Medizin

Ein immer noch zu oft verschwiegenes Leiden

Von Clemens Bilharz | Aus falscher Scham wird die Harn- und vor allem die Stuhlinkontinenz des alten Menschen häufig tabuisiert. Je nach Ausprägung kann das Leiden eine massive Einschränkung der Lebensqualität bedeuten, und der demografische Wandel macht es zu einem wachsenden medizinischen und sozioökonomischen Problem. Erst wenn die Betroffenen ihre Inkontinenz eingestehen, können sie persönlich beraten und mit supportiven, medikamentösen und physiotherapeutischen Maßnahmen behandelt werden.

Ganz allgemein bezeichnet der Begriff der Inkontinenz die fehlende Fähigkeit, Blasen- oder Darminhalt zu speichern und selbst zu bestimmen, wann und wo dieser entleert wird – gemäß der zusammengefassten Definition der Internationalen und der Deutschen Kontinenzgesellschaft. Der Verlust dieser erlernten, nicht angeborenen Fähigkeit geht für die Betroffenen häufig mit Scham und Stigmatisierung einher und kann je nach Lebenssituation einen sozialen Rückzug oder eine erhöhte Pflegebedürftigkeit zur Folge haben.

Aufgrund der demografischen Entwicklung mit einer deutlichen Zunahme von Hochbetagten wird auch diese Störung in den nächsten Jahren eine zunehmende sozioökonomische Relevanz aufweisen. Bereits heute liegt der Kostenanteil für die Versorgung inkontinenter Menschen über dem für Kardiaka und Antirheumatika. Unabhängig von organischen Ursachen sind – wie die italienische GIFA-Studie mit fast 14.000 Patienten über 65 Jahren zeigte – vor allem kognitive Einschränkungen bis hin zur Demenz der Hauptrisikofaktor für geriatrische Syndrome wie Harn- oder Stuhlinkontinenz.

Die Prävalenz der Harninkontinenz nimmt mit steigendem Alter deutlich zu. Von den Menschen, die in Deutschland an einer behandlungs- oder versorgungsbedürftigen Harninkontinenz leiden, sind mehr als zwei Millionen älter als 60 Jahre. Dies entspricht 11% dieser Altersgruppe; bei den über 80-Jährigen sind sogar nahezu 30% betroffen.

Überaktive Blase

Pathogenetisch von Bedeutung sind zum einen die Belastungs- oder Stressinkontinenz und zum anderen die sogenannte überaktive Blase (overactive bladder = OAB). Letztere ist durch folgende Symptome gekennzeichnet:

  • imperativer Harndrang (ohne Vorwarnung einsetzender Harndrang),
  • Pollakisurie (mehr als acht Miktionen in 24 Stunden bei normaler Harnmenge) und Nykturie (nächtliches Wasserlassen),
  • eventuell Dranginkontinenz (unwillkürlicher Urinverlust).

Als Ursache der OAB gelten das vermehrte Auftreten unwillkürlicher, über Muscarinrezeptoren (muscarinische Acetylcholinrezeptoren) vermittelter Kontraktionen des Musculus detrusor vesicae sowie eine mangelhafte zentralnervöse Hemmung von Harndrangimpulsen. Beide Mechanismen führen zu einem Ungleichgewicht zwischen erregenden und hemmenden Reizen. Auch kommt es durch kollagenen Umbau zu einem Elastizitätsverlust des Detrusormuskels – vor allem Letzteres kann als Alterungsprozess aufgefasst werden. Von einer OAB oder einer Dranginkontinenz sind im Alter fast ebenso viele Männer betroffen wie Frauen.

Belastungsinkontinenz

Die Belastungsinkontinenz ist in der Regel Folge einer Insuffizienz des Sphinktermechanismus am Blasenauslass. Hier lässt sich auch ohne urodynamische Manöver durch passive intravesikale Druckerhöhung (Husten, Niesen, Bauchpresse) ein unwillkürlicher Urinabgang auslösen (Abb. 1). Beim Mann ist die häufigste Ursache iatrogen bedingt durch radikale Prostatektomien (bis zu 45%; nach transurethraler Prostataresektion unter 1%). Bei der Frau resultiert die Überdehnung und Erschlaffung von Haltebändern und Beckenboden (vor allem als Folge mehrfacher Spontangeburten) oft in einer Senkung (Descensus) der Organe des kleinen Beckens. In der täglichen Praxis werden häufig Symptome der Drang- und der Belastungsinkontinenz kombiniert in Form der sogenannten Mischinkontinenz beobachtet.

