ADHS-Medikation bei Schwangeren

Sind Methylphenidat und Atomoxetin in der Schwangerschaft sicher?

Stuttgart - 08.11.2024, 15:45 Uhr

Schwangere Frauen sind oft verunsichert, wenn sie Arzneimittel einnehmen sollen (Foto: AdobeStock/alter_photo). 

Schwangere Frauen sind oft verunsichert, wenn sie Arzneimittel einnehmen sollen (Foto: AdobeStock/alter_photo). 


Können Frauen mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in der Schwangerschaft Methylphenidat und Atomoxetin einnehmen, ohne das Ungeborene zu gefährden? Italienische Wissenschaftler gingen dieser Frage in einer Metaanalyse nach.
Prof. Dr. Sarah Kittel-Schneider ordnet die Analyse im Experteninterview für die DAZ ein.  

In einer großen Metaanalyse, die im JAMA Network Open veröffentlicht wurde, untersuchten italienische Forscherinnen und Forscher, ob die Einnahme von Methylphenidat und Atomoxetin in der Schwangerschaft mit unerwünschten Auswirkungen auf Neugeborene verbunden ist. Laut den Autoren ist es die erste umfassende Metaanalyse, die diese medikamentösen Therapien gegen ADHS bei schwangeren Frauen untersucht und mit Müttern vergleicht, die auch an ADHS erkrankt sind, aber keine Verschreibung erhielten sowie mit der Allgemeinbevölkerung [1].

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) betrifft etwa 3 bis 7% der jungen Menschen weltweit. Im Erwachsenenalter haben etwa zwei Drittel der Patientinnen und Patienten, bei denen ADHS in der Kindheit diagnostiziert wurde, noch Symptome [1]. In der Behandlung zählen das Amphetamin-Derivat Methylphenidat und der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin zu den gebräuchlichsten Arzneimitteln. So wurden auch in Deutschland laut Arzneiverordnungsreport 2022 insgesamt 64,4 Millionen Tagesdosen Methylphenidat und 2,0 Millionen Tagesdosen Atomoxetin verordnet [2].

Für beide Wirkstoffe gebe es keine endgültigen Richtlinien oder eindeutigen Indikationen für ihre Anwendung in der Schwangerschaft, schreiben die Autoren. Studien seien widersprüchlich. Die Food and Drug Administration (FDA) stufe ADHS-Medikamente in die “Schwangerschaftskategorie C" ein, das bedeutet, dass es nicht genügend kontrollierte Studien mit Frauen gibt oder dass an Tieren unerwünschte Auswirkungen auf den Fötus gezeigt wurden.

Kein erhöhtes Risiko festgestellt

In ihre Analyse schlossen die Autorinnen zehn Studien aus Dänemark, Schweden, Norwegen, Island, USA, Israel und den Niederlanden ein. In diesen wurden rund 16,5 Millionen schwangere Frauen untersucht, 30.830 waren dabei von ADHS betroffen. Die Ergebnisse:

Fehlgeburten waren bei den exponierten Nachkommen von mit Methylphenidat oder Atomoxetin behandelten Müttern nicht häufiger als bei nicht behandelten Müttern mit ADHS (OR = 1,01; 95%-KI = 0,70 bis 1,47; p = 0,96; I2 = 0%), ohne statistische Signifikanz. Zwar traten angeborene Anomalien bei Nachkommen der exponierten Gruppe etwas häufiger auf (OR = 1,14; 95%-KI = 0,83 bis 1,55; p = 0,41; I2 = 8%), allerdings war das Ergebnis statistisch nicht signifikant.

Auch im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung war das Risiko bei den exponierten Frauen für Fehlgeburten nicht erhöht bzw. fast gleich häufig (OR = 1,05, 95%-KI = 0,81 bis 1,37; P = 0,70; I2 = 0% ), ohne statistische Signifikanz. Angeborene Anomalien bei den Nachkommen der exponierten Gruppe waren im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung etwas häufiger (OR = 1,19; 95%-KI= 0,93 bis 1,53; p = 0,16; I2 = 74%), aber auch dieses Ergebnis war ohne statistische Signifikanz.

Die Autorinnen und Autoren der Studie heben hervor, dass die Stichprobe der Analyse sehr groß sei. Damit die Ergebnisse verallgemeinerbar sind, werteten sie das Risiko auch für schwangere Frauen aus, die von ADHS betroffen waren und keine Behandlung erhielten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung. Die ADHS-Diagnose war mit einer nichtsignifikanten höheren Häufigkeit für angeborene Anomalien verbunden (OR = 1,23, 95%-KI = 0,58 bis 2,63 ; p = 0,59; I2 =94%), Fehlgeburten waren seltener (OR = 0.88, 95%-KI = 0,71 bis 1,09; p = 0,24; I2 =0%, nicht signifikant). Das Ergebnis unterstütze die mögliche Tatsache, dass ein genetischer Zusammenhang von ADHS und angeborenen Anomalien oder Fehlgeburten bei den Nachkommen gering ist. 

