Gesundheitspolitik

Preisbindung auf dem Prüfstand

Rückblick auf das EuGH-Urteil, Perspektiven für die Zukunft

eda | Nach seinem Rückzug aus der aktiven Vorstandstätigkeit beim Apothekerverband West­falen-Lippe hat sich Dr. Klaus Michels anlässlich des fünften Jahrestags des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Arzneimittelpreisbindung nochmals zu Wort gemeldet. Im Interview blickt er nicht nur zurück, sondern eröffnet auch Perspektiven für die Zukunft.
Foto: AVWL

Anfang September 2021 zog sich Dr. Klaus Michels aus dem AVWL-Vorstand zurück.

AZ: Herr Dr. Michels, ist dieses ganze Kapitel für uns Apotheker getreu dem Motto „Zuerst kein Glück gehabt, dann kam Pech hinzu“ verlaufen?

Michels: Ich glaube, „Pech“ ist nicht der richtige Begriff. Der EuGH hat schon seit längerer Zeit Urteile gefällt, die man kaum nachvollziehen kann.
 

AZ: Mit welcher Performance ist Ihrer Meinung nach die Apothekerschaft, insbesondere die ABDA, in das EuGH-Verfahren zur Arzneimittelpreisbindung gestartet?

Michels: Bis 2016 hatte der EuGH eine sehr konsequente Linie verfolgt und den Mitgliedstaaten, den europäischen Verträgen folgend, weitgehend freie Hand gelassen, ihre Gesundheitssysteme in eigener Verantwortung zu organisieren. Diese Linie der Zurückhaltung und der Achtung der mitgliedsstaatlichen Kompetenzen hat der EuGH mit dem Urteil 2016 für Experten plötzlich und unerwartet völlig irrational verlassen. Natürlich könnte man im Nachhinein geneigt sein, in Kenntnis des Urteils nach Versäumnissen zu suchen. Aber was würde das helfen?
 

AZ: Zur Bedeutung der Arzneimittelpreisbindung und zu den Folgen von Rx-Boni wird aktuell im Auftrag des Apothekerverbands Westfalen-Lippe eine ökonomische Analyse durchgeführt. Hätte man dieses Thema nicht schon Jahre vorher wissenschaftlich evaluieren müssen, um bei möglichen ­Gerichtsverfahren fundierter argumentieren zu können?

Michels: Schon vor dem EuGH-Urteil hat es eine ganze Reihe von Gutachten gegeben, die sich mit den Auswirkungen der Preisfreigabe für Rx-Arzneimittel auseinandergesetzt haben. Wie bekannt, hatten diese nicht den erhofften Erfolg. An der Universität Gießen wird nun vom Team um den Volkswirtschaftler Professor Georg Götz eine ökonomische Analyse durchgeführt zur Frage, welche Auswirkungen die komplette Aufgabe der Preisbindung hätte. Dies wäre jedoch vor dem EuGH-Urteil in dieser Form kaum möglich gewesen. Denn wegen der bis dahin in Deutschland geltenden Gesetzes­lage gab es gar keine Möglichkeit, die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Boni-Gewährung wissenschaftlich zu untersuchen. Dies ist bekanntlich heute anders. Im Übrigen ist im Rückblick nicht valide zu beurteilen, ob weitere Gutachten das EuGH-Desaster hätten verhindern können. Derzeit liegt das Ergebnis der Gießener Analyse zwar noch nicht vor. Sollte sie aber Nachweise erbringen, dass die Aufgabe der Preisbindung die flächendeckende Versorgung gefährden könnte, würde diese Untersuchung gewichtige Argumente liefern, um die uneingeschränkte Preisbindung künftig wiederherzustellen und zu verteidigen.
 

AZ: Was sind Ihre Hauptkritikpunkte am EuGH-Urteil?

Michels: Zunächst einmal, dass der EuGH mit seinem Urteil in eklatanter Weise das Subsidiaritätsprinzip verletzt und sich damit faktisch zu einer Art zweitem Gesetzgeber gemacht hat. Wenn man bedenkt, dass bis heute in der großen Mehrheit der Mitgliedstaaten Arzneimittel der Preisbindung unterliegen, muss man dieses Urteil wohl als skandalös bezeichnen. Der Meinung, dass bei der Frage der Preisbindung von einer nationalstaatlichen Gesetzgebungs­kompetenz auszugehen ist, ist ja bekanntlich auch der Bundesgerichtshof.
 

AZ: Wie haben Sie die unmittel­bare Reaktion auf den Richterspruch erlebt, in den Wochen und Monaten danach? Was haben Ihnen ­Politikerinnen und Politiker sig­nalisiert?

Michels: Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich am späten Vormittag als Patient im Wartezimmer unseres Krankenhauses gesessen habe, als die schlechte Nachricht der ABDA mich erreichte. So war ich zumindest in unmittelbarer Nähe guter ärztlicher Betreuung. Scherz beiseite. Mit diesem Urteil hatte auch in der Politik kaum jemand gerechnet. Wir haben in der Folge aus den Reihen der CDU und der Linken durchaus verbale Unterstützung für die logische Forderung nach dem Rx-Versandhandelsverbot bekommen. Nicht zuletzt hatte diese dann ja auch Eingang in den Vertrag der Großen Koalition gefunden. Dass dann ausgerechnet ein CDU-Gesundheitsminister diese Vereinbarung nicht durchgesetzt hat, enttäuscht mich ganz besonders.
 

AZ: Hat sich die ABDA Ihrer Meinung nach zu schnell von der Forderung nach einem Rx-Versandverbot gelöst?

Michels: In der Mitte der Legislaturperiode zeichnete sich ab, dass sich das Versandhandelsverbot nicht gegen den Widerstand in der SPD und der Opposition durchsetzen lassen würde. [...] Ob man die Forderung noch einige Zeit hätte aufrechterhalten sollen, ist heute müßig. Was wir jedoch keinesfalls hätten akzeptieren dürfen, ist die Streichung von § 78 Abs. 1 Satz 4 AMG und dessen Transplantation ins SGB V. Welche Folgenkaskade dies für unser bewährtes Gesundheitssystem haben wird, habe ich bereits im Sommer 2019 im Interview auf DAZ.online ausgeführt.
 

AZ: Darin sprachen Sie sich für ein „milderes Mittel“ aus, also eine ­erneute Vorlage an den EuGH mit einem vollständigen Tatsachen­vortrag, einer Revidierung des Urteils, um damit eine Rückkehr zur Rechtslage vor der Entscheidung des EuGH vom 19. Oktober 2016 zu erreichen. Warum war das für Sie der Königsweg? Wäre dies nach wie vor möglich?

Michels: Ich bin bis heute fest davon überzeugt, dass es eine gute Chance gegeben hätte, das Problem der Preisfreigabe für Rx über diesen Weg erneut dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen und das Urteil von 2016 umzukehren. Durch die Streichung des entscheidenden § 78 Absatz 1 Satz 4 AMG, der ja erst einige Jahre vor dem Urteil von 2016 aus gutem Grund in das AMG eingefügt worden war, und die Transplantation ins Sozialgesetzbuch wird das allerdings schwer. Denn dadurch gilt die Preisbindung nur noch für GKV-Versicherte. Indem sie die Preisbindung nur noch für einen Teil der Versicherten gelten lässt, hat die Politik für weitere Gerichtsverfahren all die guten Argumente für deren Erhalt nun selbst geschwächt. |

Das gesamte Interview finden Sie am 19. Oktober 2021, anlässlich des fünften Jahrestags des EuGH-Urteils, auf DAZ.online.

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