Ein Diabetes mellitus erhöht das Risiko, eine Harninkontinenz zu entwickeln. In einer amerikanischen Studie war bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 das Risiko für schwerwiegende Inkontinenzsymptome fast doppelt so hoch wie bei gesunden Probanden. Urodynamische Untersuchungen an älteren Patienten mit Typ-2-Diabetes zeigten bei 79% der Männer und 59% der Frauen pathologische Befunde wie eine reduzierte Sensorik oder eine verminderte Kontraktilität des Detrusormuskels.

Altersangepasste Stufendiagnostik

Die klinische und apparative Inkontinenzdiagnostik erfolgt stufenweise dem Alter angepasst. Im Vordergrund steht zunächst eine ausführliche Anamnese der Charakteristik des Urinverlustes (s. Kasten) sowie von Voroperationen und Begleiterkrankungen.


Harninkontinenz-Fragebogen der Deutschen Kontinenz Gesellschaft


Wie oft kommt es bei Ihnen zu unwillkürlichem Urinverlust?

□ Nie

□ Einmal pro Woche oder seltener

□ Zwei- bis dreimal pro Woche

□ Einmal täglich

□ Mehrmals täglich

□ Ständig


Wie hoch ist der Urinverlust?

□ Kein Urinverlust

□ Eine geringe Menge

□ Eine mittelgroße Menge

□ Eine große Menge


Wie stark ist Ihr Leben durch den Urinverlust beeinträchtigt?

0 □ (gar nicht) 1 □ 2 □ 3 □ 4 □ (stark)


Wann kommt es zu Urinverlust?

□ Zu keiner Zeit

□ Bevor Sie die Toilette erreichen können

□ Beim Husten, Niesen, Laufen usw.

□ Im Schlaf

□ Bei körperlicher Anstrengung und Sport

□ Nach dem Wasserlassen

□ Aus keinem ersichtlichen Grund

□ Urinverlust tritt ständig auf


Ein ergänzendes Trink- und Miktionsprotokoll über mindestens zwei Tage berücksichtigt Parameter wie Trinkmenge, Harnmenge, Harndrang, Urinverlust und Vorlagenwechsel. Zur weiteren nichtinvasiven Diagnostik gehören die klinische Untersuchung, ein Windeln-Wiegetest, ein Urin-Schnelltest und die Restharnbestimmung nach einer Willkürmiktion.

Je nach Provokation lässt sich eine Belastungsinkontinenz in drei Schweregrade einteilen (Tab. 1). Bei der Befragung ist aber zu berücksichtigen, dass ein hochbetagter Mensch eine solche eventuell nicht angibt, da er kaum noch körperlichen Belastungen ausgesetzt ist. Symptom ist dann oft nicht der Urinabgang bei Belastung, sondern ein ständiger unbemerkter Harnverlust ohne Harndrang.


Tab. 1: Schweregrade der Belastungsinkontinenz nach Ingelmann-Sundberg

Schweregrad
Beschreibung
Belastungsinkontinenz I
Urinverlust beim Husten, Niesen, Pressen, Lachen
Belastungsinkontinenz II
Urinverlust beim Heben, Laufen, Treppensteigen
Belastungsinkontinenz III
Urinverlust beim Stehen ohne körperliche Betätigung

Ergeben die bisherigen Maßnahmen keine schlüssige Erklärung der Inkontinenzsymptomatik, sollte, sofern dem alten Patienten zumutbar, die Diagnostik je nach Verdacht erweitert werden:

  • Uroflowmetrie mit nachfolgender Restharnmessung,
  • sonografische und endoskopische Beurteilung des unteren Harntraktes,
  • Urethrozystoskopie,
  • urodynamische Untersuchung (Miktionszysturethrogramm), falls eine OP geplant ist.

Bei Frauen empfiehlt sich eine Abklärung eventueller urogynäkologischer Ursachen (chronische Harnwegsinfekte, Deszensus, Tumoren), idealerweise inklusive Sonografie und Zystoskopie.

