- DAZ.online
- News
- Recht
- Welche Folgen könnte der...
Erste Anmerkungen zum Handels- und Kooperationsabkommen zwischen EU und Großbritannien
Welche Folgen könnte der Brexit-Vertrag für den Arzneimittelsektor haben?
Lange hat es gedauert, an Heiligabend war es nun soweit: Die Chefunterhändler der EU einerseits und des Vereinigten Königreichs und Nordirland andererseits einigten sich auf ein Handels- und Kooperationsabkommen, das bereits am 1. Januar 2021 vorläufig in Kraft treten soll. Für DAZ.online hat sich Professor Hilko Meyer, Experte für Europarecht, europäisches Wirtschaftsrecht und Recht des Gesundheitswesens an der Frankfurt University of applied Sciences, den Vertragsentwurf mit Blick auf die möglichen Folgen für den Arzneimittelsektor angeschaut.
Am 24. Dezember 2020 einigten sich die Chefunterhändler der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft einerseits und die des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland andererseits auf ein Handels- und Kooperationsabkommen, das bereits am 1. Januar 2021 vorläufig in Kraft treten soll. Der am zweiten Weihnachtstag veröffentlichte Vertragsentwurf umfasst 1.246 Seiten und ist ausdrücklich als rechtlich unverbindliche Information gekennzeichnet. Die nachfolgenden Anmerkungen können daher nur eine erste Einschätzung wiedergeben und stehen unter dem Vorbehalt weiterer Änderungen und Erkenntnisse.
Mehr zum Thema
Regierung schreibt an Lieferanten
UK: Pharmaindustrie muss Vorräte für den Brexit anlegen
Brexit um Mitternacht
„No Deal-Brexit“ ist nicht aufgehoben, sondern vielleicht nur aufgeschoben
Der Entwurf enthält sowohl für den Arzneimittel- als auch den Apothekenbereich spezielle Vorschriften, die aber hinter den Erwartungen zurückbleiben. So gibt es keine Vereinbarung über die gegenseitige Anerkennung der Chargenfreigabe. Das hat für den grenzüberschreitenden Arzneimittelverkehr aus Großbritannien in die EU zur Folge, dass die Chargenfreigabe für Fertigarzneimittel durch eine qualifizierte Person in der EU nach dem EU-Arzneimittelrecht durchgeführt werden muss. Auch bleibt es dabei, dass künftig zwei getrennte Zulassungssysteme für Arzneimittel der beiden Vertragspartner bestehen. Eine gegenseitige Anerkennung der Zulassungsentscheidungen wurde ebenso wenig vereinbart wie eine Übergangsfrist, sodass die Regelungen bereits ab der kommenden Woche gelten.
Zollfrei oder nicht?
Von Bedeutung sind ferner die künftige Begrenzung der markenrechtlichen Erschöpfungsregelungen auf das Territorium der jeweiligen Vertragspartei, der EU-Vorbehalt der einseitigen Äquivalenzentscheidung in Datenschutzfragen und die produktspezifischen Ursprungsregeln, nach denen sich richtet, ob ein Produkt bei der Einfuhr zollfrei bleibt oder nicht. Die vereinbarte Zollfreiheit ist an bestimmte Mindesthöhen der Wertschöpfung innerhalb des Territoriums beider Vertragspartner gebunden. Damit wirken sich zum Beispiel Verarbeitungsschritte und Vormaterialien aus der EU nicht negativ auf den Präferenzzoll aus.
Bei pharmazeutischen Erzeugnissen ist der Ursprungsnachweis erfüllt, wenn entweder eine chemische Reaktion, eine Reinigung, ein Mischen und Vermengen, die Herstellung von Standardmaterialien, eine Änderung der Teilchengröße, eine Isomerentrennung oder eine biotechnologische Verarbeitung in einem der Vertragsstaaten erfolgt ist oder der Wert der Vormaterialien ohne Ursprungseigenschaft (VNM), ausgedrückt in Prozent des Ab-Werk-Preises (EXW), den Höchstwert (MaxNOM) von 50 Prozent nicht überschreitet (S. 430). Allerdings hat die britische Regierung einseitig Einfuhren von in der EU zugelassenen Arzneimittel bis zur Jahresmitte erlaubt, um Lieferengpässe abzumildern. Die EU hat im Gegenzug die Frist zur Vorlage des Ursprungsnachweises auf ein Jahr verlängert, um den Problemen des Handels bei der Ermittlung der produktspezifischen Ursprungsdaten Rechnung zu tragen.
