Französische Studie

Lieferengpässe führen zu unerwünschten Wirkungen und Medikationsfehlern

Stuttgart - 11.11.2022, 07:00 Uhr

Schublade leer? Das ist nicht nur ärgerlich und aufwendig für die Apotheke, sondern unter Umständen auch gefährlich bis tödlich für die Patientinnen und Patienten. (Foto: Schelbert / DAZ)

Schublade leer? Das ist nicht nur ärgerlich und aufwendig für die Apotheke, sondern unter Umständen auch gefährlich bis tödlich für die Patientinnen und Patienten. (Foto: Schelbert / DAZ)


Lieferschwierigkeiten von Arzneimitteln beschäftigen die Apothekenteams täglich bei ihrer Arbeit. Die vergebliche Verfügbarkeitsanfrage bedeutet nicht nur zusätzliche Arbeit und Ärger in der Apotheke, sondern auch eine echte Gefahr für die Patienten. Einer französischen ­Studie zufolge führte ein Präparateaustausch zu unerwünschten Wirkungen, Medikationsfehlern und einer verminderten Wirksamkeit.

„Das ist derzeit leider nicht lieferbar“ – diesen Satz hört man in Deutschlands Apotheken immer häufiger. Die Lieferengpass-Datenbank des BfArM meldet derzeit ganze 282 Arzneimittel (Stand 2. November 2022) [1], die von Lieferschwierigkeiten (definiert als länger als zwei Wochen währende Unterbrechung der Auslieferung) betroffen sind. 

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Schon seit Jahren gehört das Problem laut ABDA zu den größten ­Ärgernissen des Berufsalltags und geht oft mit einem erheblichen zeit­lichen Mehraufwand einher, um in Absprache mit Arzt, Patienten und Großhändlern ein passendes alternatives Arzneimittel zu finden. Die Ursachen sind vielfältig. Der Kostendruck im Gesundheitssystem und die oftmals ausgelagerte Wirkstoffproduktion spielen eine wichtige Rolle und werden durch weltweite Versorgungskrisen verschärft, wie beispielsweise durch den Krieg in der Ukraine [2].

Betroffene Arzneimittelklassen

Mehr als ein Ärgernis für alle Beteiligten stellen Lieferengpässe vor allem ein Risiko für die Sicherheit der Arzneimitteltherapie dar, wie eine französische Studie kürzlich zeigte [3]. Die Wissenschaftler konsultierten dazu die französische Pharmakovigilanz-Datenbank (Zeitraum 1985 bis 2019) und extrahierten insgesamt 462 Fallberichte von unerwünschten Arzneimittelwirkungen, die mit Lieferschwierigkeiten in Zusammenhang standen. 

Ganz klar stellten die Au­toren dabei den Trend fest, dass die Zahl der Fälle seit dem ersten Bericht aus dem Jahr 1995 bis zum Endpunkt des untersuchten Zeitraums, 2019, deutlich zunahm. Insbesondere in den Jahren zwischen 2004 und 2019 stiegen die engpass­bezogenen Fälle signifikant stärker an als die Gesamtzahl der Fälle in der Datenbank (p = 0,006). Fast alle Arzneistoffklassen des Anatomisch-Therapeutisch-Chemischen Klassifikationssystems (ATC-Code) waren dabei vertreten. Besonders häuften sich die Berichte zu folgenden Arzneistoff­klassen:

  • am Nervensystem angreifende Pharmaka (102 Fälle, 22,1 Prozent), davon 49 Fälle (48,0 Prozent) mit Antiepileptika,
  • kardiovaskulär aktive Wirkstoffe (76 Fälle, 16,4 Prozent), davon 32 Fälle (42,1 Prozent) mit am Renin-Angiotensin-System angreifenden Pharmaka und
  • systemische Antiinfektiva (66 Fälle, 14,3 Prozent), davon 32 Fälle (48,5 Prozent) mit Immunsera und Immunglobulinen.

Markante Wirkstoffbeispiele

War ein Arzneimittel von einem Lieferengpass betroffen, wurde es in den meisten Fällen (95,7 Prozent) ausgetauscht – in der Regel innerhalb der gleichen ATC-Klasse (93,0 Prozent). In 41,2 Prozent der Fälle musste dabei allerdings auf einen Wirkstoff mit einem anderen Wirkprinzip ausgewichen werden. Der Austausch des nicht verfügbaren Arzneimittels zog in der Regel drei mögliche Sicherheitsrisiken nach sich:

  • unerwünschte Arzneimittel­wirkungen
  • eine verminderte Wirksamkeit
  • Medikationsfehler