Individualisierte Basistherapie

Als Basisbehandlung für jede Form der Harninkontinenz ist das "Blasenmanagement" sinnvoll, das aus Miktions-, Toiletten- und Beckenbodentraining besteht. Obligat hierbei ist eine individuelle Gestaltung dieser Maßnahmen, welche die jeweilige Mobilität, Motivation und Kognition berücksichtigt. Vor allem bei Dranginkontinenz dient ein Miktionstagebuch mit Dokumentation der Trink- und Urinmengen der Selbsteinsicht des Betroffenen: Er kann erkennen, dass die Blase trotz verspürtem Harndrang bei Weitem noch nicht voll ist. Ein ergänzendes Toilettentraining gibt nicht nur feste Intervalle vor, sondern vermeidet auch prophylaktische Miktionen. Auch einfache Verhaltensänderungen sind hilfreich, um die Inkontinenzsymptomatik positiv zu beeinflussen:

  • Trinkmenge auf etwa 1,5 Liter Flüssigkeit pro Tag beschränken und gleichmäßig über den Tag verteilen, aber

  • mindestens zwei Stunden vor dem Schlafengehen nichts mehr trinken;
  • Reizstoffe vermeiden, z. B. Nicotin, säurereiche Getränke und scharfe Gewürze wie Pfeffer oder Chili;

  • Obstipation vermeiden.

Bei Frauen kann eine lokale Applikation von Estriol die Symptome der urogenitalen Altersatrophie bessern, vor allem vaginale Trockenheit, gehäufte Harnwegsinfekte und auch Inkontinenzsymptome. Als supportive Maßnahme bei Belastungsinkontinenz stehen spezielle Urethrapessare und Tampons aus Schaumstoff zur Verfügung. Durch die Kalotte des ringförmigen elastischen Urethrapessars wird der Übergang zwischen Blase und Harnröhre nach oben vorn verlagert, was unter Belastungssituationen (Husten, Bewegung) ein Öffnen der oberen Harnröhre verhindern soll.

Anticholinergika immer noch first line

Mittel der Wahl zur medikamentösen Behandlung der überaktiven Blase bzw. Dranginkontinenz sind Anticholinergika, welche die Muscarinrezeptoren der afferenten und efferenten Fasern des vegetativen Nervensystems blockieren. Als Folge vergrößern sich das Miktionsintervall und das Miktionsvolumen. Die derzeit in Deutschland erhältlichen Anticholinergika unterscheiden sich in ihrer Selektivität:

  • Propiverin, Tolterodin, Fesoterodin und Trospiumchlorid zeigen eine ähnlich ausgeprägte Affinität zu allen M-Rezeptor-Subtypen, also auch zum M1-Rezeptor in Cortex und Hippocampus.

  • Darifenacin und Solifenacin sind relativ selektiv für die in der glatten Muskulatur des Detrusors vorkommenden M3-Rezeptoren.

Wegen unerwünschter zentralnervöser Nebenwirkungen sollte dieser Unterschied vor der Verordnung bei älteren Patienten beachtet werden. Auch eine negative Wirkung auf die Herzleistung und mögliche Interaktionen mit internistischer Begleitmedikation sind zu berücksichtigen (s. Tab. 2).


Tab. 2: Häufig verordnete anticholinerg wirkende Arzneistoffe

Anticholinergika
Antiemetika
Anti-Parkinson-Mittel
Spasmolytika (Gastrointestinaltrakt)
Spasmolytika (Urogenitaltrakt)
Migränemedikamente
Bronchodilatatoren
Mydriatika
Arzneistoffe mit anticholinerger Nebenwirkung
Antiarrhythmika
Antidiarrhoika
Antihistaminika
Muskelrelaxanzien
Ulkustherapeutika
Antidepressiva
Antipsychotika

Zur medikamentösen Therapie der weiblichen Belastungsinkontinenz wurde der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin zugelassen, nachdem in Phase-II- und Phase-III-Studien die tägliche Einnahme von 2 × 40 mg die Häufigkeit von Inkontinenzepisoden signifikant um mehr als 50% gesenkt hatte. Die Wirkung beruht einerseits auf der Relaxation des Detrusors, andererseits auf einer Tonuserhöhung der Sphinktermuskulatur. Im klinischen Einsatz wird immer wieder eine hohe Rate an Nebenwirkungen beklagt, vor allem Übelkeit. Der Einsatz beim Mann ist ein Off-label-use.

Ein neuer Therapieansatz hat nicht die Blasenmuskulatur im Fokus, sondern das Urothel (Epithel der ableitenden Harnwege: Harnleiter, Harnblase, oberer Teil der Harnröhre). Die Hemmung der Integrine, einer im Urothel vorkommenden und bei Blasenfüllung aktivierten Proteingruppe, wird derzeit tierexperimentell untersucht.

