Begleiterhebung des BfArM

Nebenwirkungen von Cannabisarzneimitteln im Vergleich

Stuttgart - 30.09.2022, 15:15 Uhr

Für die Begleiterhebung des BfArM übermittelten die verschreibenden Ärzte anonymisierte Behandlungsdaten an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). (Foto: Africa Studio/AdobeStock)

Für die Begleiterhebung des BfArM übermittelten die verschreibenden Ärzte anonymisierte Behandlungsdaten an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM). (Foto: Africa Studio/AdobeStock)


Das BfArM hat in seiner Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln auch einen besonderen Blick auf die Nebenwirkungen geworfen. Im aktuellen Bulletin zur Arzneimittelsicherheit findet sich nun eine Auswertung. Sie zeigt: Die Nebenwirkungen von Cannabisblüten und ähnelten denen, die bereits aus Fertigarzneimitteln, wie Sativex, bekannt waren.

Cannabisblüten und Cannabisextrakte, die nicht als Fertigarzneimittel zugelassen sind, können seit März 2017 auf einem Betäubungsmittelrezept verordnet werden. Mit dem dahinterstehenden Gesetz wurde das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) mit einer nicht-interventionellen Begleiterhebung zur Anwendung betraut. Die Daten wurden zwischen April 2017 und März 2022 per Online-Umfrage erhoben. Eingeschlossen wurden dabei Cannabisblüten und -extrakte, Dronabinol, Nabilon (ggf. als Fertigarzneimittel Canemes) sowie Sativex, die für die eingesetzte Indikation keine (entsprechende) Zulassung als Fertigarzneimittel (FAM) hatten. Es wurden nur Daten von gesetzlich Versicherten erhoben, deren Therapie durch die Krankenkasse genehmigt wurde. Insgesamt kamen dabei 16.809 vollständige Datensätze zusammen. Die mit Abstand häufigste Indikation, für die die untersuchten Arzneimittel eingesetzt wurden, waren Schmerzen.

Veröffentlicht wurde die Auswertung zur „Häufigkeit von Nebenwirkungen bei der Therapie mit Cannabisarzneimitteln“ in der dritten Ausgabe des Bulletins zur Arzneimittelsicherheit von BfArM und Paul-Ehrlich-Institut (PEI) im September 2022.

Mehr Nebenwirkungen bei Frauen

Bei der Online-Umfrage der Begleiterhebung waren 28 verschiedene Nebenwirkungen aufgeführt, die man anklicken konnte. Sie waren den Fachinformationen von Sativex, Canemes und Marinol (FAM mit Dronabinol, u.a. in den USA) entnommen. Zusätzlich konnte man weitere unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) in ein Freitextfeld eintragen.

Betrachtet man alle untersuchten Cannabisarzneimittel (n = 16.809), so trat als sehr häufige Nebenwirkung mit 14,9 Prozent Müdigkeit auf. Als häufige Nebenwirkungen zu nennen sind Schwindel (9,8 %), Schläfrigkeit (6,0 %), Übelkeit (4,9 %), Mundtrockenheit (4,9 %), Aufmerksamkeitsstörungen (4,3 %), Gedächtnisstörungen (3,0 %), Gleichgewichtsstörungen (3,1 %), verschwommenes Sehen (1,5 %), Desorientierung (1,7 %), Lethargie (1,5 %), Depression (1,2 %), Appetitsteigerung (4,2 %) und Gewichtszunahme (2,1 %) sowie euphorische Stimmung (1,4 %) und Diarrhö (1,2 %).

Dabei kam Schwindel bei Frauen sogar sehr häufig vor und insgesamt hatten Frauen häufiger unerwünschte Arzneimittelwirkungen als Männer. Eine Begründung könnte laut den Studienautoren Dr. Peter Cremer-Schaeffer und Dr. Gabriele Schmidt-Wolf sein, dass Männer seltener Nebenwirkungen melden als Frauen.

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Zu den Nebenwirkungen, die gelegentlich auftraten, zählen Palpitationen (0,8 %), Tachykardien (0,8 %), Erbrechen (0,8 %), Konstipation (0,9 %), Hypertonie (0,3 %), Hypotonie (0,8 %), Dysarthrie (0,3 %), Wahnvorstellungen (0,4 %), Sinnestäuschungen (0,6 %), Halluzinationen (0,7 %), Dissoziation (0,2 %) und Suizidgedanken (0,1 %). In die Kategorie „gelegentlich“ fallen auch Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit bzw. Gewichtsverlust, starkes Schwitzen, Benommenheit, innere Unruhe, Angst, Panikattacken und Magenschmerzen, die in Freitextfeldern genannt wurden (ohne prozentuale Angaben). Gerade psychotische Symptome dürften laut den Studienautoren „nicht unterschätzt“ werden, denn sie seien eben nicht nur selten oder sehr selten, sondern gelegentlich aufgetreten.

Nebenwirkungen, die tatsächlich nur selten vorkamen, waren Geschmacksstörungen, Albträume, aggressives Verhalten und allergische Reaktionen.

