Modellprojekt „Making SDM a Reality“

Wie Shared Decision Making in der Praxis aussieht

Berlin - 30.06.2022, 13:45 Uhr

Im Rahmen des Modellprojekts halfen Pflegekräfte Patient:innen bei der Wahl der Therapie. (c / Symbolfoto: Jacob Lund / AdobeStock)

Im Rahmen des Modellprojekts halfen Pflegekräfte Patient:innen bei der Wahl der Therapie. (c / Symbolfoto: Jacob Lund / AdobeStock)


Shared Decision Making, also eine gemeinsame Entscheidungsfindung von Patienten und Behandlern, soll Behandlungen gerechter und sicherer machen. Aber konsequent umgesetzt werden konnte es im Therapiealltag bisher kaum. Das änderte ein vom Innovationsfonds gefördertes Modellprojekt am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein. Nachdem das Projektteam die gewonnenen Erkenntnisse veröffentlicht hatte, entscheidet nun der Gemeinsame Bundesausschuss, ob das Konzept in die Regelversorgung passt. In Zukunft könnten auch Apotheker angesprochen werden. 

„Welche Optionen habe ich und welche Vor- und Nachteile hätten diese?“ Stellt ein Patient seiner Ärztin diese Frage, spricht das dafür, dass seine Gesundheitskompetenz hoch ist und die Therapie unter dem Label Shared Decision Making (SDM) ablaufen könnte.

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Beim Shared Decision Making schlagen Behandelnde eine oder mehrere Therapieoptionen vor und erläutern umfassend Wirkungen und Nebenwirkungen. Im Anschluss haben Patienten die Chance, die Entscheidung noch einmal zu bedenken und eventuell mit Freunden und Familie zu besprechen. Vertreter:innen der Heilberufe und Krankenkassen versprechen sich davon eine höhere Versorgungsqualität.

Aber wie gelangt das Konzept strukturiert in den Therapiealltag – und wie groß sind die erhofften Effekte? Um Antworten auf diese Frage zu finden, initiierte ein Team um Projektleiter Friedemann Geiger das Modellprojekt „Making SDM a Reality“ am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH).

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) förderte das Projekt über den Innovationsfonds mit 13,7 Millionen Euro. Die Förderung und das Projekt starteten 2017 und endeten 2021. In einer Pressekonferenz am gestrigen Mittwoch präsentierten Geiger und Kollegen ihre Ergebnisse.

Zur geteilten Entscheidung in vier Schritten

In 19 Kliniken implementierten Geiger und seine Mitarbeiter das Shared Decision Making in vier Modulen. In früheren randomisierten kontrollierten Studien konnte gezeigt werden, dass diese Vorgehensweise die Shared-Decision-Level effektiv erhöhen.

Zunächst schulte das Projektteam Ärzt:innen. In Übungsgesprächen vertieften sie die ergebnisoffenen Entscheidungsgespräche. Das Projektteam filmte die Gespräche und werteten sie zusammen mit den Ärzt:innen aus. In den Kliniken nahmen 80 Prozent der Ärzteschaft diese Schulung in Anspruch.

Anschließend erarbeiteten sie evidenzbasierte Online-Entscheidungshilfen für Patienten. Sie fassten alle Vor- und Nachteile verschiedener Therapieoptionen verständlich zusammen. Für ihre Entscheidung konnten sich die Patienten auch aufgezeichnete Videos anderer Patienten mit gleicher Diagnose und weitere Meinungen von Fachärzt:innen ansehen.

Im dritten Schritt involvierten die Mitarbeiter des Modellprojektes Pflegekräfte. Sie klärten die Pflegenden über das Ziel des Projektes auf und gaben Hilfen, wie sie Arzt-Patienten-Gespräche vorbereiten können. Nach der Implementierung halfen sie Patient:innen etwa dabei, Online-Entscheidungshilfen zu bedienen oder sie zu ermutigen, sich bei der Entscheidung aktiv einzubringen.

Zuletzt sollten Patienten aktiviert werden. Schon an den Eingängen der Kliniken machten ihnen große Info-Aufsteller und Hinweise bewusst: Wenn Sie diese Klinik betreten, steht eine gemeinsame Therapieentscheidung an.

Notfalleinweisungen und Kosten gesunken

Prof. Dr. Leonie Sundmacher von der Technischen Universität München evaluierte das Projekt. Auch sie erläuterte auf der Pressekonferenz am 29. Juni ihre Erkenntnisse. Zunächst überprüfte sie, ob sich die geteilte Entscheidungsfindung bei medizinischen Fragen tatsächlich verbessert hatte.

Dafür bestimmte sie das Shared-Decision-Level vor dem Start des Projekts, also wie sehr Entscheidungen im normalen Klinikalltag zusammen mit Patienten getroffen werden. Dieser Wert war so gering, dass Sundmacher die Ergebnisse noch einmal gesondert überprüfen musste, berichtete sie.

In den zertifizierten Kliniken erhöhte sich das Shared Decision-Level enorm. Darüber hinaus brachte das Konzept direkte Vorteile für Kliniken und Patienten. Denn zugleich verringerten sich die Notfalleinweisungen und Krankenhauskosten signifikant. Ebenfalls sanken Hospitalisierungsraten und die Gesamtkosten - diese jedoch nicht signifikant. Der Grund darin könnte laut Sundmacher sein, dass pandemiebedingte Effekte nicht gänzlich bei der Auswertung eliminiert werden konnten. Andere Publikationen hätten gezeigt, dass SDM die Kosten bei der stationären Versorgung senkt.

Werden Apotheker:innen involviert?

Nachdem die Förderung des Gemeinsamen Bundesausschusses 2021 endete, überprüft dieser nun, ob und wie das Konzept Eingang in die gesamte gesetzliche Krankenversicherung finden könnte. Doch Entscheidungsfindungen beim G-BA kosten erfahrungsgemäß Zeit.

Damit am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein das Shared-Decision Making-Konzept dennoch aufrechterhalten werden kann, initiierte die Techniker Krankenkasse einen Selektivvertrag mit dem UKSH, der direkt nach dem Ende der Förderung in Kraft trat. „Auch andere Kassen könnten sich daran beteiligen – das würden wir sogar sehr begrüßen“, sagte Klaus Rupp, Leiter des Fachbereichs Versorgungsmanagement der Techniker Krankenkasse.

Mit Apotheker:innen sprach das Team in Schleswig-Holstein während des Modells aber nicht, erklärte Projektleiter Friedemann Geiger gegenüber DAZ.online. „Ich würde an vorderster Front nicht an die Apotheker denken.“ Aber: Shared Decision geht alle etwas an, die Teil des Gesundheitswesens sind, sagte Geiger. Wenn es an die Regelversorgung ginge, könnten auch Gespräche mit den Apothekerverbänden folgen.


Marius Penzel, Apotheker und Volontär
redaktion@daz.online


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