Adipositas-Leitlinie

Viele Wege führen zur Gewichtsreduktion

24.10.2024, 17:50 Uhr

Neue Optionen in der Therapie der Adipositas: In der aktualisierten Leitlinie gehen die Autoren ausführlich auf den Nutzen der GLP-1-Agonisten ein. (Foto: Halfpoint/AdobeStock)

Neue Optionen in der Therapie der Adipositas: In der aktualisierten Leitlinie gehen die Autoren ausführlich auf den Nutzen der GLP-1-Agonisten ein. (Foto: Halfpoint/AdobeStock)


Zehn Jahre nach ihrer letzten Auflage wurde nun die Leitlinie zur Therapie und Prävention der Adipositas aktualisiert – mit neuen Kapiteln zu E-Health und Stigmatisierung, einer ausführlichen Einordnung verschiedener Ernährungs­therapien und Empfehlungen zu den neuen Pharmakotherapeutika.

Die Definition der Adipositas erfolgt auch in der aktuellen Version noch über den Body-Mass-Index (BMI). Ab einem BMI von 25 kg/m2 spricht man von Übergewicht, ab 30 kg/m2 von Adipositas.

Evidenz für viele Diätformen

„Grundlage jedes Gewichtsmanagements soll eine Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie sein“, so eine der Kernaussagen in der Leitlinie. Menschen mit Adipositas werden 30 bis 60 Minuten körperliche Aktivität pro Tag empfohlen. Sie sollen eine regelmäßige qualifizierte Ernährungsberatung erhalten. Das Kapitel zur Ernährungstherapie der Adipositas ist deutlich ausführlicher geworden als in der Vorgängerversion. Grundsätzliches Ziel ist eine Verringerung der Energiezufuhr, bei ausreichender Zufuhr von Mikronähr­stoffen und Ballaststoffen. Dies kann durch eine Vielzahl evidenzbasierter Ernährungstherapien erfolgen, die eine optimale Ernährungsform gibt es nicht – die Wahl sollte der Patient anhand seiner Essgewohnheiten und individuellen Vorlieben treffen. Die tägliche Energiezufuhr sollte 500 bis 600 kcal unterhalb des Bedarfs liegen. Eine Gewichtsabnahme von 0,5 kg pro Woche über einen Zeitraum von drei Monaten ist dabei realistisch. Diese Ernährungsformen sind dafür geeignet:

  • Reduktion der Fettzufuhr
  • Reduktion der Kohlenhydratzufuhr
  • Ernährung nach den zehn Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE)
  • mediterrane Kost
  • vegetarische oder vegane Er­nährung
  • Mahlzeitenersatz, z. B. mit Formulaprodukten
  • intermittierendes Fasten

Beim intermittierenden Fasten sind verschiedene Formen möglich: 2:5-Fasten (2 Fastentage pro Woche mit nur 25 % der üblichen Energieaufnahme), „Alternate-Day“-Fasten (im Wechsel Tage mit unbegrenzter Energiezufuhr und Fastentage mit 25 % Energiezufuhr) sowie „Time-restricted Eating“, bei dem der Zeitraum der täglichen Nahrungsaufnahme begrenzt wird, meist auf acht Stunden pro Tag von 8.00 bis 16.00 Uhr.

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Medizinische Betreuung bei weniger als 1200 kcal pro Tag

Um bei einem BMI über 30 kg/m2 eine Reduktion des Körpergewichts um 1 bis 2,5 kg pro Woche zu erreichen, kann über einen Zeitraum von maximal zwölf Wochen die Energiezufuhr auch auf 800 bis 1200 kcal pro Tag reduziert werden, zum Beispiel mithilfe von Formulaprodukten. Unter dieser sehr niedrigen kalorischen Kost („very low calorie diet“ = VLCD) muss auf eine Trinkmenge von 2 bis 2,5 l pro Tag geachtet werden, außerdem ist ein Bewegungsprogramm wichtig, um größere Verluste fettfreier Körpermasse zu vermeiden. Eine medizinische Betreuung ist dabei wichtig, Dosierungen von Arzneimitteln müssen angepasst und Kontraindikationen beachtet werden (s. Kasten „Kontraindikationen für sehr niedrige kalorische Kost“).