Unterschiede zwischen den einzelnen Cannabisarzneimitteln

Vergleicht man die unterschiedlichen Cannabisarzneimittel miteinander, fällt schnell auf, dass sich die Fallzahlen erheblich unterscheiden. Die meisten Datensätze liegen für Dronabinol vor (n = 10.463), gefolgt von Cannabisblüten (n = 2773), Sativex (n = 2188) und Cannabisextrakten (n = 1351). Die Studienautoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei Dronabinol mit einer hohen Fallzahl auch seltene Nebenwirkungen zum Teil registriert werden können, was bei den anderen Cannabisarzneimitteln mit Fallzahlen < 3000 nicht möglich ist.

Bei Sativex traten die sieben häufigsten Nebenwirkungen, bis auf Appetitsteigerung, am häufigsten auf. Die Nebenwirkungsraten von Dronabinol und Cannabisextrakten waren wiederrum vergleichbar. Bei den Cannabisblüten trat eine Appetitsteigerung mit 6,7 Prozent häufiger auf als im Durchschnitt (4,2 %), das ist ebenso bei der Gewichtszunahme mit 2,7 Prozent versus 2,1 Prozent (alle Cannabisarzneimittel), der Mundtrockenheit mit 5,2 Prozent versus 4,9 Prozent und der euphorischen Stimmung mit 3,0 Prozent versus 1,4 Prozent. Alle anderen Nebenwirkungen traten bei den Blüten vergleichsweise seltener auf, eine, Wahnvorstellungen, lag in Höhe des Durchschnitts.

Einordnung der Nebenwirkungen

Insgesamt entsprechen die vom BfArM erhobenen Nebenwirkungen nach Art und Häufigkeit weitgehend den aus den Fachinformationen von Sativex, Canemes und Marinol bekannten unerwünschten Arzneimittelwirkungen.

Eine Limitation der Erhebung ist, dass keine Angaben zur Schwere der Nebenwirkungen gemacht wurden. Da Therapieabbrüche aufgrund von Nebenwirkungen nur selten vorkamen, deutet das für Cremer-Schaeffer und Schmidt-Wolf auf weniger schwerwiegende unerwünschte Arzneimittelwirkungen hin. Sie geben allerdings zu bedenken, dass Nebenwirkungen, auch wenn sie nicht schwerwiegend sind, dennoch eine Relevanz für die Patienten haben. So beeinträchtigen viele der als häufig eingestuften Nebenwirkungen die Vigilanz, zum Beispiel Müdigkeit, Schwindel und Aufmerksamkeitsstörungen. Dadurch könnte die Teilnahme am sozialen und öffentlichen Leben, unter anderem am Straßenverkehr, eingeschränkt sein. Bei älteren Menschen ist auch an ein erhöhtes Sturzrisiko zu denken.

Am wenigsten wurden Nebenwirkungen im Zusammenhang mit der Anwendung von Cannabisblüten berichtet. Ein Einflussfaktor könnte das geringere Durchschnittsalter der Patienten (46 Jahre) im Vergleich zu den anderen Cannabisarzneimitteln (57,5 bis 60 Jahre) sein. Bei den Anwendern der Cannabisblüten könnten auch Vorerfahrungen in der Anwendung eine Rolle spielen, etwa durch eine Ausnahmeerlaubnis zum Erwerb von Cannabis zu medizinischen Zwecken (vor der Gesetzesänderung 2017) oder einem illegalen Gebrauch. Die Studienautoren merken weiter an, dass über zwei Drittel der Patienten, die Cannabisblüten erhalten, männlich sind und dass gerade Männer seltener Nebenwirkungen melden als Frauen.

Weiter sollte im Hinblick auf die Nebenwirkungen beachtet werden, für welche Symptome und Erkrankungen die verschiedenen Cannabisarzneimittel eingesetzt wurden. In der Dronabinol-Gruppe hatten 18 Prozent der Patienten eine Tumorerkrankung und damit deutlich mehr als in den anderen Gruppen. In der Sativex-Gruppe wurden 20 Prozent der Patienten wegen einer Spastik behandelt, die nicht durch Multiple Sklerose (MS) bedingt war. Dagegen waren 13 Prozent der Patienten in der Cannabisblüten-Gruppe MS-Patienten, obwohl es für diese Patientengruppe mit Sativex ein zugelassenes Fertigarzneimittel gibt (Indikation: mittelschwere bis schwere Spastik aufgrund von MS). Die Studienautoren vermuten, dass diese MS-Patienten in der Cannabisblüten-Gruppe mit Sativex nicht erfolgreich therapiert werden konnten.

Abhängigkeitspotenzial im Blick behalten

Cremer-Schaeffer und Schmidt-Wolf weisen darauf hin, dass beinahe alle Patienten in der Erhebung des BfArM an einer chronischen Symptomatik oder Erkrankung litten, die mit anderen Medikamenten nicht erfolgreich behandelt werden konnte. Sie gehen daher von einer längerfristigen Einnahme der Cannabisarzneimittel aus. Gerade im Hinblick auf die Therapie mit Cannabisblüten und das geringe Durchschnittsalter der Patienten sollten ihrer Meinung nach Langzeitbeobachtungsstudien zu einer möglichen Abhängigkeitsentwicklung durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang ist auch eine euphorische Stimmung, die durchaus gewünscht sein kann, kritisch zu betrachten.


Desiree Aberle, Apothekerin, Redakteurin DAZ
redaktion@daz.online


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