulanzien wie Methylphenidat und Modafinil als gerechtfertigter Therapieversuch, obwohl Modafinil wegen möglicher kutaner und psychiatrischer Nebenwirkungen nicht unumstritten ist. Bei Patienten mit fortgeschrittenen gynäkologischen oder Prostatakarzinomen und schwerer CrF erwies sich Methylphenidat als effektiv.

Bei allen Formen von Müdigkeit und Fatigue werden psychosoziale Interventionen sowie regelmäßige körperliche Aktivität empfohlen. Letztere soll dem Teufelskreis aus Bewegungsmangel, Konditionsverlust und weiterem körperlichem Abbau entgegenwirken. Individuelle Kontraindikationen sind natürlich zu berücksichtigen, z. B. starke Schmerzen, hohes Fieber, ein akuter Erkrankungsschub (etwa bei MS), Knochenmetastasen oder eine momentane Chemotherapie.

Mehrere Metaanalysen bestätigen die Effektivität einer regelmäßigen und strukturierten körperlichen Aktivität, sei es als Ausdauer- oder als Krafttraining. So verminderte in einer englischen Untersuchung über einen Zeitraum von vier Wochen ein täglicher 30-Minuten-Spaziergang Fatigue-Beschwerden mehr als jede andere Intervention. |

Literatur

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Autor

Clemens Bilharz ist Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin und zusätzlich als wissenschaftlicher Fachzeitschriftenredakteur ausgebildet. Er ist als Autor und Berater für Fachverlage und Agenturen tätig.

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