Ein chirurgisches oder interventionelles Vorgehen – auch bei älteren Harninkontinenzpatienten – sollte erwogen werden, wenn

  • der Betroffene grundsätzlich operabel ist,
  • die konservative Behandlung keine suffiziente Symptomreduktion ergab und
  • eine stark ausgeprägte Belastungs- oder Mischinkontinenz mit hohem Leidensdruck vorliegt.

Eine Übersicht der möglichen Optionen zeigt Tabelle 3.


Tab. 3: Chirurgische und interventionelle Möglichkeiten zur Therapie der Harninkontinenz

Belastungsinkontinenz
Überaktive Blase, Dranginkontinenz
  • Kolposuspension nach Marshall-Marchetti (modifiziert, Durchführung offen oder laparaskopisch, nur bei Frauen): Anhebung des Blasenhalsbereichs mitsamt der Scheidenvorderwand und Neufixierung, wodurch die Harnröhre bei intraabdominalem Druckanstieg verschlossen bleibt.
  • Minimal-invasive Schlingensuspension des mittleren Harnröhrenbereichs mit einem Polypropylen-Band.
  • Paraurethrale Injektionen von Substanzen zur Unterfütterung der Urethralschleimhaut ("bulking agents", z. B. Dextranomer-Hyaluronsäure-Copolymer).
  • Wiederholte Injektion von Botulinumtoxin A an verschiedenen Stellen direkt in den M. detrusor vesicae (derzeit noch Off-label-use), um Drang- und Inkontinenzepisoden zu reduzieren und die Miktionsmenge zu steigern.
  • EMDA-Therapie ("electromotive drug administration"): Abgabe von Arzneistoffen über einen transurethralen Elektrodenkatheter in das Blasengewebe, z. B. eine Kombination aus Lidocain, Adrenalin, Buscopan, Dexamethason und Pentosan.
  • Sakrale Neuromodulation: Stimulation von Sakralnerven mit schwachen elektrischen Impulsen, um Drang- und Inkontinenzepisoden zu reduzieren und die Miktionsmenge zu steigern.

Stuhlinkontinenz

Mehr noch als die Harninkontinenz unterliegt die anale oder Stuhlinkontinenz starken Schamgefühlen und demgemäß einer Tabuisierung. Definiert als der wiederholte unkontrollierte Verlust von Stuhl über einen Zeitraum von mindestens vier Wochen, betrifft die Störung in Deutschland etwa 5% der erwachsenen Bevölkerung. Ein dramatischer Anstieg auf Werte zwischen 10 und 33% zeigt sich erwartungsgemäß bei alten Menschen, wobei die Zahlen für Krankenhäuser und geriatrische Einrichtungen je nach Quelle sogar bei 50% liegen.

Zu berücksichtigen sind unterschiedliche Ausprägungen der Stuhlinkontinenz; weit verbreitet und zuverlässig ist folgende einfache klinische Einteilung in

  • Grad I: Inkontinenz für Winde,
  • Grad II: Inkontinenz für flüssigen Stuhl,
  • Grad III: Inkontinenz für festen Stuhl.

Gerade ältere Menschen leiden unter den ausgeprägten Formen. So zeigte eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung, dass fast 45% der über 70-jährigen Patienten einer koloproktologischen Klinik drittgradig inkontinent waren, aber nur etwa 20% der Patienten unter 70 Jahren.

Multifaktorielle Ursachen

Die Stuhlinkontinenz tritt bei Frauen etwa vier- bis fünfmal häufiger auf als bei Männern, was anatomisch durch einen kürzeren Analkanal bedingt sein kann, aber auch durch frühere Dammrisse sub partu. Eine Zusammenfassung verschiedener Inkontinenzformen und ihrer erworbenen Ursachen zeigt Tabelle 4.