Gegenseitige Anerkennung der GMP-Inspektionen
Im Gegensatz zur Chargenkontrolle hat es im Hinblick auf die Inspektion von Herstellungsanlagen eine Einigung über die gegenseitige Anerkennung der amtlichen GMP-Dokumente gegeben, mit denen bescheinigt wird, ob eine Herstellungsanlage im Einklang mit der Guten Herstellungspraxis und/oder den im Rahmen der Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Produkts eingegangenen Verpflichtungen arbeitet (Article 5: Recognition of inspections and acceptance of official GMP documents). Die Regelungen hierzu finden sich in einem gesonderten Anhang zu den technischen Handelshemmnissen im Arzneimittelbereich (Annex TBT-2: Medicinal Products, S. 492 ff.).
Eine Vertragspartei erkennt die von der anderen Vertragspartei durchgeführten Kontrollen an und akzeptiert die von der anderen Vertragspartei im Einklang mit den in einer Anlage aufgeführten Gesetzen, Vorschriften und technischen Leitlinien beider Seiten ausgestellten offiziellen GMP-Dokumente (Appendix B – List of applicable laws, regulations and technical guidelines relating to Good Manufacturing Practice, S. 501). Die Beurteilung der Produktionsanlagen wird gemäß den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Sitzlandes durchgeführt und schließt die Inspektion vor und nach dem Inverkehrbringen ein.
Nichtanerkennung im begründeten Einzelfall
Eine Vertragspartei kann freiwillig amtliche GMP-Dokumente anerkennen, die von einer Behörde der anderen Vertragspartei für Herstellungsanlagen ausgestellt wurden, die sich außerhalb des Gebiets der ausstellenden Behörde befinden. Weitere Regelungen betreffen unter anderem die Nichtanerkennung im begründeten Einzelfall sowie die Durchführung eigener Inspektionen auf dem Territorium der anderen Seite.
Eine Behörde einer Vertragspartei kann unter bestimmten Umständen beschließen, ein von einer Behörde der anderen Vertragspartei ausgestelltes amtliches GMP-Dokument für im Gebiet der ausstellenden Behörde gelegene Herstellungsanlagen nicht anzuerkennen. Beispiele für solche Umstände sind der Hinweis auf wesentliche Unstimmigkeiten oder Unzulänglichkeiten in einem Kontrollbericht, Qualitätsmängel, die bei der Überwachung nach dem Inverkehrbringen festgestellt wurden, oder andere konkrete Anhaltspunkte, die Anlass zu ernsthaften Bedenken hinsichtlich der Produktqualität oder der Patientensicherheit geben. Jede Vertragspartei hat das Recht, ihre eigenen Inspektionen von Fertigungseinrichtungen durchzuführen, deren Konformität von der anderen Vertragspartei bescheinigt worden ist (Article 7: Safeguards). Die Behörde der Vertragspartei, die die Inspektion durchzuführen beabsichtigt, bemüht sich, die Behörde der anderen Vertragspartei mindestens 30 Tage vor einer geplanten Inspektion schriftlich zu benachrichtigen, kann jedoch in dringenden Fällen eine kürzere Frist vorsehen. Die Behörde der anderen Vertragspartei kann sich der Inspektion anschließen.
Großbritannien nicht mehr an Rechtsprechung des EuGH gebunden
Großbritannien konnte sich mit seinem zentralen Anliegen durchsetzen, nicht mehr der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unterworfen zu sein, musste sich aber, ebenso wie die EU, einem neuen mehrstufigen Koordinierungs- und Konfliktlösungsmechanismus unterwerfen. Eine zentrale Rolle spielt hierbei der künftige Partnerschaftsrat (Article INST.1: Partnership Council, S. 10) mit seinen spezialisierten Handelsausschüssen und Arbeitsgruppen (Article INST.2: Committees, INST.3: Working Groups, S. 15).
Was gilt für den Arzneimittel- und Apothekenbereich?
Für den Arzneimittel- und Apothekenbereich einschlägig dürften die die Arbeitsgruppe „Arzneimittel" unter der Aufsicht des Fachausschusses für technische Handelshemmnisse und die Arbeitsgruppe für die Koordinierung der sozialen Sicherheit unter der Aufsicht des Fachausschusses für die Koordinierung der sozialen Sicherheit sein. Hier soll die regelmäßige Information und Konsultation über die Anwendung der bestehenden und die Entwicklung künftiger Regelungen stattfinden.
