Gut beraten! Wissen am HV

Was Apotheker über diabetische Polyneuropathie wissen müssen

Bonn - 11.07.2018, 10:15 Uhr

(Foto: Bernhard Schmerl / stock.adobe.com)
HV Theme badge

(Foto: Bernhard Schmerl / stock.adobe.com)


Die diabetische Polyneuropathie ist eine Schädigung multipler Nerven, die als Komplikation eines bestehenden Diabetes mellitus entsteht. Sie gehört zu den häufigsten Folgeschäden eines Diabetes – bei wohl rund jedem dritten Patienten liegt eine Neuropathie vor. 

Ursache

Als Ursache der diabetischen Polyneuropathie wird eine schlechte Einstellung des Blutzuckers ausgemacht. Die Höhe des Blutzuckers und Zeit der Überhöhung korrelieren direkt mit der Entstehung der Neuropathie.

Im Zuge der Entstehung der diabetischen Polyneuropathie kommt es zur Einlagerung glykierter Stoffwechselendprodukte in das Nervengewebe, sodass ein schrittweiser Funktionsverlust erfolgt.

Zahlreiche Beschwerden

Die Bandbreite der Beschwerden ist bei diabetischen Nervenschäden sehr groß. Eine periphere Neuropathie kann zu Störungen des Schmerz-, Berührungs- oder Temperaturempfindens führen, aber auch zu chronischen Schmerzen, Missempfindungen und Lähmungen. Dagegen grenzt man eine autonome Neuropathie ab. Diese kann eine Magenlähmung oder Herzrhythmusstörungen zur Folge haben, aber auch eine Blasenschwäche oder Erektionsprobleme begünstigen.

Mehr zum Thema

Gut beraten! Wissen am HV

Gut beraten beim diabetischen Fuß

Gut beraten! Wissen am HV

Krankheitsbild diabetischer Fuß

Darüber hinaus ist die diabetische Neuropathie eine wichtige Ursache des diabetischen Fußsyndroms. Denn typischerweise tritt die diabetische Polyneuropathie zuerst an den Füßen auf und steigt in der Regel symmetrisch auf. Andere Verlaufsformen der diabetischen Polyneuropathie sind ebenfalls bekannt. Diese manifestieren sich vor allem an den Nerven des vegetativen Nervensystems.

Schmerzformen der Polyneuropathie

Neuropathische Schmerzen treten in unterschiedlichen Formen auf: Charakteristischerweise sind sie sehr stark, häufig messerscharf stechend oder brennend. Der Schmerz kann aber auch einschießend, kurz und attackenförmig oder von brennend-schneidender Qualität sein. Möglich auch, dass er lang anhaltend ist oder einen dumpfen Charakter hat. Kombinationen der unterschiedlichen Schmerzformen kommen durchaus vor.  

Es gibt aber auch Polyneuropathien, die ohne Schmerzen und unangenehme Missempfindungen verlaufen: Bei einem Drittel der Patienten mit diabetischer Polyneuropathie stehen motorische Störungen im Vordergrund, das heißt die muskuläre Bewegung ist eingeschränkt.

Anzeichen einer Neuropathie

Eine Neuropathie bei Diabetes kann sich durch verschiedene Anzeichen bemerkbar machen:

  • Brennende, stechende Schmerzen
  • Kribbeln, Ameisenlaufen
  • Taubheitsgefühl
  • Verringerte Empfindlichkeit für Temperaturen oder Schmerzen

Es gibt auch Verbindungen zum sogenannten Restless-Legs-Syndrom. Zu dessen Symptomen zählen unangenehmes Spannungs- oder Druckgefühl der Beine in Ruhe, häufig abends, nachts oder beim Stillsitzen, dazu Missempfindungen wie Kribbeln oder krampfartige Schmerzen. Da Bewegung die Beschwerden bessert, verspüren Betroffene in Ruhehaltungen oft einen starken Bewegungsdrang.

Ein zentrales neuropathisches Problem bei Diabetes ist das Ausbleiben der Gegenregulation, wenn der Blutzucker absinkt. Betroffene nehmen deshalb Unterzuckerungen schlechter wahr, was eine lebensbedrohliche Hypoglykämie auslösen kann.