Zu den dokumentierten unerwünschten Wirkungen, die in 84 Prozent der Fälle auftraten, zählten Störungen des Nervensystems, kutane und subkutane Reaktionen, generelle Störungen und gastrointestinale Störungen. Zu den markanten Beispielen gehörte Phenytoin, das über eine enge therapeutische Breite verfügt. Beim Austausch mit Phenytoin-Natrium wurden in den meisten Fällen erneute Anfälle beobachtet. Ein anderes Beispiel war Promethazin: Der Wirkstoff ersetzte oft Dexchlorpheniramin bzw. Metoclopramid und führte zu einem anticholinergen Syndrom und anderen neurologischen Erscheinungen. Die Hälfte aller Fälle in der Datenbank fiel in die Kategorie schwerwiegend, 5,8 Prozent waren sogar lebensbedrohlich (n = 18) oder führten zum Tod (n = 9).

Tod zweier Patienten

Vier der neun Todesfälle wurden zudem von Medikationsfehlern verursacht, die in der Gesamtschau der Daten für 11 Prozent der gemeldeten Fälle verantwortlich waren. Meist passierten die Fehler bei der Applikation des Medikaments (67 Prozent), besonders Dosierfehler waren häufig. Die Autoren identifizierten menschliche Faktoren (88 Prozent), veränderte Packungsdesigns (22 Prozent) oder Kennzeichnungs- und Informationsprobleme (13,7 Prozent) als Ursachen für die Medikationsfehler. 

In der Mehrheit der Fälle (80,4 Prozent) mündeten die Medikationsfehler in eine unerwünschte Arzneimittelwirkung. Als besonders drastisches Beispiel schildern die Autoren zwei Fälle in Zusammenhang mit einem Lieferengpass des Zytostatikums Lomustin. Aufgrund einer anderen Verpackung des Ausweicharzneimittels, das 20 Tabletten enthielt statt vier wie das nicht lieferbare Präparat, wurde das Zytostatikum überdosiert, was zum Tod der beiden Patienten führte.

Verminderte Wirksamkeit – von Pharmakovigilanz-Datenbanken kaum erfasst

In 15,9 Prozent der Fälle führte der Austausch des nicht lieferbaren Arzneimittels zu einer Verschlechterung der Erkrankung, hauptsächlich durch eine verminderte Wirksamkeit des alternativen Präparats. Besonders häufig beobachtet wurde diese Problematik bei blutgerinnungshemmenden Mitteln, Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems und bei Antiepileptika. Die Ersatzarzneimittel zogen in diesen Fällen thrombotische Ereignisse, Hypertension bzw. epileptische Anfälle nach sich. Ein Todesfall in Zusammenhang mit einem verschlechterten Krankheitszustand wurde im Kontext eines Levodopa- und Levodopa/Benserazid-Engpasses berichtet. Speziell in Bezug auf eine verminderte Wirksamkeit machen die Autoren darauf aufmerksam, dass dieser Aspekt von Pharmakovigilanz-Datenbanken nur kaum erfasst werde und weitere Studien notwendig seien. Generell ist in Pharmakovigilanz-Fragen zudem immer mit einem Under­reporting zu rechnen.

Kommunikation mit den Patienten

Vor dem Hintergrund der wachsenden Problematik geben die Autoren der Studie verschiedene Hinweise, um möglichen Problemen beim Austausch von nicht lieferbaren Arzneimitteln vorzubeugen. In der Kommunikation mit dem Patienten sollten folgende Punkte besonders fokussiert werden:

  • die Verpackung,
  • die Dosis und
  • mögliche Interaktionen.

Gerade bei Wirk­stoffen mit einer engen therapeutischen Breite muss der Patient präzise und verständlich unterrichtet und engmaschig überwacht werden. Nicht zuletzt betonen die Wissenschaftler die Rolle der Gesundheitsbehörden, die die Versorgung mit besonders kritischen Arzneistoffen sicherstellen müssen. 


Literatur

[1] Veröffentlichte Lieferengpassmeldungen. Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), Stand: 2. November 2022, anwendungen.pharmnet-bund.de/lieferengpassmeldungen/faces/public/meldungen.xhtml

[2] Faktenblatt Lieferengpässe bei Arzneimitteln, Informationen der ABDA, Stand Juni 2022 www.abda.de/themen/versorgungsfragen/lieferengpaesse/

[3] Bourneau-Martin D et al. Adverse drug reaction related to drug shortage: A retrospective study on the French National Pharmacovigilance Database. Br J Clin Pharmacol 2022, doi: 10.1111/bcp.15550


Dr. Tony Daubitz, Apotheker
redaktion@daz.online


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