Für den Fall, dass eine Vertragspartei der Auffassung ist, dass sie die von der anderen Vertragspartei durchgeführten Inspektionen nicht mehr anerkennen oder die von der anderen Vertragspartei ausgestellten amtlichen GMP-Dokumente nicht mehr akzeptieren kann, so teilt sie der anderen Vertragspartei ihre Absicht mit, die gegenseitige Anerkennung auszusetzen, und die Vertragsparteien nehmen Konsultationen in der Arbeitsgruppe „Arzneimittel" auf. Dagegen wird die Geltung der Streitbeilegungsmaßnahmen, die im sechsten Teil des Handels- und Kooperationsabkommens geregelt sind, für Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung des Anhangs über Arzneimittel ausdrücklich ausgeschlossen (Art. 13, S. 495).
Komplexe Vorbehaltsregelungen für die Apotheken und den Arzneimittelversand
Das Apothekenwesen fällt, ebenso wie das Sozialsystem und die Gesundheitsversorgung insgesamt, nicht in den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union. Im Einklang mit den WTO-Regeln behandelt das Unionsrecht jedoch Einschränkungen der Marktfreiheiten durch entsprechende nationale Maßnahmen als rechtfertigungspflichtige Handelshemmnisse. Dementsprechend enthält der Vertragsentwurf ein Bündel an Vorbehalten der EU, die sich auf die Aufrechterhaltung bestehender und künftiger Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Gesundheits- und Sozialbereich beziehen und insoweit eine Berufung Großbritanniens auf einen gleichwertigen Marktzugang seiner Unternehmen ausschließen.
Für die in diesem Zusammenhang aufgeführten Maßnahmen gilt das Rückschrittverbot, das die EU gegen den Widerstand des Vereinigten Königreichs durchgesetzt hat („ratchet clause“). Wie die Sperrklinken einer Ratsche soll diese Klausel verhindern, dass bisher erreichte Freiheiten des Handelsverkehrs rückgängig gemacht und faire Wettbewerbsbedingungen („level playing field“) untergraben werden. Erlaubt ist nur die Fortsetzung oder Modifizierung der von den Vorbehalten erfassten Maßnahmen, nicht ihre Erweiterung. Auffällig ist daher vor allem, wie unterschiedlich präzise die für die einzelnen Staaten geltenden Vorbehalte formuliert sind und wie selektiv sie offenbar von den Mitgliedstaaten eingebracht wurden.
Vorbehalt: Freiberufliche Dienstleistungen
Die Vorbehalte untergliedern sich in die Bezugnahme auf bestehende Maßnahmen (Annex Servin-1: Existing measures, S. 530 ff.) und die Beanspruchung künftiger Maßnahmen (Annex Servin-2: Future measures, S. 544 ff.). In die erste Kategorie fällt der Vorbehalt Nr. 3 - Freiberufliche Dienstleistungen (Gesundheitsdienste und Einzelhandel mit Arzneimitteln, S. 570 ff.), in dem die nationalen Vorbehalte im Hinblick auf die Investitionsliberalisierung und den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen aufgeführt sind. Unter der Überschrift „Einzelhandelsverkauf von Arzneimitteln, medizinischen und orthopädischen Waren und anderen Dienstleistungen durch Apotheker“ finden sich dort als erstes die Maßnahmen Deutschlands und Österreichs (S. 570):
In Bezug auf „Liberalisierung von Investitionen - Marktzugang, Inländerbehandlung, leitende Angestellte und Verwaltungsräte“ heißt es für Österreich: „Der Einzelhandel mit Arzneimitteln und bestimmten medizinischen Gütern an die Öffentlichkeit darf nur durch eine Apotheke betrieben werden. Für den Betrieb einer Apotheke ist die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats des EWR oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft erforderlich. Die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats des EWR oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist für Pächter und Personen, die mit der Leitung einer Apotheke betraut sind, erforderlich.“
Liberalisierung von Investitionen
Deutschland bezieht sich auf „Liberalisierung von Investitionen - Marktzugang, Inländerbehandlung“ und erklärt: „Der Betrieb einer Apotheke ist nur natürlichen Personen (Apothekern) erlaubt. Staatsangehörige anderer Länder oder Personen, die das deutsche Apothekerexamen nicht bestanden haben, können nur eine Lizenz zur Übernahme einer Apotheke erhalten, die bereits während der letzten drei Jahre bestanden hat. Die Gesamtzahl der Apotheken pro Person ist auf eine Apotheke und bis zu drei Filialapotheken beschränkt.“
Bemerkenswert ist die fehlende Bezugnahme auf die Anerkennung der Abschlüsse anderer EU-Mitgliedstaaten und auf das Apothekenmonopol im Hinblick auf den Einzelhandel mit apothekenpflichtigen und verschreibungspflichtigen Arzneimittel. Die wird auch in dem weiteren deutschen Vorbehalt nicht erwähnt, der sich auf „den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen - Örtliche Anwesenheit“ bezieht: „Ein Wohnsitz ist erforderlich, um eine Lizenz als Apotheker zu erhalten oder eine Apotheke für den Einzelhandel mit Arzneimitteln und bestimmten medizinischen Produkten zu eröffnen.“
Künftige Maßnahmen
Unter der Überschrift „künftige Maßnahmen“ macht die EU generelle Vorbehalte im Hinblick auf diejenigen Freiheiten geltend, die sich die Mitgliedstaaten der EU bzw. des EWR wechselseitig einräumen, und stellt damit klar, dass Großbritannien daraus keine Gleichbehandlung ableiten kann.