Therapie der Neuropathie

Bei Diabetes-Patienten ist es wichtig, dass die Therapieziele individualisiert werden. Sie hängen unter anderem von (Ko-)Morbidität, Alter und Lebenserwartung sowie von der Lebensqualität der Betroffenen ab. Bei der Behandlung einer diabetesbedingten Neuropathie geht es vor allem darum, das Fortschreiten der Erkrankung zu stoppen und durch eine Schmerztherapie die Beschwerden zu lindern.

Zur Therapie der schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie werden primär  Opioide eingesetzt. Kurzwirksame Opioide sollen bei schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie jedoch nicht eingesetzt werden. Bei den Nicht-Opioiden kommen lediglich Paracetamol und Metamizol im Rahmen eines zeitlich begrenzten Therapieversuchs infrage.

Als Co-Analgetika haben sich Antidepressiva (z.B. Venlafaxin, Duloxetin, andere SNRIs) oder Antikonvulsiva (Carbamazepin, Gabapentin und Pregabalin sind zugelassen) bewährt. SSRI und Venlafaxin besitzen keine Zulassung. Trizyklische Antidepressiva (TZA) sollten nach der aktuellen Leitlinie nur unter Beachtung von Risikofaktoren und Nebenwirkungen zur Behandlung einer schmerzhaften diabetischen Polyneuropathie eingesetzt werden. 

Beratung am HV

Einen absoluten Schutz vor einem „Nervenschaden“ gibt es nicht. Dennoch können in der Beratung am HV Diabetes-Patienten gute Ratschläge gegeben werden.

  • Blutzucker- und Blutdruckwerte im Auge behalten. Die Therapieziele sollten dabei mit dem Arzt abgesprochen werden
  • Gewichtskontrolle, Übergewicht vermeiden
  • Nicht rauchen
  • Keinen oder nur sehr wenig Alkohol trinken 
  • Ärztliche Vorsorgeuntersuchungen, besonders auf Nervenschäden
  • Selbstkontrolle der Füße, besonders wenn bereits eine Polyneuropathie vorliegt, um einen „diabetischen Fuß“ zu vermeiden

Außerdem ist es in der Beratung möglich, auf die Einnahme von Mikronährstoffprodukten hinzuweisen. Eine Prophylaxe und Therapie mit Mikronährstoffen bei Polyneuropathien kann eine wichtige unterstützende Maßnahme sein. Besonderes Augenmerk liegt hier auf Vitamin B1 und der alpha-Liponsäure.

Vitamin B1 (Thiamin)

Thiamin bzw. Benfotiamin, die Vorstufe von Thiamin, die im Körper zu Vitamin B1 umgewandelt wird, befindet sich in den Zellwänden der Nervenstränge und nimmt so an der Übermittlung von Nervenimpulsen ans Gehirn und die peripheren Nerven teil. Der Körper besitzt keine umfangreichen Thiaminspeicher. So kann es leicht zu einem Mangel kommen, besonders bei Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes .

Ursache dafür ist zum einen der erhöhte Bedarf aufgrund des gestörten Zuckerstoffwechsels, aber auch die erhöhte Ausscheidung des wasserlöslichen Vitamins über die Nieren.

In der Nahrung sind besonders Vollkornprodukte sind reich an B1 (Tabelle 1). Allerdings befindet sich das Vitamin im Getreide vor allem im Keim, sodass beim Ausmahlen der größte Teil verloren geht.

Geschälter weißer Reis hat z.B. nur 1 Prozent des Thiamingehalts von Vollkornreis. Deswegen tritt in Südostasien Beriberi aufgrund einer einseitigen Ernährung mit poliertem Reis noch recht häufig auf. Beriberi ist eine Erkrankung, die durch Vitamin-B1-Mangel entsteht und zu Störungen der Nerven, der Muskulatur und des Herz-Kreislauf- Systems führen kann.

Tabelle 1: Vitamin B1-Gehalt in ausgewählten Lebensmitteln 

Nahrungsmittel Vitamin B1 in 100 g
Bierhefe 12,0 mg
Hirse 0,43 mg
Weizenkeime 1,50 mg
Grüne Erbsen 0,76 mg
Sojabohnen 1,00 mg
Sonnenblumenkerne 1,90 mg
Haferflocken 0,65 mg
Zucchini 0,20 mg
Schinken 1,15 mg

Durch Vitamin-B1-Mangel können im Bereich der peripheren Nervenzellen das Gefühl, die Bewegungsfähigkeit und die Reflexe in Armen und Beinen verschlechtert sein. Außerdem kann es zu einer Muskelschwäche kommen.