Als Einschränkung ihrer Studie nennen die Forscherinnen und Forscher, dass die Definition der angeborenen Anomalie nicht spezifisch sei und sehr unterschiedlich sein kann. Außerdem könne man annehmen, dass Frauen, die eine medikamentöse Behandlung ihrer ADHS während der Schwangerschaft fortsetzen, unter einer schweren Form leiden. Der Schweregrad sei in Studien aber meist nicht angegeben.

Methylphenidat und Atomoxetin gelten als sicher

Die Autoren konkludieren, dass die Evidenz zur Einnahme von Methylphenidat und Atomoxetin während der Schwangerschaft laut der aktuellen Metaanalyse darauf hindeute, dass Methylphenidat oder Atomoxetin während der Schwangerschaft sicher ist. Trotzdem seien weitere Studien notwendig, um schwangere Frauen mit ADHS zu unterstützen, die Schwangerschaft gut zu bewältigen, ihr Wohlbefinden möglichst zu erhalten und Rückfälle zu vermeiden.

Literatur

[1]          Di Giacomo E et al. Methylphenidate and Atomoxetine in Pregnancy and Possible Adverse Fetal Outcomes: A Systematic Review and Meta-Analysis. JAMA Netw Open 2024;7(11):e2443648, doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.43648

[2]          Ludwig W-D, Mühlbauer B, Seifert R. Arzneiverordnungs-

Report 2023, Springer Nature 2023, ISBN 978-3-662-68370-5

Experteninterview 

Prof. Dr. Sarah Kittel-Schneider, University College Cork, Cork in Irland ordnet die Metaanalyse im Experteninterview mit der DAZ ein. 

Prof. Dr. Sarah Kittel-Schneider, University College Cork, Cork in Irland

DAZ: Wie wurde eine Medikation mit Methylphenidat oder Atomoxetin bei einer Therapie in der Schwangerschaft bisher eingeschätzt und passen die Ergebnisse der Studie zu den vorhandenen Erkenntnissen?  

Kittel-Schneider: Die Datenlage zu Methylphenidat ist schon seit einigen Jahren als ausreichend gut einzuschätzen, was das geringe bzw. nicht vorhandene Fehlbildungsrisiko angeht, und auch der Einsatz im 2. und 3. Trimester galt schon seit einiger Zeit nach individueller Nutzen-Risiko-Einschätzung als vertretbar. Atomoxetin in der Schwangerschaft wurde noch eher zurückhaltend beurteilt, da die Datenlage deutlich begrenzter war im Vergleich zu Methylphenidat. Frühere Studien zeigten bei sowohl Methylphenidat wie auch Atomoxetin keine klaren Hinweise auf ein generell erhöhtes Fehlbildungsrisiko, aber es gab Bedenken bezüglich möglicher Risiken wie Spontanaborte oder kardiovaskulären Fehlbildungen. Die neuen Ergebnisse passen weitgehend zu den vorhandenen Erkenntnissen, bestätigen aber mit einer größeren Datenbasis die relative Sicherheit dieser Medikamente in allen Trimestern der Schwangerschaft.

DAZ: Gibt die Metaanalyse Entwarnung bzw. mehr Sicherheit für schwangere Frauen mit ADHS?

Kittel-Schneider: Die Metaanalyse gibt tatsächlich noch mehr Sicherheit für schwangere Frauen mit ADHS. Sie zeigt, dass die Anwendung von Methylphenidat oder Atomoxetin während der Schwangerschaft nicht mit einem signifikant erhöhten Risiko für angeborene Fehlbildungen oder Fehlgeburten verbunden ist. Dies bestätigt frühere Erkenntnisse mit einer größeren Stichprobe und stärkerer statistischer Aussagekraft.

DAZ: Haben die Ergebnisse Auswirkungen auf die Praxis?

Kittel-Schneider: Die Ergebnisse könnten durchaus Auswirkungen auf die klinische Praxis haben: Sie könnten zu einer weniger restriktiven Verschreibungspraxis bei schwangeren Frauen mit ADHS führen, die eine Behandlung benötigen. Ärztinnen und Ärzte können nun noch fundiertere Beratungsgespräche mit schwangeren Patientinnen führen und ihnen noch mehr Sicherheit bezüglich der Medikamenteneinnahme geben. Es könnte zu einer Neubewertung der Risiko-Nutzen-Abwägung kommen, wobei die Vorteile einer Behandlung für die Mutter stärker berücksichtigt werden könnten. Allerdings ist zu beachten, dass trotz der ermutigenden Ergebnisse weiterhin eine individuelle Nutzen-Risiko-Abwägung für jede Patientin erfolgen sollte, was aber für jegliche Behandlung mit Medikamenten in der Schwangerschaft und Stillzeit zutrifft. Zudem sind weitere Studien, insbesondere zu Langzeitauswirkungen auf die kindliche Entwicklung, wünschenswert.


Julia Stützle, Apothekerin und Volontärin


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