Lokale Präsenz
In Bezug auf „die Liberalisierung von Investitionen - Marktzugang und grenzüberschreitender Handel mit Dienstleistungen - Lokale Präsenz“ beansprucht die EU für den Einzelhandelsverkauf von Arzneimitteln, medizinischen und orthopädischen Waren und anderen Dienstleistungen durch Apotheker: „Für die Beschränkung der Anzahl von Anbietern, die berechtigt sind, eine bestimmte Dienstleistung in einer bestimmten lokalen Zone oder einem bestimmten Gebiet auf nichtdiskriminierender Basis zu erbringen. Es kann daher eine wirtschaftliche Bedarfsprüfung durchgeführt werden, bei der Faktoren wie die Anzahl und die Auswirkungen auf bestehende Betriebe, die Verkehrsinfrastruktur, die Bevölkerungsdichte oder die geografische Verteilung berücksichtigt werden.“
Kein Verweis auf Versandhandel
Ebenfalls für die gesamte EU, mit Ausnahme von BE, BG, EE, ES, IE und IT, wird beansprucht: „Versandhandel ist nur aus den Mitgliedstaaten des EWR möglich, daher ist eine Niederlassung in einem dieser Länder für den Einzelhandel mit Arzneimitteln und bestimmten medizinischen Produkten an die breite Öffentlichkeit in der Union erforderlich.“ (Retail sales of pharmaceutical, medical and orthopaedic goods, other services provided by pharmacists, CPC 63211, S. 660) Hier fällt erneut auf, dass kein Bezug auf die Apothekenpflicht genommen wird. Auch fehlt ein ausdrücklicher Verweis in der Beschreibung des Vorbehalts („description“) und unter den geltenden Maßnahmen („existing measures“) auf die deutschen Regelungen zur Verbringung von Arzneimitteln aus dem EU-Ausland im Wege des Versands an Endverbraucher.
§ 73 Abs. 1 S. 1 Nr. 1a Arzneimittelgesetz knüpft die Zulässigkeit des Arzneimittelversands an hiesige Endverbraucher ausdrücklich daran, dass er von einer Apotheke eines EU- oder EWR-Mitgliedstaates entsprechend den deutschen Vorschriften zum Versandhandel oder zum elektronischen Handel durchgeführt wird und die versendende Apotheke für den Versandhandel nach ihrem nationalen Recht, soweit es dem deutschen Apothekenrecht im Hinblick auf die Vorschriften zum Versandhandel entspricht, oder nach dem deutschen Apothekengesetz befugt ist.
Nachbesserung bei der Vertragsprüfung durch die EU-Sprachjuristen?
Vor dem Hintergrund des mit Großbritannien vereinbarten Rückschrittverbots und der offenbar - trotz der Relevanz für die nationalen Gesundheits- und Sozialsysteme - nicht beabsichtigen Einbeziehung der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten in die Entscheidung der EU über den Vertrag mit dem Vereinigten Königreich, bleibt zu hoffen, dass die notwendige Präzisierung, insbesondere die Bezugnahme auf die Regelungen des Arzneimittelgesetzes in Anhang Servin-2, Vorbehalt 3, Buchstabe c), noch im Rahmen der sprachjuristischen Vertragsprüfung und der Beratungen im Europäischen Parlament nachgeholt wird. Dies würde im Hinblick auf den Arzneimittelversand an Endverbraucher in Deutschland nach Maßgabe des deutschen Arzneimittelrechts für Rechtssicherheit sorgen. Angesichts der ohnehin schwierigen Kontrolle des grenzüberschreitenden Internethandels erscheint eine solche Klarstellung unabdingbar.
Übersetzter Auszug aus dem Vertrag unter: apothekenrecht-kompakt.de
0 Kommentare
Das Kommentieren ist aktuell nicht möglich.