Tab. 4: Verschiedene Formen der Stuhlinkontinenz und ihre erworbenen Ursachen

Inkontinenzform
Ursachen
Veränderte Stuhlkonsistenz
Infektiöse Diarrhö, Reizdarm, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Malabsorption; Laxanzienabusus
Verminderte Reservoirfunktion
des Rektums
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Rektumtumor, Strahlenschäden
Gestörte Sensibilität im Rektum
Diabetes mellitus; Demenz, Schlaganfall, Neuropathien, Querschnittsläsion; Tumor
Gestörte Sphinkterfunktion
Beckenbodeninsuffizienz; Geburtstrauma, anorektale Chirurgie; Neuro- oder
Myopathien; Analkarzinom, anale Manifestation eines Morbus Crohn
Gestörte Koordination
Neuropathien, Rektumprolaps
Mischformen
Gleichzeitiges Bestehen mehrerer Ursachen, die nicht einzeln, jedoch in Kombination zu einer klinisch apparenten Inkontinenz führen

Bei älteren Menschen treten häufig Mischformen auf, beispielsweise aus Beckenbodeninsuffizienz und veränderter Stuhlkonsistenz. Weiterhin gehen zentralnervöse Krankheitsbilder wie Demenz, Schlaganfall, M. Parkinson und Hirntumoren häufig mit einer Stuhlinkontinenz einher.

Ebenso sprechen zahlreiche Daten dafür, dass stuhlinkontinente geriatrische Patienten signifikant häufiger an Diabetes mellitus erkrankt sind (gestörte Sensibilität als Zeichen einer diabetischen Neuropathie). Letztendlich lässt auch der signifikante Rückgang von Ruhe-, Press- und Stressdruck bei geriatrischen Patienten den Schluss zu, dass die Schließmuskelkraft im Alter generell abnimmt, sowohl bei inkontinenten als auch bei kontinenten Menschen.

Zur Basisdiagnostik bei Verdacht auf anale Inkontinenz gehören die Anamnese, die digital-rektale Untersuchung und die Endoskopie (s. Abb. 2). Bei genauer Anamnese lässt sich in vielen Fällen bereits eine mögliche Ursache eingrenzen. Unwillkürlicher Stuhlabgang spricht eher für eine Schädigung der Sensorik oder des inneren Sphinktermuskels, eine Dranginkontinenz eher für eine Schwäche des äußeren Sphinktermuskels.

Von der Rekonstruktion eines durch Dammriss dehiszenten externen Schließmuskels einmal abgesehen, sind chirurgische Maßnahmen zur Verbesserung der analen Kontinenz nur selten indiziert. Die konservative Therapie umfasst supportive, medikamentöse und physiotherapeutische Maßnahmen.


Abb. 2: Diagnostik bei Verdacht auf Stuhlinkontinenz.

Supportive Therapie

Zunächst sollte versucht werden, sowohl die Stuhlfrequenz als auch -konsistenz zu optimieren. Diätetisch sollte auf ballaststoffreiche, blähende Speisen und kohlensäurehaltige Getränke (auch Bier) verzichtet und der Konsum von Kaffee, der die Kolonmotilität erhöht, eingeschränkt werden. Hilfreich ist die Einnahme von Weizenkleie oder Flohsamenschalen (von Plantago ovata), die im Idealfall zu einem voluminöseren Stuhl höherer Konsistenz führt, den vor allem ältere Menschen besser kontrollieren können. Grundsätzlich ist darauf zu achten, in einem regelmäßigen Rhythmus möglichst immer zur gleichen Tageszeit zur Toilette zu gehen.

Immobile und pflegebedürftige Patienten profitieren entscheidend von sorgfältiger Hygiene. So lassen sich durch regelmäßigen Wäsche- und Vorlagenwechsel perianale Hautschäden vermeiden. Nach dem Stuhlgang bzw. der Reinigung sollten zur Prophylaxe oder Behandlung von Reizungen/Läsionen hautschonende Cremes oder Salben aufgetragen werden.

Je nach Compliance oder Belastbarkeit kann ein spezielles Toilettentraining versucht werden. Nach dem Grundsatz, dass es bei einem leeren Darm zu keinem Inkontinenzereignis kommen kann, wird nach einem festen Rhythmus eine möglichst komplette Darmentleerung provoziert, beispielsweise jeden Morgen. Dies kann mit Klysmen, Bisacodyl- oder gasbildenden Lecicarbon-CO2-Zäpfchen geschehen.

Antidiarrhoika

Die Wirkung der gängigen medikamentösen Maßnahmen besteht in der Verlängerung der Darmpassage sowie in einer vermehrten Flüssigkeitsresorption. Weit verbreitet sind das Opioid Loperamid und die Kombination Diphenoxylat/Atropin. Deren Einnahme muss sich hierbei nicht auf besondere Situationen beschränken, sondern kann auch über einen längeren Zeitraum erfolgen. Die empfohlene Tagesdosierung von Loperamid liegt bei 3 – 4 × 2 – 4 mg. Vor allem bei älteren bettlägerigen Patienten kann es bei regelmäßiger Stuhlimpaktation im Rektum zu einer reflektorisch dauerhaften Relaxation des Musculus sphincter ani internus kommen. Hier kann durch den kombinierten Einsatz von Loperamid täglich und einer künstlich herbeigeführten Darmentleerung (Klysma, Einlauf) alle drei Tage sowohl die Lebensqualität erhalten als auch der Pflegeaufwand reduziert werden.

