DAZ-Adventsrätsel – Tag 4

Der tiefe Epileptiker

04.12.2020, 01:00 Uhr

Flimmern vor den Augen oder dunkle Flecken können erste Anzeichen für einen epileptischen Anfall sein. (s / Foto: DedMityay / stock.adobe.com)

Flimmern vor den Augen oder dunkle Flecken können erste Anzeichen für einen epileptischen Anfall sein. (s / Foto: DedMityay / stock.adobe.com)


Ein junger Mann, der um 1844 seine schriftstellerische Laufbahn begann, sich mit den politischen und sozialen Missständen seiner Zeit kritisch auseinandersetzte, verhaftet und fast hingerichtet wurde – und Epileptiker war, das sind die Dramen unserer heutigen Rätselfrage.

Als dem Jüngling von 17 Jahren nach seiner Mutter nun auch der Vater verstorben war, erlitt er der Legende nach seinen ersten Anfall. Einen Arzt konsultierte er aber erst mit 25 Jahren nach wiederholten Zuständen des Bewusstseinsverlustes – aber dieser konnte nicht die richtige Erklärung für die Aussetzer finden. Zur selben Zeit, während er versucht, sich als freischaffender Schriftsteller durchzuschlagen, konsultiert er eine Gruppe revolutionärer Christ-Sozialisten. Als Antwort auf die Revolutionen, die 1848/1849 durch Europa fegen, soll die Gruppe zerschlagen werden. Also wird er verhaftet und mit 28 Jahren zum Tode verurteilt. Die Strafe erweist sich als Scheinhinrichtung: Dem mit verbundenen Augen an einen Pfahl gefesselten Verurteilten wird erst nach Kommando „Anlegen!“ die kaiserliche Begnadigung verlesen. Statt der Erschießung erwarten den unerfahrenen Romancier fünf Jahre Zwangsarbeit und Festungshaft. Während dieser Verbannung erlebte er einen schweren epileptischen Anfall. Es ist der erste von vielen, die ihn bis zu seinem Lebensende begleiten sollen. Vor seinen Anfällen verspürte er oft eine ekstatische Aura. Sie ist das Ergebnis einer fortschreitenden Aktivierung von Nervenbahnen. „Dieses Gefühl ist so stark und so süß, dass man für einige Sekunden dieser Seligkeit, zehn Jahre seines Lebens, ja, meinetwegen das ganze Leben hingeben könnte.“ Andererseits ist bei dieser sekundär-generalisierten Anfallsform der postparoxysmale Dämmerzustand typisch, der ihn mehrere Tage nach seinen Anfällen daran hinderte, zu arbeiten. Dann fühlte er sich regelrecht „zerschlagen“ in einem grauenhaften Gefühl zwischen Dumpfheit und Verzweiflung. Sein oftmals autobiografisch gefärbtes Werk und das Zeugnis seiner vielen Briefwechsel liefern einen einmalig detailliert beschriebenen Verlauf einer unbehandelten Epilepsie.

Obwohl er zum Ende seines Lebens immer mehr über Gedächtnisverluste klagte, sind auch seine letzten Werke von derselben Klarheit und Struktur gekennzeichnet, mit der er wie kein anderer die Gesellschaft zur Zeit des russischen Kaiserreiches und die Niederungen der Psychologie des Menschen zu Beginn der Moderne darstellen konnte. So furchtbar seine Erkrankung sein mag: Die Epilepsie veränderte und formte die selbstzerstörerische Unmittelbarkeit im Denken dieses Mannes. Sein Werk inspiriert nicht nur die Literatur bis hin zur Gegenwart, sondern leistete zudem maßgebliche Vorarbeit für die Psychologie und philosophische Strömungen wie den Existenzialismus.

Epileptiker wurden im Laufe der Geschichte sowohl positiv als auch negativ stigmatisiert. Während die „Fallsucht“ in der Antike noch als heilige Krankheit galt, fühlte sich der Dichter und Denker unserer heutigen Rätselfrage durch sein Leiden denunziert. Sein Werk zeugt davon, dass er sich selbst als lächerlichen Menschen empfand und über lange Zeiträume sehr zurückgezogen lebte.

Frage: Von welchem berühmten Epileptiker ist hier die Rede?

 

Wir suchten Fjodor Michailowitsch Dostojewski. 

Die Symptome, mit denen die Epilepsie sich bei ihm äußerte, wurden lange Zeit als generalisierte Grand-Mal-Anfälle beschrieben. Heute geht man eher von einer Schläfenlappenepilepsie aus, die sich oft zu sekundär-generalisierten Anfällen entwickelten.


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