Kontraindikationen für sehr niedrige kalorische Kost

In diesen Situationen sollten Personen auf eine Ernährung mit < 1200 kcal pro Tag verzichten:

  • Schwangerschaft und Stillzeit
  • Typ-1-Diabetes
  • Behandlung mit SGLT-2-­Inhibitoren
  • schwere Nieren- oder Lebererkrankung
  • Herzinsuffizienz (Schweregrad III und IV)
  • instabile Angina pectoris oder Myokardinfarkt bzw. Schlaganfall in den letzten 12 Monaten
  • Herzrhythmusstörungen
  • schwere Atemwegs­erkrankung
  • Essstörung oder psychiatrische Erkrankung
  • Alkohol- oder Drogenabusus
  • schwere Infektionen
  • ältere Menschen mit Gebrechlichkeit

Digitale Angebote können unterstützen

In einem neuen Leitlinienkapitel zum Thema E-Health beschäftigen sich die Autoren mit Wearables, Smartphone-Apps und weiteren digitalen Interventionen. Verschiedene Tools können zur Selbstbeobachtung, als Gewichts­reduktionsprogramm oder Kommu­nikationstool dienen. Bei den „Abnehm-Apps“ fordern die Leitlinien­autoren eine klare Unterscheidung zwischen digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte überprüft sind, und Lifestyle-Apps, die kostenlos oder kommerziell verfügbar sind. Weiter weisen sie darauf hin, dass App-­basierte Interventionen die Gewichts­reduktion unterstützen können, die persönliche Betreuung durch qualifiziertes Fachpersonal allerdings nicht ersetzen. Die Telefon- oder Internet-basierte Intervention, also eine indi­viduelle telemedizinische Betreuung, sei dagegen mit persönlicher Betreuung vergleichbar.

Erleben von Abwertung und Herabwürdigung schadet

Ein neues Kapitel der Leitlinie ist den Folgen der Stigmatisierung von Menschen mit Adipositas gewidmet. Diese findet nicht nur unter Laien, sondern auch im Gesundheitssystem statt und kann fatale Konsequenzen haben, z. B. das Nicht-Erscheinen der Betroffenen zu Arztterminen und Vorsorgeuntersuchungen. Die Leitlinienautoren fordern vor allem Veränderungen in der Ausbildung von Angehörigen medizinischer Berufe, um dieser Form der Stigmatisierung entgegenzuwirken. 

GLP-1-Agonisten: Langzeitdaten fehlen

Mit Einzug der GLP-1-Agonisten neben dem etablierten Lipasehemmer Orlistat hat die Pharmakotherapie eine neue Rolle in der Behandlung der Adipositas bekommen. In den Leitlinienkapiteln widmen sich die Autoren ausführlich den Daten zur Effektivität von Semaglutid und Liraglutid. Die Zulassung von Tirzepatid erfolgte erst nach Redaktionsschluss der Leitlinie, die Autoren betonen jedoch bereits, dass durch den dualen Agonisten an den Rezeptoren des Glucose-abhängigen insulinotropen Polypeptids (GIP) und des Glucagon-like-peptide-1 (GLP-1) eine nochmals stärkere Gewichtsreduktion zu erwarten ist. Auch auf weitere Wirkstoffe in der Pipeline wird verwiesen.

Die GLP-1-Agonisten können ab einem BMI von 27 kg/m², Orlistat ab einem BMI von 28 kg/m² eingesetzt werden, wenn zusätzlich zum Übergewicht weitere kardiovaskuläre Risikofaktoren bestehen. Ohne weitere Risiko­faktoren ist die Pharmakotherapie ab einem BMI von 30 kg/m² indiziert. Sie sollte jedoch nur in Kombination mit der multimodalen Basistherapie aus Ernährungsumstellung, Bewegungs- und Verhaltenstherapie ein­gesetzt werden. Zeitlich begrenzt ist die Therapie nicht, der Erfolg sollte in regelmäßigen Abständen überprüft werden. Da von einer Dauerbehandlung aus­zugehen ist, werden in der Leitlinie Langzeitdaten zu den GLP-1-Agonisten gefordert.

Ausdrücklich empfohlen wird die Therapie mit GLP-1-Agonisten für Typ-2-Diabetiker, bei denen eine Gewichtsreduktion angestrebt wird. Alternativ können hier SGLT-2-Inhibitoren wie Empagliflozin oder Dapagliflozin verordnet werden, die durch Erhöhung der renalen Glucose-Ausscheidung ebenfalls zu einer moderaten Gewichtsreduktion führen.

Kein Votum für Nahrungsergänzungsmittel und Homöopathie

Die Leitlinienautoren raten klar davon ab, Produkte zu empfehlen, für die es keinen Wirksamkeitsnachweis gibt. Hierunter fallen Medizinprodukte und Nahrungsergänzungsmittel, aber auch Homöopathika mit Madar und Fucus vesiculosus. 

Literatur

Prävention und Therapie der Adipositas. S3-Leitlinie der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) e. V.; AWMF-Reg. Nr. 050-001, Stand 5. Oktober 2024


Dr. Sabine Werner, Apothekerin und Redakteurin
readktion@daz.online


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