Ergänzend steht der seit März 2013 in Deutschland aus der Verschreibungspflicht entlassene Enkephalinase-Hemmstoff Racecadotril zur Verfügung. Enkephaline verringern über δ-Opioidrezeptoren die Sekretion von Wasser und Elektrolyten in das Darmlumen. Vor allem bei älteren Menschen sind mögliche Nebenwirkungen wie Schwindel, Erbrechen, gastrointestinale Schmerzen und Appetitlosigkeit zu beachten.

Selektive 5-HT3-Antagonisten werden in der Regel bislang nur als Antiemetika zur Behandlung von Übelkeit und Erbrechen bei Chemo- oder Strahlentherapie eingesetzt. Die Substanz Alosetron ist in den USA wegen potenzieller Nebenwirkungen wie ischämischer Kolitis nur unter strengen Auflagen als Reservemedikament für Frauen mit Reizdarmsyndrom vom Durchfalltyp zugelassen; derzeit wird sie in klinischen Studien auf ihre Eignung zur Inkontinenzbehandlung untersucht.

Dass α1-adrenerge Rezeptoragonisten einen erhöhten Ruhetonus sowie eine verbesserte Kontraktion des inneren Sphinktermuskels bewirken können, wurde durch experimentelle Studien belegt. Aus klinischen Untersuchungen ist bekannt, dass auch die topische Anwendung von Phenylephrin in einer Konzentration von 30% zu einer Erhöhung des analen Ruhedrucks führt – ein vor allem bei älteren Patienten mit "idiopathischer" Sphinkterschwäche sinnvoll erscheinender Therapieansatz.


Toilettenführer

Damit auswärts nichts danebengeht …

Die auch sonst informative Website der Deutschen Kontinenz Gesellschaft bietet für einige Städte einen Toilettenführer an. Ein sinnvoller Service, der hoffentlich Schule macht.

www.kontinenz-gesellschaft.de










Physiotherapeutische und chirurgische Maßnahmen

Zu den – bei älteren Menschen im Einzelfall eher limitierten – physiotherapeutischen Maßnahmen gegen anale Inkontinenz gehören

  • Muskeltraining (isoliertes Muskelanspannen und -entspannen im Beckenboden- und Sphinkterapparat),

  • Biofeedbacktraining (Rückmeldung der Aktivität des M. sphincter ani externus mittels eines optischen oder akustischen Signals),

  • Elektrostimulation (Wahrnehmung der passiven Muskelkontraktion zur Erleichterung der aktiven Muskelarbeit im Beckenbodenbereich).

Außer der Rekonstruktion eines dehiszenten Sphinktermuskels sind chirurgische und interventionelle Verfahren nicht zuletzt wegen des hohen technischen Aufwandes eher selten:

  • Schließmuskelersatzplastik: Möglich als dynamische Grazilisplastik (Verlagerung des M. gracilis von der Innenseite des Oberschenkels zirkulär um den Analkanal) oder als "artificial bowel sphincter" (zirkuläre Kunststoffmanschette um den Analkanal mit Pumpensystem und Flüssigkeitsreservoir).

  • Sakrale Nervenstimulation: Elektroden, die durch die Foramina des Os sacrum geführt werden, stimulieren den Pudendusnerv, wodurch der Schließmuskel gereizt und zur Kontraktion gebracht wird.

Eine in der proktologischen Praxis nicht selten diagnostizierte Ursache einer analen Inkontinenz ist der Rektumprolaps, der durch eine abdominelle Resektionsrektopexie überwiegend minimal-invasiv und somit schonend operiert wird. Hierbei wird das Rektum mit Kunststoffnetzen ummantelt und am Kreuzbein fixiert. Bei bis zu 90% der Patienten zeigt sich postoperativ eine subjektiv zufriedenstellende Kontinenz.


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Autor


Clemens Bilharz ist Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin und zusätzlich als wissenschaftlicher Fachzeitschriftenredakteur ausgebildet. Er ist als Autor und Berater für Fachverlage und Agenturen tätig.











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