Aufgrund der 5- bis 10-fach höheren Bioverfügbarkeit ist Benfotiamin als Supplement das orale Vitamin-B1-Prodrug der Wahl. Die Einnahme sollte zwischen oder zu den Mahlzeiten erfolgen.

Alpha-Liponsäure

Ein Nischendasein führt in diesem Zusammenhang die alpha-Liponsäure. Chemisch nennt man sie auch Thioctsäure, eine schwefelhaltige Fettsäure. Sie besitzt sowohl fett- als auch wasserlösliche Eigenschaften und kann daher ihre antioxidativen Eigenschaften überall im Gewebe und besonders an der Zellmembran sowie außerhalb und innerhalb der Zelle zur Verfügung stellen. 

Alpha-Liponsäure ist ein Vitaminoid, unser Organismus kann es teilweise selber herstellen Trotzdem ist eine zusätzliche Gabe empfehlenswert. Denn alpha-Liponsäure hat eine regulierende Wirkung auf diverse Fehlsteuerungen des diabetischen Stoffwechsels. Dazu gehören vor allem Insulinresistenz, erhöhte Glucoseneubildung, vermehrte AGE-Bildung (Advanced Glycation Endproducts) und ein erhöhter Fettsäureabbau.

Insbesondere steht aber die Anwendung bei der Prävention und Behandlung der diabetischen Polyneuropathie im Vordergrund: Alpha-Liponsäure bewirkt eine signifikante Verminderung der Schmerzintensität und auch der Nervenleitgeschwindigkeit.

Für die Verbesserung der Symptome ist allerdings eine Behandlungsdauer von mindestens vierMonaten angezeigt bei einer täglichen Einnahme von mindestens 600 mg. 

Die aktuelle Leitlinie „Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter“ von April 2012 empfiehlt den Einsatz von alpha-Liponsäure nicht.
Die Leitlinie besagt auch, dass Vitamin B1 bzw. Benfotiamin bei schmerzhafter diabetischer Polyneuropathie nicht eingesetzt werden sollten.
Diese Empfehlungen befinden sich aber derzeit in Überarbeitung und werden auf neue Evidenzen überprüft. Somit ist es möglich, dass es in der nächsten Fassung der Leitlinie einen Empfehlungsgrad für diese beiden Mikronährstoffe gibt. 

Verschiedene Nahrungsmittel können die Bioverfügbarkeit von alpha-Liponsäure beeinträchtigen. Umgekehrt stört sie auch die Verwertung von anderen Mineralstoffen und Spurenelementen. Deshalb sollte alpha-Liponsäure idealerweise nicht zusammen mit anderen Nahrungsergänzungsmitteln genommen werden und außerdem eine Stunde vor oder zwei Stunden nach einer Mahlzeit. 

Vitamin B1 Produkte (Auswahl)

Produktname Inhaltsstoff
Milgamma® protekt 300 mg Benfotiamin Filmtablette
Vitamin B1 Ratiopharm Thiamin 200 mg Tabletten
Vitamin B1 Hevert Thiamin 200 mg  Ampullen


alpha-Liponsäure Produkte (Auswahl)

Produktname mg pro Darreichungsform
Thiogamma® 600 oral 600 mg Filmtablette
OrthoDoc® alpha Liponsäure 300 mg Kapsel
Pure Encapsulations® Alpha Liponsäure 200 mg Kapsel
Thioctacid 600 HR 600 mg Filmtabletten



Quellen:

Burgerstein, Handbuch Nährstoffe, 12.Auflage, Trias

Lebensmitteltabelle für die Praxis, Der kleine Souci/Fachmann/Kraut, 5. Auflage 2011, Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft Stuttgart 

Nationale Versorgungs-Leitlinie: Neuropathie bei Diabetes im Erwachsenenalter – Langfassung, 1. Auflage. Version 5. 2011,
www.dm- neuropathie.versorgungsleitlinien.de; Zugriff 24.06.2018


Lars Peter Frohn, Apotheker, Autor DAZ.online
radaktion@daz.online


Diesen Artikel teilen: